Eine Patientengeschichte

Es ist fast 18 Uhr.
Ich sitze noch im Arztzimmer.
Es klopft an der Tür und ein junger Mann steckt den Kopf zur Tür herein.
„Entschuldigen Sie“, legt er los. Ich nicke. „Meine Mutter hat vorhin ein MRT bei Ihnen bekommen. Sie hatte Ihren Port – Ausweis mitgenommen; den bräuchte Sie jetzt wieder; wissen Sie wo der ist?“ „Vielleicht in der Akte?“, frage ich laut. „Ist die am Bettplatz?“
„Nein“
„Ich schaue mal im Stützpunkt“, sage ich und stehe auf. Wenig später finde ich den Ausweis und überreiche ihn an den jungen Mann, der der Sohn der Patientin ist, die ich Freitag mitten in der Nacht aufgenommen habe. Gerade ist auch ihre Schwester und eines ihrer Enkelkinder da. Jung ist sie. Mitte 60.
 
Der Sohn und ich laufen über den Flur. „Sie waren die Ärztin, die in der Nacht das CT gemacht, oder?“, fragt er. Ich nicke. „Danke, dass Sie das gemacht haben. Auch wenn nichts Gutes dabei raus kamen, aber so sind wir wenigstens vorbereitet. Ich will nicht wissen, was sonst passiert wäre. So können wir diese Zeit sehr bewusst erleben. Das wird eine spannende Zeit jetzt.“
 
In meinem letzten Dienst habe ich sie gesehen bei den Internisten. Der Kollege hatte mich um kurz vor Mitternacht angerufen. Die Patientin war mit einer allgemeinen Abgeschlagenheit zu ihm gekommen, aber er hatte nichts gefunden. „Mondkind, schaust Du sie Dir noch ein Mal an, bevor ich sie heim schicke? Ich kann das nicht erklären, internistisch.“ Ein bisschen unsicher war das Gangbild und klinisch hat alles auf eine beginnende PNP hingedeutet. Ich habe der Tochter noch erklärt, dass ich mir recht sicher bin, dass wir nicht viel finden werden, ich für die Sicherheit aber gerne noch ein CT vom Kopf machen würde.
 
Und was haben wir gesehen: Der ganze Kopf voller Raumforderungen, die ehestens Metastasen sind. Sie hatte Brustkrebs vor fünf Jahren, hatte die Krankheit gut überstanden und war regelmäßig zur Nachsorge, die bislang immer unauffällig war. Aber das CT erklärt die Abgeschlagenheit, die ständige Übelkeit, das unsichere Gangbild, denn es war so schlimm, dass das Hirnödem, das durch die Metastasen entstanden ist, schon einen gewissen Hirndruck erzeugt hat. Mit Cortison geht es ihr jetzt besser.
Dieses Gespräch, das ich da mitten in der Nacht führen musste, hatte es in sich. Lange saßen wir dort; die Patientin, ihre Tochter und ich. Die Patientin erstaunlich gefasst, für die Tochter ist eine Welt zusammen gebrochen. 




 

Heute Morgen habe ich die Patientin wieder besucht. „Mir war klar, dass das irgendwann so kommen wird. Nicht genauso, wie es jetzt ist, aber dass dieser Krebs noch etwas in der Hinterhand hält, das war mir irgendwie bewusst“, erzählt sie. „Ich habe meinen Mann mit 41 Jahren verloren, er hatte einen Herzinfarkt und ist einfach so gestorben. Und von einer engen Bekannten ist auch der Mann ganz rasch gestorben. Und wissen Sie was – man geht immer zu den Kranken hin und glaubt, dass die es so schwer haben. Aber – und ich glaube, ich kann das aus meiner Perspektive sagen – ich habe so viel erlebt in meinem Leben an Krankheit und Leid, sowohl bei mir selbst als auch bei Angehörigen – aber man sollte auch insbesondere und mehr auf die Angehörigen schauen. Die leiden so sehr. Ich mache mir keine Sorgen um mich. Aber ich mache mir Sorgen um meine Kinder und um meine Enkelkinder. Denn die müssen das verarbeiten.“
 
Und dann fragt sie, ob ihre Enkelkinder nicht eine Sondergenehmigung bekommen dürfen, weil sie die Oma das letzte Mal vor dem Krankenhaus gesehen haben, als es ihr so schlecht ging und es ihr mit dem Cortison ja jetzt viel besser geht. Ich verspreche, es beim Oberarzt durchzusetzen.
 
Diese Dame beeindruckt mich zutiefst. Mit ihrer Stärke, mit ihrem Mitgefühl für ihre Angehörigen und damit, wie sie die Welt sieht.
Und gleichzeitig bin ich unglaublich traurig. Denn viel Zeit hat sie nicht mehr.
 
Aber manchmal ist auch das Medizin.
Und manchmal sind die Menschen eben auch dafür dankbar, dass man ihnen keine Zeit schenken konnte, die Menschen nicht mehr heilen konnte, aber dass man sagen konnte: Schaut hin, genießt die Goldmomente und speichert sie für immer.
 
Mondkind


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