Ein Ende



10:15 Uhr.

Auf dem Weg zur Uni.

Heute morgen hat Mondkind noch ein paar Unterlagen durchgelesen, bis sie dann von der Pflege aufgefordert wurde noch bis zur Visite zu warten, ehe sie in die Uni fährt. Das kam ihr nicht gelegen, aber weiter schlimm war es auch nicht. Sie wollte vorher eigentlich noch Drucken fahren, das würde sie dann nicht mehr schaffen und würde es hinterher machen müssen.



Sie sitzt vor dem Büro. Ein letztes Mal. Und sie weiß, dass diese Visite nicht viel mit der Wahrheit zu tun haben wird. Denn würde sie sagen was sie fühlt, könnte man sie nicht gehen lassen.



Mondkind wird aufgefordert einzutreten. Auf die Frage, wie es ihr denn ginge, antwortet sie „Geht so“. Der Stationsarzt meinte, dass das nicht sehr überzeugend klang, aber Mondkind korrigiert das nicht mehr.



Das Thema Entlassung wird angesprochen. Mondkind sagt, dass es ja geplant gewesen sei, dass sie morgen geht. Zwar habe sie sich nach 11 Wochen vorgestellt, dass es ihr besser ginge, aber das sei jetzt so und sie betont, dass sie das schon irgendwie hinbekommen wird.

(„Vorher ging es ja auch“. Worte des Oberarztes und sie hätte nie gedacht, dass sie sich an dem Satz mal festhalten würde.)



Der Stationsarzt erklärt, dass das Modell Uni und Klinik parallel jetzt zu Ende sei, was Mondkind zur Kenntnis nimmt. Das weiß sie und sie wundert sich, dass es überhaupt so lange geklappt hat.



Die Formalitäten werden erledigt. Mondkind wird gefragt, ob sie schon einen weiterbehandelnden Psychiater hat, worauf sie erwidert, dass sie schon einen Termin hat und alles eingefädelt ist.

Der Pfleger macht dann noch ein bisschen Stress, dass die morgen schon das Zimmer brauchen würden und Mondkind deshalb morgen früh schnellstmöglich ihre Sachen raus bringen soll.

Am Ende einigen sie sich, dass es das Beste wäre, dass Mondkind heute Nacht nochmal zu Hause schläft und schon alles mitnimmt. Morgen kommt sie dann nur nochmal, um den Brief zu holen.

(Wobei Mondkind das alles ein wenig wundert – im Moment gibt es viele leere Betten auf Station).



Mondkind ist schon auf dem Sprung, ehe die Frage kommt, die sie heute nicht hören wollte: „Wie sieht es aus mit Suizidgedanken?“

Mondkind schweigt ein paar Sekunden. Sie kann jetzt nicht sagen, dass sie am Wochenende viel darüber nachgedacht hat und dass sich das umso mehr als einzige Lösung im Kopf manifestiert, desto mehr sie darüber nachdenkt. Sie setzt an und sagt, dass sie im Moment auf der einen Seite Rechtsmedizin und auf der anderen Seite Palliativmedizin habe und sie möchte sagen, dass sie das schon irgendwie triggert. Der Stationsarzt unterbricht sie sofort und sagt, dass das ja keine Suizidgedanken seien, sondern das ganz normal sei.



„Wir können Sie auch nicht mit Suizidgedanken jeden Tag durch die halbe Stadt schicken“, sagt er.

„Nein, ich kriege das alles hin“, sagt Mondkind und verflucht sich für den Erklärungsversuch.



„Ansonsten müssen sie halt doch ein Semester aussetzen“, sagt der Stationsarzt. Vielleicht merkt er, dass er Mondkind ziemlich barsch unterbrochen hat.

„Das ist im Moment nicht der Plan“, sagt Mondkind stocksteif.



Sie kann ihre Tränen kaum noch verbergen, aber sie muss es zumindest schaffen, bis sie aus dem Zimmer ist. Natürlich ist das nicht der Plan, aber in Wahrheit hat Mondkind keine Ahnung, wie sie da draußen überleben soll. Und das mit dem BEN passt ihr auch nicht so richtig. Es geht nicht mehr darum zu üben, das zu Hause zu schaffen. Besser wird es die nächsten Wochen wohl nicht werden und einen letzten Abend, an dem sie nochmal mit den anderen quatschen kann, hat sie damit auf Station nicht.



Sie geht aus dem Arztzimmer und schnappt ihre Tasche.

Ein Mitpatient hält sie auf. „Alles okay?“, fragt er. „Nein“, flüstert Mondkind und spürt wie ihr die Tränen wieder in die Augen steigen.

„Ich muss los, okay?“, flüstert sie erstickt. „Wir sehen uns heute Nachmittag“, ergänzt sie.



Es gibt keine Wahl. Sie muss es hinkriegen. Oder eben auch nicht. Und Beides ist für sie okay. Sie kann nicht mehr. Hat es lange genug versucht. „24 Jahre sind zu früh Frau Mondkind .“ Sie erinnert sich an die Worte des alten Stationsarztes. Aber den gibt es auch nicht mehr. Mit dem hätte sie das Thema nochmal durchgesprochen.



Mondkind ist mittlerweile fast an der Uni. Heute kommt ihr alles dort anders vor. So weit weg. So bedrohlich. So Hoffnungslos. Als hätte der Grauschleier vor ihrem inneren Auge die Wände der Gebäude angefärbt.



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