Bezugsperson und ein bisschen Neuro - Diagnostik
Donnerstag. Feiertag. Dienst.
Es schüttet wie aus Gießkannen, als ich den Weg auf den Berg antrete.
Wie dankbar ich für mein neues Schuhwerk bin, das nun endlich mal regendicht
ist.
„Mondkind, wir haben Dich vermisst“, sagen die Schwestern auf der
Station. „Ich vermisse es hier auch alles ganz doll“, entgegne ich. „Also muss
ich jetzt hier wenigstens Dienste machen…“ „Ich sitze im Arztzimmer“, füge ich
nach kurzer Pause hinzu. „Wenn etwas ist, einfach klopfen oder anrufen…“
Die Visite mit dem Oberarzt ist eigentlich relativ flott erledigt. Nur
aus meinem Plan im Anschluss mein 24 – Stunden – Video – EEG auszuwerten wird
nichts, da die Notaufnahme mal wieder zuläuft und ich dort natürlich erst mal
helfen muss, ehe ich mich meiner eigenen liegen gebliebenen Arbeit widmen kann.
Bis ich mir rote und schwarze Kurven anschauen und deren Beziehung
zueinander interpretieren kann, ist es nach 18 Uhr. Mittlerweile scheint
draußen die Sonne, aber ich werde noch eine Weile im Arztzimmer sitzen.
18:30. Die potentielle Bezugsperson und ich. Das erste Mal heute in
einem Raum, ohne dass sofort wieder irgendein Alarm losgeht. Ich traue es mich
nicht, irgendetwas zu sagen. Obwohl ich so gern würde. Er ist super genervt. Zwar
war er am Telefon jedes Mal, wenn ich ihn anrufen musste echt lieb, aber ich
höre es trotzdem heraus. Es tut nur so unfassbar weh mit ihm in einem Raum zu
sitzen und nicht zu wissen, was das jetzt sein soll. Mit uns.
„Mondkind, sagt er irgendwann, „ich
wollte mit Dir eigentlich mal über die Mail sprechen." Ich hatte ihm noch
mal geschrieben. Dass ich jetzt acht Monate hier bin. Und dieses Hin und Her
nicht mehr aushalte. Auf der einen Seite redet er von Ausflügen ins Umland, auf
der anderen Seite meint man, dass wir dringend Institutionen zwischen uns
brauchen, um überhaupt miteinander sprechen zu dürfen. Weil uns privat zu wenig
verbindet. Ich habe ihm nochmal seinen eigenen Plan erklärt. Manchmal frage ich
mich nämlich, ob er sich noch dran erinnern kann. Wie das hier so gedacht war
mit der Idee, die Seele zur Ruhe zu bringen. (Denn dass die Familie der
Hauptknackpunkt war, war mir bis zu unseren Gesprächen überhaupt nicht
bewusst). Und gleichzeitig habe ich erwähnt, dass ich mir unsicher bin, ob das „nur“
ein genereller Plan war, oder ob er wirklich die Intention hatte, das
mitzutragen. Und auch erklärt, dass es sich nicht verantwortlich fühlen soll
für mich. Ich hätte immer anders entscheiden können. Ich hätte nicht hierher
kommen müssen. Aber ich würde trotzdem gern wissen, wie er dazu steht.
„Eigentlich hatte ich das heute
vor gehabt, aber es war viel zu tun. Wir versuchen das nächste Woche“, sagt er.
„Okay", entgegne ich. „Am Besten ist es, Sie melden sich einfach mal, wenn
sie kurz Zeit haben. Ich werde wohl nach 16 Uhr ein paar Minuten schaufeln
können, wenn ich hinterher weiter arbeite. Aber...", unterbreche ich kurz,
unsicher, ob das jetzt so geschickt ist, weiter zu sprechen, „Sie haben ja
gefühlt immer Stress." „Ja Mondkind", sagt er, „und das ist auch
schon der erste Unterschied zu damals. Damals hatte ich Zeit. Jetzt habe ich
einfach keine Zeit mehr..." Er widmet sich dem Monitor. Irgendwie tut das mehr weh, als er vermutlich
intendiert hatte.
„Tschüss Mondkind“, sagt er, als er aufsteht und den Raum verlässt.
Nicht mehr „bis morgen“. Das war mal. Bis Mai. Und dann steigen mir erstmal die
Tränen in die Augen. Ich erinnere mich an einen Tagebucheintrag. Ende 2018. Am
Ende der PJ – Zeit. Und es gibt so
Sätze, die bleiben irgendwie. Die kommen einem so in den Sinn und man wünscht
sich so sehr, dass sie nicht Realität werden und weiß aber, dass das passieren
kann. Spürt beinahe, dass es so wird. „Vielleicht kann es das alles nur noch
ein Mal geben. Und vielleicht ist das genau jetzt.“
Wahnsinn, wie weit entfernt wir mittlerweile von einander sind. Wie
unfassbar lange ist das her, dass er samstags mal das Telefon in die Hand
genommen und einfach angerufen hat. Gefragt hat, wie es mit der Küche so steht
und dann meinte: „Mondkind, ich bin in 30 Minuten bei Dir…“ Und ich dachte
mir einfach nur so: crazy… Und wie sich unsere Kommuikation gelegentlich auf
whatsApp verlagert hat. Damit wir nicht für jeden Satz eine Mail schreiben
mussten.
(Und manchmal frage ich mich, warum er am Wochenende nicht einfach
anruft, um das zu klären. Warum wir unbedingt einen Zeitslot im Krankenhaus
brauchen, was für uns beide fast unmöglich zu organisieren ist…)
Ich weiß nicht, was er mir da nächste Woche erzählen will. So das
überhaupt stattfindet. Wie oft wollten wir dieses Gespräch schon führen? Ich
frage mich einfach, ob ich irgendwo irgendetwas falsch gemacht habe. Ob er
irgendetwas erwartet hat, das ich nicht getan habe. Ich bin Zwischenmenschlich
halt echt nicht so geübt… Oder, ob die
Mailaktion von der ehemaligen Freundin das wirklich alles gecrasht hat. Danach
war auf jeden Fall Funkstille und er hat sehr darauf geachtet, dass wir nur
noch professionell miteinander umgehen. Zwischenzeitlich fanden nicht mal mehr
Gespräche zwischen uns beiden in seinem Büro, sondern zwischen Tür und Angeln statt,
damit das gar nicht erst auf eine private Ebene rutscht.
Und trotzdem gab es immer wieder Nebensätze. Die dann irgendwie
verwirrt haben. Es ist noch gar nicht so lange her, als er irgendwann mal
meinte: „[Die Studienstadt] ist schon sicher auch eine schöne Stadt. Und wenn
Du etwas Ruhigeres brauchst, dann geh ins Labor. Du kannst machen, was Du
willst. Und trotzdem hoffe ich natürlich, dass Du Dich entscheidest hier zu
bleiben…“
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Ich habe noch ein paar Ausflugsbilder vom Urlaub in petto... |
Freitag. Brückentag. Arbeitstag.
Es war am Mittwoch, als ich erfolglos versucht habe, bei einer
Patientin eine Lumbalpunktion zu machen. Bei einem LWS – Syndrom, einer
Schmerzüberempfindlichkeit und einer Adipositas per magna war ich die sechste
Ärztin im dritten Krankenhaus, die es nicht geschafft hat, das heiß ersehnte
Nervenwasser zu gewinnen.
„Da war so ein großer, langer Mensch, der hat gesagt, dass man das bei
Euch auch unter Durchleuchtung machen kann“, erklärt die Patientin, als ihr
gerade die Nadel im Rücken steckte.
Nachdem wir geklärt haben, dass der „große, lange Mensch“ der Chef
gewesen sein muss, versuche ich zu verbergen, dass mir das bis soeben nicht
bewusst war, dass wir so etwas machen. Daher war mein Einreden auf sie, es nach
dem ersten gescheiterten Versuch nochmal versuchen zu dürfen, auch ein wenig
halbherzig.
Am Freitag habe ich dann den Chef der interventionellen Radiologie
angerufen. „Oh, solche Anfragen hatten wir in der letzten Zeit sehr selten Frau
Mondkind. Aber klar, das ist kein Problem, das können wir machen.“ „Okay… -
muss ich dazu mitkommen?“, frage ich. (Eigentlich war die Frage eher reine
Höflichkeit, denn ich habe sicher keine zwei Stunden Zeit, um der ganzen Sache
vom Anfang bis zum Ende beizuwohnen…). „Ja“, entgegnet er. „Sie bringen die
Patientin mit, die Röhrchen und ganz viel Interesse…“ Na herzlichen Glückwunsch
Mondkind… Die Kollegin meinte, dass wir Neurologen wohl dann auch stechen
müssen – das hörte sich bei dem Chef eher anders an. Ich hoffe es nicht,
ehrlich gesagt. Aber wir wissen: Der Montag wird lang.
Freitag in der Frühbesprechung.
Es geht um einen Patienten, von dem man gerade nicht genau weiß, ob er
eine Epilepsie hat, oder nicht. Er liegt aktuell im Neubau, soll aber jetzt
rüber in den Altbau. „Wir haben vor, ihm jetzt ein 72 – Stunden – Video – EEG
anzubauen…“, erklärt der Oberarzt der Notaufnahme. Ich bemühe mich mal, mich
nicht angesprochen zu fühlen. Merke aber, wie die Blicke von gleich zwei
Oberärzten auf mir liegen.
Wir sind gerade raus aus der Frühbesprechung, als mein Telefon läutet.
Der Epilepsie – Oberarzt. „Mondkind, Du hast es gehört. Da kommt der Patient
zum 72 – Stunden – Video – EEG. Den nimmst Du. Und wenn Du am Sonntag
Langeweile hast, kannst Du auf den Berg kommen und anfangen, Dir das EEG
anzuschauen.“ So freiwillig, wie es formuliert war, ist das allerdings indes
nicht. Wir brauchen am Montag die Auswertung. Und ich habe ja immer noch eine
Menge andere Patienten zu versorgen – beispielsweise die Punktion unter
Durchleuchtung…
Es ist schon kurz vor halb acht, als ich beschließe nach Hause zu
gehen, obwohl ich noch nicht fertig bin. Wenn ich am Sonntag eh wieder da bin…
Ich treffe eine Kollegin unterwegs, die mich ein Stück mit dem Auto
mitnimmt. Deshalb bin ich dann sogar vor acht Uhr zu Hause.
Und nach einem Haushaltstag heute, geht es morgen mit EEG weiter.
Manchmal weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Auf der einen Seite möchte
ich gern viel und schnell lernen und bin manchmal auch dankbar, dass man mich
da so rein schmeißt. Und wenn die Kollegin behauptet von mir Sonographie lernen
zu wollen, weiß ich manchmal nicht, ob ich das erschreckend oder schön finden
soll.
Und auf der anderen Seite weiß ich oft abends nicht mal, wie ich die
Haare vor dem Schlafen gehen noch Waschen und trocken kriegen soll, weil da so
wenig Energie ist und es so spät ist. Und wann ich einkaufen gehen soll, wenn
ich samstags auch noch arbeiten gehe.
Und wenn die Wochen immer länger als kürzer werden. Und man jeden
Sonntag auf dem Sofa sitzt und eigentlich nur beten kann, die nächste Woche zu
schaffen.
Und während wir versuchen die nächste Woche heil zu überstehen, kommen
wir unserer Lieblingsbeschäftigung nach. Warten. Auf Antworten. Die so, so
lange überfällig sind. Und hoffen. Dass er es nicht vergisst. Dass wir sprechen
wollten. Und irgendwann wirklich das Telefon klingelt. Mit seinem Namen auf dem
Display. Und ich nicht gerade irgendwo fest hänge, wo ich nicht weg kann. Und
es dann heißt: „Ach Mondkind, das können wir ja auch nächste Woche machen…“ Als
sei das eine Nebensächlichkeit.
Mondkind
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