Ein ganz normaler Freitag und Gesprächsfolgen
Freitagmorgen.
Wie jeden Tag, bin ich schon ein bisschen früher da. Schreibe die Namen
aller meiner Patienten auf eine Liste, schaue was an Neuzugängen kommt und sehe
die Unterlagen durch, die in meinem Fach gelandet sind.
Das Telefon klingelt. Der Epilepsie – Oberarzt. „Mondkind, heute in
der Frühbesprechung stellt Du den Fall mit der limbischen Enzephalitis von
dieser Woche vor. Ich erzähle etwas über den Patienten, der jetzt noch am Video
– EEG ist.“, erklärt er. Also… - morgendliche Tätigkeit unterbrechen und den
Brief nochmal ausdrucken und alles durchlesen.
In der Frühbesprechung fragt der Chef dann die einzelnen Abteilungen
durch und ob es etwas Spannendes gab. Es wird explizit nach Parkinson und MS
gefragt, aber nicht nach Epilepsie. Ich warte darauf, dass mein Oberarzt etwas
sagt, da ich als Assistentin sicher nicht das Zepter in der Frühbesprechung
übernehmen darf (obwohl ich mir unsicher bin, ob er das erwartet…). Aber er
sagt nichts.
Kaum sitze ich wieder im Arztzimmer, klingelt das Telefon. Der
Epilepsie – Oberarzt. „Mondkind, hatte ich eine kleine Absence zwischendurch,
oder hast Du wirklich nichts gesagt…?“ Und auf meine Verteidigung, dass der
Chef nicht gefragt hat, kommt: „Mondkind, es geht darum, dass man unsere Arbeit
würdigt. Dass die Epilepsie nicht so ein kleines Nebengeschäft wird, das an
dieser Klinik niemanden mehr interessiert…“ Ich entschuldige mich.
Ernsthaft – ich hasse diese Freitags – Frühbesprechungen. Und noch
viel mehr hasse ich es, da irgendetwas sagen zu müssen.
Ansonsten war es ein typischer Freitag. Schon beinahe im Halbschlaf,
weil ich die ganze Woche nicht vor 21:00 Uhr nach Hause gekommen bin. Ehrlich
gesagt ist das einfach zu viel für eine Assistenzärztin, die erst wenige Monate
im Job ist. Wir jonglieren mit drei Oberärzten und natürlich meint jeder von
denen, dass man nur Zeit für sein Fach hat.
„Mondkind, ich bin in einem Monat nicht mehr da. Dann müsst Ihr die
Epilepsie alleine machen und Du wirst eine der Wenigen sein, die überhaupt ein
bisschen Ahnung hat…“, erklärt der Epilepsie - Oberarzt und dann sitzen wir
ewig in seinem Büro. „Ich schicke Dir dazu nochmal ein paar Artikel und Du
musst Dir die Fachinformationen zu jedem Medikament ausdrucken und durchlesen…“
Eine Einführung ins EEG – Programm und wie man es pflegt gibt es auch, nachdem
im Lauf der Woche der Server zusammen gekracht ist aufgrund der Video – EEG –
Datenmengen.
Allein mit meinen Epilepsie – Patienten könnte ich einen ganzen Tag
füllen. „Epilepsie – Patienten sind sehr aufwändig“, erklärt der Oberarzt
unnötigerweise. Dass ich mit denen allein eigentlich bis 16 Uhr beschäftigt
bin, ist mir auch schon aufgefallen. Die Video – EEGs werte ich grundsätzlich
in meiner Freizeit aus.
Aber spannend sind die Fälle eben auch. Mein letzter Fall diese Woche
war ein langjähriger Alkoholiker, der nachts unerklärlicherweise aus dem Bett
fällt. Die Anamnese war sehr inkohärent und wir haben nicht wirklich geglaubt,
dass er etwas hat. Aber er hat ein Video – EEG bekommen. Das hat er sich nach
wenigen Stunden wieder abgebaut, sodass im Endeffekt nur zwei bis drei Stunden
wirklich auswertbar waren. In der Zeit hat er aber ein Nickerchen gehalten – da
sieht man häufig die Pathologien im EEG. Und tadaa… - da sprangen uns doch
epilepsietypische Potentiale an. „Wir haben ihn trotzdem erwischt Mondkind“,
kommentiert der Oberarzt. „Ich habe es heute beim Frühstück gesehen. Da
schmeckt das Frühstück gleich besser…“
Gleichzeitig möchte mir aber einer der anderen Oberärzte die Immunologie
näher bringen und hat mir da auch ein paar Artikel geschickt und der Dritte im
Bunde hat mich diese Woche mit Synkopen – Abklärung zugeschmissen. (Und leider
fragen die hin und wieder nach dem Inhalt der Artikel…)
Das ist auch alles interessant und ich würde gern dazu kommen alles zu
bearbeiten, aber so schnell kann ich das einfach nicht. Ich komme ja kaum zum
Schlafen.
Es ist schon sehr spät am Nachmittag, als ich noch eine Patientin, die
unbedingt nach Hause will, entlasse. Nur über die Fahrtüchtigkeit bei
rezidivierenden Synkopen müssen wir noch reden. Und das hat mir dann nochmal
eine völlig dekompensierte Patientin und eine Menge Zeitverlust eingebracht.
Ich kann es nachvollziehen. Aber ich bin auch nur Diejenige, die die Gesetzeslage
schildert. Ich habe mir das nicht ausgedacht, um sie zu ärgern – so wie die
Patienten das gern interpretieren.
Plötzlich ruft mich eine Kollegin an. „Mondkind, ich habe Sonntag
Visitendienst. Ich kann das nicht machen, wirklich nicht. Kannst Du den Dienst
nehmen…?“ Erst sehr viel später wird mir auffallen, dass mein Plan nebenbei
mein Video – EEG auszuwerten nicht klappen wird, weil es auf der Stroke Unit
technisch nicht möglich ist. Also muss ich das morgen nach dem Dienst machen –
das wird dann auch wieder ein 10 - bis 11 – Stunden – Tag.
Und noch viel später am Abend ruft einer meiner Oberärzte noch an. „Mondkind,
schön, dass Du noch da bist. Ich hätte wirklich nur eine Kleinigkeit…“ Na, dass
da einer grundsätzlich bis nach 20 Uhr sitzt, hat er ja schnell geschnallt.
Meine letzte Amtshandlung – nachdem ich dem Patienten den ganzen Tag
hinterher gerannt bin und er wirklich immer beim Rauchen war – ist es, den
besagten Patienten im Raucherpavillon aufzuklären. Als Weißkittel im Raucherpavillon…
- ich kam mir echt dämlich vor. Und dann stand die Luft da so sehr, dass ich
mit meiner ungeübten Lunge irgendwann nur noch krächzen konnte.
Es ist fast 22 Uhr, bis ich zu Hause bin. Und es ist nicht alles
geschafft – das bleibt für Sonntag nach dem Dienst.
„[Die Kollegin] soll ja auch mal wieder die Sonne sehen“, hat „mein“
Oberarzt mal irgendwann über eine Kollegin gesagt, die – nachdem sie lange dort
war – von der peripheren Station auf die Stroke Unit wechseln durfte. Ich hätte
nicht gedacht, dass in diesem Satz so viel Wahrheit steckt. Aber ehrlicherweise
hat man keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Man funktioniert nur noch. Und
hofft, dass man nichts übersieht.
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Bild von einem der Ausflüge im Urlaub |
Überhaupt… - „mein“ Oberarzt.
Es ist ein großes emotionales Chaos in den letzten Tagen.
Im Vorfeld haben mir so viele Leute gesagt: „Mondkind, das kann doch nicht
funktionieren…“ In der Psychiatrie hat die Oberärztin immer wieder betont: „Frau
Mondkind, ich höre mir diese ganze Geschichte mit großer Sorge an…“ Und
manchmal hatte ich Angst, dass sie schon zu viele zwischenmenschliche
Geschichten in ihrer Karriere gesehen und gehört hat, die so ähnlich waren und
wirklich schief gegangen sind.
Und dennoch war da irgendwie ein gewisses Vertrauen in die Situation
und in diesen Menschen. All die Gespräche, die wir geführt haben und all die
Ideen die er hatte – das muss doch mehr als Schall und Rauch gewesen sein. Er
hat mir doch nicht vier Jahre mantra – artig den Plan einer Lösung präsentiert
und geht den Weg am Ende nicht mit mir gemeinsam. Das konnte ich mir nicht
vorstellen.
In den letzten Jahren hatte ich immer das Gefühl, zu müssen.
In einer kleinen, abgeschlossenen Welt mit einer Bezugsperson zur Ruhe
kommen, die ein bisschen von dem zurückgeben kann, das so lange gefehlt hat,
war der Plan, den wir entwickelt hatten.
Aber um das Ziel zu erreichen, würde ich das Studium fertig machen
müssen. Dazu musste auch das Examen bestanden werden. Ich musste nochmal durch
halb Deutschland ziehen und ich musste erstmal anfangen im Krankenhaus zu
arbeiten, auch wenn ich nicht geglaubt habe, das lange durchzuhalten. Aber ohne
die Grundlage des Krankenhauses hätten wir keine Basis gehabt, von der wir
hätten starten können. Ich musste dann auch einsehen, dass mir nichts andere
übrig bleibt, als von seiner Station weg in die Notaufnahme zu rotieren, weil
wir es bis dahin immer noch nicht geschafft hatten. Und die Menschen haben auch
gesagt, dass vielleicht mehr Abstand der Sache gut tut. Also habe ich dann
irgendwie die Notaufnahme gemacht, obwohl ich jeden Morgen vor Angst fast
gestorben bin. Und dann musste ich auch noch auf die periphere Station
rotieren, weil es immer noch keine Lösung gab.
Ich habe so oft geglaubt, dass ich die Schritte nicht schaffe. Aber
was gab es für eine Alternative, wenn das Ziel am Ende des Weges erfordert hat,
dass man die nächsten Hürden auch noch überklettert?
„Mondkind, Du bist ja nicht sehr entscheidungsfreudig. Aber die Sache
mit [dem Ort in der Ferne] war das Einzige, das Du wirklich sehr verbissen
durchgezogen hast…“, sagte die potentielle Bezugsperson am Mittwoch. Ja… -
warum wohl…?
Im Prinzip stehe ich jetzt das erste Mal hier und muss tatsächlich
überhaupt nichts mehr. Was vermutlich eine Chance sein kann – nur, dass ich das
gerade noch gar nicht so sehen kann. Ich kann nicht mehr. Und ich will auch
einfach nicht mehr. Ich müsste mir ja etwas Neues überlegen. Wie und wo man den
Kinderseelen in mir ein bisschen Halt geben kann. Hier wird das sicher nicht
der Fall sein – also müsste ich wieder umziehen, bräuchte einen neuen Job und
das ganze Theater geht von vorne los.
Was ich aber vor allen Dingen nicht verstehe und worüber ich viel
nachdenke, ist seine 180 – Grad – Wendung in der Geschichte.
Diese ganze Argumentation warum das von seiner Seite aus nicht geht
ist nachvollziehbar, aber streckenweise nicht stimmig. Er hat vor allen Dingen
private Gründe hervorgehoben und mir das auch erläutert. Im Prinzip hat er das
Totschlagargument überhaupt gebracht und ich habe mich lange gefragt, ob das
nicht ein Problem sein könnte, bis er mir im Januar gesagt hat, dass er das
geklärt hat und dass es kein Problem ist. Das hat er auch von sich aus getan;
ich hatte danach nie gefragt. Und jetzt war genau dieses Argument der
schlagende Grund. Da kann man nichts gegen sagen und ich werde das nicht mehr
hinterfragen – das steht mir einfach nicht zu. Aber es wundert mich.
Und wenn er schon mal dabei
war, hat er gleich richtig ausgeholt. Er hat mir nie vorgeschrieben, was ich tun
soll und wo ich sein soll – hat aber bei jeder Diskussion, ob ich hierher komme
oder dann später, als ich hier war, hinzugefügt: „Ich hoffe dennoch, dass Du
Dich für [den Ort in der Ferne] entscheidest.“ Mittwoch war das erste Mal, dass
ich gehört habe, dass es für mich vielleicht besser wäre, in die Studienstadt
zurück zu gehen und ich mir das ernsthaft überlegen soll. Ich kann mir nicht
helfen, aber es wirkt wie: „Wir haben hier ein ernsthaftes Problem miteinander,
weil ich weiß, was Du brauchst und es Dir einfach nicht geben kann und ehe wir
beide darunter leiden, ist es besser, wenn Du gehst…“
Und auch, dass er mir die Dienste nicht richtig zutraut, hat er so nie
gesagt. Es geht dabei nicht um Kompetenz, sondern um meine eigene Unsicherheit
und immer wenn ich das angesprochen habe, meinte er, dass wir die ersten Dienste
zusammen machen und dass das dann schon klappen wird.
Und am Ende – es klang fast ein bisschen nach Versöhnung - kam: „Mondkind,
ich wäre gern die Person, die Du so dringend brauchst. Und ich würde Dir gern
mehr geben. Aber es geht einfach nicht. Und ich weiß nicht, ob Dir das so
reicht. Ich glaube es nicht, denn das ist nicht das, was Du brauchst und
willst.“
Was mich an der ganzen Sache auch stört ist, dass er das natürlich
nicht erst alles seit gestern weiß. Und so lange gebraucht hat, bis er mir das
endlich mal gesagt hat. Das hätten wir schon letztes Jahr haben können.
Innerhalb der schützenden Mauern der Psychiatrie. Wo ich jetzt nicht einfach
erstmal weiter hätte funktionieren müssen. Die Menschen sagen, dass es stark
ist, einfach weiter zu funktionieren, obwohl hier meine kleine Welt gerade
tatsächlich auseinander fällt, aber was kann ich schon machen? Ich habe die
Therapeuten mal um Hilfe gebeten, aber die können natürlich auch nicht sofort.
Wenn ich Glück habe, ergibt sich nächste Woche etwas.
Ich muss überlegen, wie ich jetzt weiter mache.
Man könnte ein bisschen die ersten Dienste als Endpunkt nehmen. Ich glaube,
der Oberarzt hat schon Recht, wenn er sagt, dass ich das mit den Diensten nicht
gut schaffen werde. Ich bin ja sowieso immer am Rand der Überforderung – wie
soll ich denn nachts die Notaufnahme rocken? Und wer keine ersten Dienste
machen kann, kann natürlich nicht im Krankenhaus arbeiten. (In der Überzeugung
ist der Oberarzt übrigens sehr eisern). Im Moment versuche ich Zeit damit zu
generieren, dass ich viele Wochenenddienste mache, sodass hoffentlich alle
sehen, dass ich nicht faul bin, nur weil ich keinen ersten Dienst mache. Und
man mir dann noch ein bisschen Schonfrist gibt, weil ich – wenn ich ersten
Dienst mache – natürlich keine Wochenend – Visitendienste mehr mache. Irgendwo
hört es dann auch mal auf. Damit verhelfe ich mir jetzt nicht zu mehr freier
Zeit, muss man ehrlich sagen, aber das schiebt diese Katastrophe noch ein
bisschen. Das wird – ganz klar – trotzdem in den nächsten Monaten kommen;
eventuell sehr unverhofft, wenn man einen freien Dienst hat, den man anders
nicht besetzen könnte.
Aber das wird am Ende auch mehr Frieden sein. Bisher habe ich immer
geglaubt, dass es vielleicht einfach doch zu früh ist. Vielleicht wäre der
Durchbruch gekommen, hätte ich das einfach noch ein kleines bisschen länger
durchgehalten. Das hätte ich nie gewusst. Jetzt kann ich mir ganz sicher sein,
dass alles Warten, Hoffen, Versuchen in Bezug darauf hier ein Stück Seelen – zu
– Hause – zu finden, nichts mehr bringt.
Sollte man das so nicht wollen, müsste man sich ein sehr gutes
alternatives Konzept überlegen. Das würde aber auch ein bisschen Bemühen vom
Helfersystem erfordern. Ich bin so müde – ich kann mich nicht um alles selbst
kümmern. Schon mal gar nicht, weil wir ja auch in den vergangenen Wochen gelernt
haben, dass eine neuerliche Klinikeinweisung nicht so einfach ist. Und
monatelang dauern wird. Und die Zeit habe ich jetzt einfach nicht mehr.
Im Prinzip ist es erstaunlich, wie viel in den letzten Wochen zusammen
gebrochen ist und wie gerade ich trotzdem noch stehe. Ausgerechnet seit dem
letzten Mal Studienstadt habe ich von vielen Freunden nichts mehr gehört. Der
beste Freund meldet sich einfach gar nicht mehr. Der Herr Therapeut sagt, dass
er nichts mehr machen kann, die Möglichkeit einer schnellen Lösung hinsichtlich
Klinik scheint es nicht zu geben und die potentielle Bezugsperson, wird nie
Bezugsperson werden.
Und so schlimm wie das auch alles ist und so sehr wie ich mich auch
weigere die Hoffnung in irgendetwas aufzugeben, aber das generiert tatsächlich
eine gewisse Ruhe. Das Warten ist vorbei. Die Möglichkeiten sind erschöpft.
Wenn ich gehe, dann bleiben keine Eventualitäten auf ein lebenswerteres Leben
zurück.
Mondkind
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