Schicksale auf der Intensivstation
Es ist noch früh an diesem
Morgen, als ich mich in eine blaue Hose und einen blauen Kasack schmeiße, den
Kittel überwerfe und auf die Intensivstation gehe.
Dort findet heute mein
Praxisunterricht statt, wobei das Wort Unterricht hier meistens wirklich fehl
am Platz ist. Erfahrungen macht man sicher, aber die Ärzte sind viel zu sehr im
Stress, als dass sie einer Studentin noch viel erklären könnten.
In den letzten Tagen hatte mich
der Praxiseinsatz immer in den OP geführt – ein Umfeld, in dem ich mich
überhaupt nicht wohl fühle – und deswegen war ich heute froh, mal auf der
Station bleiben zu dürfen.
Höflich, wie man als Student und
damit als „Unbekannter“ auf der Station sein muss, grüße ich jeden Arzt, an dem
ich vorbei laufe, stelle mich als Studentin vor und frage mich bis zum Oberarzt
durch.
Der teilt mich dann einem Arzt
zu, mit dem ich heute mitlaufen soll. Wir begrüßen uns und ich klemme mich
möglichst wenig störend an seine Fersen.
Er ist wirklich einer von der
netten Sorte, allerdings hat er heute Morgen viel zu tun, um vor der
Oberarztvisite alle Patienten vorzubereiten und deswegen ist das heute auch ein
Wissen aufschnappen. Ich nehme mir die Patientenakten, schaue sie durch und
versuche nachzuvollziehen, welche Maßnahmen warum stattgefunden haben.
Wir haben heute Morgen eine junge
Patientin bei uns liegen, die Opfer eines Verkehrsunfalls geworden ist. Es ist
schwierig, sie überhaupt anzusehen, weil sie mit ihren multiplen
Mittelgesichtsfrakturen doch recht übel aussieht. Sie kam als Polytrauma –
Patientin, wurde die halbe Nacht operiert mit dem Ziel sie einigermaßen zu
stabilisieren. Eine definitive Versorgung ist das noch nicht.
Sie liegt immer noch im
künstlichen Koma und ich frage mich, wie viel sie wohl noch mitbekommen hat von
dem Unfall. Und was sie für Schmerzen gehabt haben muss. Und ob sie wohl Angst
gehabt hat, an Ort und Stelle auf der Straße zu sterben.
Ich nehme mir die Akte und lese
die nicht aufhörende Anzahl von Verletzungen durch. Irgendwie ist es ein Wunder,
dass sie lebt.
Der Ehemann sei noch bis tief in
die Nacht da gewesen, sei dann aber irgendwann nach Hause gegangen.
Und eine halbe Stunde, nachdem
mein Praxistag begonnen hatte, ist er wieder da. Die Schwestern haben ihn in
den Besucherraum gesetzt, damit er ein bisschen vorbereitet werden kann. Ich
frage mich, wie man jemanden auf so etwas vorbereiten will. Ich laufe „meinem“
Arzt hinterher, stelle mich auch bei dem Ehemann vor (was wahrscheinlich in der
Situation komplett überflüssig ist) und warte was passiert.
Der Arzt erklärt, dass sie
schlimm ausschaut, man sie aber noch erkenne. Er solle das nur wissen und
vieles davon sei auch durch die Schwellung bedingt, so dass es schlimmer
aussieht, als es eigentlich ist.
Und dann nehmen wir ihn mit. Auf
dem Weg zu seiner Frau bleibt er immer mal stehen, stützt sich an der Wand ab.
Es fällt ihm schwer und ich würde am liebsten aus der Situation fliehen, weil
mir das alles so nahe geht.
Als er sie sieht, kommen ihm die
Tränen. Man merkt, dass er nicht weiß, was er jetzt tun soll, dass er wohl am
liebsten einfach zusammen klappen würde, aber seine Würde das nicht zulässt.
Der Arzt schiebt ihm schnell einen Hocker hin, damit er sich setzten kann. Wir
bringen ihm ein Glas Wasser und dann schweigen wir. Mir fällt es schwer, die
Stille auszuhalten. Aber was will man sagen? Alles, was wir als Ärzte sagen
können, kann nur falsch sein. Wir können nicht sagen: „Es wird schon wieder.“
Das wäre gelogen. Sie wird überleben ja – aber sie wird da definitiv mit
Schädigungen heraus gehen. Aber das dem Ehemann sofort mitzuteilen, wäre
natürlich auch nicht richtig.
Der Arzt legt ihm einfach nur die
Hand auf die Schulter und vielleicht ist das wirklich das einzige Zeichen von
Mitgefühl, das wir ihm jetzt vermitteln können.
Man kann an dieser Stelle hundert
Mal irgendwelche Kommunikationsmodelle gelernt haben – in der Realität sieht
alles anders aus.
„Innerhalb von einer Sekunde kann
ein Leben vorbei sein“, sagt er irgendwann.
Und irgendwie… ja. Das Leben der
beiden wird nie wieder so werden, wie es vorher war. Und selbst, wenn die
körperlichen Schäden irgendwann so weit es geht behoben sind, wird doch eine
seelische Belastung überbleiben.
Es ist eine harte Zeit, die der
Familie bevor steht.
Als ich am Nachmittag auf den
Heimweg bin, beschäftigt mich der Fall immer noch sehr. (Das wird er auch noch
den ganzen Abend lang tun).
Vielleicht sollten wir doch etwas
weniger durch unser Leben rasen, immer ein Ziel in weiter Ferne im Blick.
Vielleicht sollten wir doch ein wenig mehr im Moment bleiben, in dem wir gerade
leben, ein bisschen weniger streben und ein bisschen mehr genießen.
Denn es kann so schnell ganz
anders sein…
Ein nachdenkliche Mondkind…
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