Etwas wie Reflexion



Samstagnachmittag.

15:19 Uhr.

Mondkind sitzt auf ihrem Bett. Neben ihr auf dem Nachtschrank steht ein Becher Kaffee und auf ihrem Bett liegen säuberlich in Stapeln sortiert ihre Vorlesungen.

Um Anästhesie zu lernen, hat sie das Physiobuch aus ihrem Schrank geholt und es aufgeschlagen neben sich gelegt.

Von draußen dringt Kinderlärm an ihre Ohren und irgendwie erinnert es sie an die vielen Nachmittage in ihrem Elternhaus, an denen sie sich geärgert hat, dass die Nachbarskinder sich wirklich an jedem Tag im Garten streiten mussten und Mondkind manchmal gezwungen war, das Fenster zu schließen



Ein bisschen Alltag. Ein bisschen was von früher.



Mondkind versucht die vergangenen Wochen zu reflektieren, aber so richtig gelingen will ihr das nicht.

Vieles von dem, was im Frühjahr noch Normalität war, kommt ihr im Moment vor, als hätte sie diese Zeiten nie gelebt.

Sie versucht sich vorzustellen, wie es wäre zurück an ihren alten Wohnort zu gehen. Weiterhin vier Stunden zu pendeln, jeden Morgen um 5 Uhr aufzustehen und abends auf leisen Sohlen durch das Haus zu schleichen. Sie weiß nicht mehr, wie sie diese Belastungen ausgehalten hat und sie fragt sich ein wenig, warum sie sich nie ernsthaft mit Alternativen auseinander gesetzt hat, wo die Leute doch so oft an sie heran getragen haben, dass es ein bisschen irre ist.



Mondkind versucht sich zu erinnern, in welchem Zustand sie im April in die Klinik gekommen ist.

Damals, an jenem Freitag, an dem sie endgültig aus dem Verkehr gezogen wurde. Sie kann sich noch erinnern – ungefähr zwei Jahre davor, als sie gerade frisch zu Hause Hals über Kopf ausgezogen war und die Gesamtsituation auch mehr als chaotisch war, saß sie auch schon mal mit ihrer Therapeutin und dem Arzt, der heute Oberarzt der Station ist, zusammen und die drei haben darüber geredet, ob es für Mondkind nicht sicherer wäre, in die Klinik zu gehen. Mondkind war nach dem Gespräch froh, „die Kuh gerade noch vom Eis gezogen zu haben“, wie sie sich in ihrem Tagebuch ausgedrückt hat, aber heute fragt sie sich, ob sie sich nicht viel hätte ersparen können, wäre damals ein anderer Weg gewählt worden.

Mondkind weiß noch, wie sie am ersten Tag hyperventilierend im Aufenthaltsraum stand, wie die Pflege sie ins Bett geleitet hat und wie Mondkind dachte, dass das die größte Katastrophe ist, die passieren konnte.

Sie erinnert sich an ihren ersten Sonntag, an dem sie abends mit der Pflegerin darüber gesprochen hat, wie es wohl ist, am Montag nicht in die Uni zu gehen, wo sie doch nie gefehlt hat.

Sie erinnert sich an die ersten Nächte, die kalt waren, sodass Mondkind öfter in der Nacht das Fenster geschlossen hat. Sie erinnert sich, dass sie von ihrem Zimmer in das Pflegezimmer sehen konnte und immer froh war, wenn hinter den zugezogenen Gardinen Licht brannte.

Sie erinnert sich an einen Satz, den ihr ein Freund ein paar Tage nach der Einweisung geschrieben hatte: „Ich hoffe, Du fühlst Dich sicher, dort wo Du jetzt bist“.  Sie weiß, dass dieser Satz einen Berg von Emotionen in ihr los getreten hat und dass ihr erstmals bewusst geworden ist, dass es vorbei ist. Dass sie sich nicht mehr von Termin zu Termin in der Ambulanz hangeln muss und dazwischen irgendwie überleben muss. Sie hat gemerkt, dass die anderen in dem Moment die Hoffnung für sie getragen haben und dass sie zumindest vorerst nicht sterben muss.

Sie erinnert sich an die Gruppe von damals. Nach ein paar Wochen fiel sie auseinander und danach gab es nie wieder einen so guten Zusammenhalt. Sie erinnert sich an die vielen Spaziergänge, die sie abends gemacht haben, wie sie mit einem Mitpatienten Rücken an Rücken auf einer Bank saß und sie ihr Atmen gegenseitig gefühlt haben und wie sie plötzlich das Gefühl hatte, nicht mehr allein zu sein.

Sie erinnert sich an die vielen Umarmungen. Daran, wie sie ihr Keyboard in den Gemeinschaftsraum gebracht hat und eine Mitpatientin ihr Spiel mit der Gitarre begleitet hat.

Sie erinnert sich an einen Wochenausklang, den eine Mitpatientin und sie gemeinsam gestaltet hatten. Sie hatten sich entschieden Crepes zu machen und ja – es war aufwändig, aber die ganze Station, inklusive Stationsarzt waren begeistert.

Sie erinnert sich an ihren Geburtstag, an dem ihr so viele Menschen gratuliert haben, wie noch nie zuvor.

Sie erinnert sich, wie der Oberarzt auf sie zu gekommen ist, als sie gerade mit der Kaffeemaschine gekämpft hatte, um das von Mondkind gewünschte Gespräch zu realisieren. Es war ein gutes Gespräch gewesen, bei dem Mondkind sich verstanden gefühlt hat, auch wenn einem Psychiater natürlich am Ende doch nichts anderes einfällt, als nochmal an den Medikamenten zu schrauben. Er hat Mondkind darin unterstützt, ihr Studium fortzuführen und verabschiedete sie mit den Worten: „Wichtig ist, dass Sie sich bis dahin nicht umbringen.“ Damals fand Mondkind das ein wenig unpassend, heute weiß sie, was gemeint war.

Sie erinnert sich an das vierstündige Gespräch mit ihrem Ergotherapeuten, dessen Ergebnis war, dass sie sich eine neue Bleibe sucht. Es war anstrengend und schwierig und hatte nur deshalb so lange gedauert, weil die beiden argumentieren mussten, bis Mondkind die Pro – Argumente ausgingen.

Und an einen Nachmittag, an dem der Psychologe sie vor dem Wochenende noch mitgenommen hat und die Worte fand, die Mondkind nicht parat hatte, aber die ihr Gefühl wieder spiegelten. Denn manchmal konnte er das doch und dann hat sich Mondkind auf eigenartige Weise ganz geborgen gefühlt.

Sie erinnert sich an die vielen Abende, die sie mit den anderen zumindest teilweise im Gemeinschaftsraum verbracht hat, daran, dass sie viel zusammen gelacht haben, daran, dass langsam der Sommer kam, die Station sich veränderte und sie mittlerweile eine derer ist, die am längsten da ist.

Sie erinnert sich daran, dass sie immer noch fast jeden Abend zusammen bricht, so aber nie über die Station läuft. Daran, dass der Stationsarzt sie dann doch mal in dem Zustand aufgesammelt hat. Sie erinnert sich, dass sie nach 10 Wochen endlich über ein Thema reden durfte, dass sie tagtäglich beschäftigte. Es war ein schwieriges Gespräch, aber sie hat schon während dessen gefühlt, wie der Druck von ihr abfiel.



Die Station hat sich verändert. Der Stationspsychologe ist im Urlaub – Vertretung gibt es nicht. Der Oberarzt ist auch nicht da und auch das merkt man extrem. Seit Montag haben wir auch einen anderen Stationsarzt, der überhaupt nicht zu vergleichen ist mit der empathischen und wertschätzenden Art des alten Stationsarztes.



Für Mondkind wird es Zeit zu gehen. Besser wird es jetzt nicht mehr, auch wenn sie gehofft hatte, während des Aufenthaltes mehr zu erreichen.

Und so sehr sie sich auch versucht zu sagen, dass es doch gut ist endlich in ihrem neuen zu Hause anzukommen und raus aus dem Krankenhaus zu gehen – denn das ist es ja nunmal – kann sie nicht leugnen, dass es eine sehr intensive Zeit war. Vielleicht die intensivste Zeit, die sie je hatte. In der sie viel gelernt hat über sich, über das Leben und darüber, wie Gemeinschaft funktioniert.

Und vielleicht ist es ganz natürlich, dass sie trotz aller Bemühungen nicht ganz verhindern konnte, das zu einem zeitlich begrenzten „zu Hause“ werden zu lassen.

Und vielleicht ist es okay ein wenig Angst zu haben. Angst davor, all diese guten Momente nur noch im Herzen zu tragen, sie aber selbst nicht mehr realisieren zu können. Angst davor, dass sie die Abende wieder alleine schaffen muss, Angst vor der Isolation und Angst davor, dass es doch passieren könnte, dass sie sich wieder von Termin zu Termin in der Ambulanz hangelt oder das Projekt Uni zu groß und zu schwer wiegt. Angst vor dem Leben, vor einer Welt, die immer noch neu für sie ist. „Sie müssen sich doch fühlen, wie ein Marsmännchen“, hatte ihr der Stationspsychologe zu Anfang mal gesagt, als er ihr eine Anpassungsstörung im Rahmen der Klinik diagnostiziert hat, was schon irgendwie ungewöhnlich sei, da Klinik ja schon Käseglocke ist.



Mondkind weiß, sie muss es allein schaffen. Sie hat keine Familie im Rücken, die ihr hilft. Auch die Leute, die an ihrem alten Wohnort für sie da waren, können es nicht mehr sein.

Aber sie hat hoffentlich genug gelernt in den vergangen Wochen. Sie ist bereit dafür, mit ausgebreiteten Flügeln von der Klippe auf die man sie gestellt hat los zu fliegen. Und trotz aller Angst: Sie ist gespannt, was diese Welt für sie bereit hält.

Alles Liebe
Mondkind

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