Wir atmen Examen



Man könnte meinen, in der Welt gäbe es nur noch das Examen.
Und in vielen Köpfen in meinem Umfeld, ist das im Moment wahrscheinlich auch so.

Jeden Tag höre ich Fragen wie: „Wie weit bist Du mit dem Lernplan?“ „Bist Du beim Kreuzen schon an Frage xy vorbei gekommen?“  „Ich habe ein Problem mit dem Vorbereitungsprogramm – kannst Du mir helfen?“
Die Fragen gelten nicht mir. Denn ich schreibe im Oktober kein Examen.
Ich höre die Fragen nur und jedes Mal fühle ich ein bisschen Enttäuschung, ein bisschen Verbitterung, ein bisschen Wut. Denn eigentlich hätte ich auch Examen schreiben sollen.

Wir sind in unserem letzten Praxisblock unterwegs. Die meisten jedenfalls.
Und jeden Tag kommt von den betreuenden Ärzten der Satz, von dem ich nie genau weiß, ob er eine Feststellung oder eine Frage oder vielleicht auch beides ist: „Du machst doch im Hebst Examen?!“
Und jedes Mal sage ich „Nein“. Und jedes Mal kommt die Frage: „Warum?“. Und jedes Mal sage ich: „Ich war ein paar Wochen krank und deshalb fehlt mir noch die Blockabschlussprüfung aus dem letzten Block.“

Nach der Entlassung hatte ich noch einen Termin in der Ambulanz.
Es war ein sehr gutes Gespräch und das erste Mal seit einigen Wochen, dass sich jemand länger als 10 Minuten Zeit für mich genommen hat.
Da war unter anderem genau das Thema. Das hat halt irgendwo auch etwas mit Krankheitsakzeptanz zu tun und die habe ich für mich selbst wahrscheinlich nicht so richtig. Das wiederrum macht die Therapie auch schwierig. Ich kann mich noch erinnern, dass unser Psychologe auf der Station mal erklärt hat, dass man die Krankheit symbolisch in der Hand halten muss – und dann hat er sich eine DVD – Hülle vom Fernsehschrank gegriffen – damit man etwas dagegen tun kann.

Die Ärztin in der Ambulanz meinte, ich soll stolz auf mich sein trotz und mit der Krankheit bis vor ein paar Monaten in Regelstudienzeit gewesen zu sein.
Ich habe in dem Zusammenhang schon ein Problem mit dem Wort „Krankheit“.
Ich meine ja – es geht mir oft nicht so gut, aber das ist auch irgendwo eine Frage von Selbstdisziplin. Ich denke mir immer: „Hey Mondkind – reiß Dich gefälligst zusammen und mach Deinen Krempel.“

Ich habe eine Weile darüber nachgedacht und ernsthaft: Es wird doch jeder von uns im Laufe des Medizinstudiums irgendeine Krise gehabt haben. Und nicht jeder hat in der Zeit den Kopf in den Sand gesteckt. Manche Dinge muss man einfach aushalten.

Und trotzdem weiß ich auch irgendwo, dass es nicht funktioniert hätte. Dass ich mich mit der vierstündigen Pendelei am Tag nur noch weiter kaputt gemacht hätte, dass ich dann dadurch auch überhaupt keine Gelegenheit gehabt hätte, parallel zum Studium schon fürs Examen zu lernen.
Irgendwie hat es die Klinik gebraucht, um zumindest eine Veränderung der Wohnsituation herbei zu führen und damit zumindest die Voraussetzung zu schaffen, wenigstens ab und an mal die Füße hochlegen zu können.
Und es macht einfach auch keinen Sinn zu meinen, dass man das ohne Klinik hätte schaffen müssen. Wenn ich mich an meine erste Woche erinnere, hätte ich viele Dinge niemals ohne Unterstützung geschafft.

Irgendwie muss ich einen Weg finden, das zu akzeptieren und mich nicht täglich mit meinem vermeintlichen Versagen verrückt zu machen. 

Alles Liebe
Mondkind

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