Ein Jahr nach der Klinikeinweisung
Zum Glück ist heute Sonntag. Ich kann hier alleine auf meinem Sofa
sitzen. Den Kopf rennen lassen. Ich muss mich nicht in mir selbst verlieren und
nebenbei noch den Patienten gerecht werden.
Genau ein Jahr ist die letzte Einweisung in die Psychiatrie jetzt her.
Ein bisschen Erinnerung. Ein paar Schnipsel. Ein paar Hoffnungen, Ideen,
Träume. Ein kleiner Abgleich mit dem Jetzt.
Nichts Neues, nichts Spannendes für die, die schon länger mitlesen.
Heute mal ein Blogpost ganz allein nur für die Mondkind.
Am Ende war es alles irgendwie schnell gegangen. So halb im Tran, als
ich gar nicht mehr genau wusste, was ich da mache, habe ich der Therapeutin
eine Mail geschrieben. Dass es jetzt gar nicht mehr geht. Und sie sich bitte
etwas einfallen lassen soll hinsichtlich stationärer Aufnahme. Und
ausnahmsweise kam mal nicht zurück: „Naja Sie könnten ja vielleicht mal hier
und da anrufen und sich um dies und jenes kümmern.“ Ausnahmsweise hat sie es
wirklich mal organisiert. Innerhalb von fünf Stunden. „Sie können morgen in die
Klinik kommen: bitte kommen Sie um 9 Uhr zur Station [xy], zur stationären
Aufnahme“, kam ein paar Stunden später als Mail zurück, nachdem sie noch meinen
sehr geschätzten Herrn Psychiater eingeschalten hatte. Ich kann mich noch erinnern, wie ich damals
vor meinem PC saß. Und gar nicht wusste, was ich da jetzt fühle. Unfassbare
Erleichterung, dass dieser Wahnsinn etwas mehr als drei Wochen nach dem Examen
endlich ein Ende hat. Und Angst. Und ganz viele Fragen. Es war eine Station,
die ich selbst auch noch nicht kannte. Würde man mich da ernst nehmen? Bin ich
in deren Augen überhaupt würdig, stationär aufgenommen zu werden? Werde ich es
schaffen, ehrlich genug zu sein… ?
Am Nachmittag war dann mit nicht mehr so richtig vorhandener Kraft
Koffer packen dran. (Aber die Meisten Menschen vergessen in so einer Situation
die Hälfte… - ist nicht schlimm).
Nächster Früh. Ich habe noch genau das Bild vor Augen, wie ich am
Morgen des 7. Juni mit einem Koffer an der S – Bahnhaltestelle stand. Und
irgendwie das Gefühl hatte, dass es mir auf die Stirn gedruckt steht, dass ich
mit meinem Koffer erst am Psychiatrie – Gelände wieder aussteigen werde.
„Mondkind, willst Du das wirklich…???“, habe ich mich gefragt. Die
Situation war völlig verrückt. Meine Eltern und die meisten Menschen in meinem
Umfeld vermuteten mich brav am Schreibtisch für das Examen lernend. Es wussten
nur zwei Menschen, wohin ich an diesem Morgen unterwegs war. Ein guter Freund
und die potentielle Bezugsperson.
Irgendwann müssen diese Lügen explodieren. Das wusste ich. Der
Zeitpunkt war bis dato unbekannt. Meine Schwester würde in den nächsten Tagen selbst
Examen machen und dann konnte man die Bombe platzen lassen. Dann würde ich
niemanden mehr schützen müssen. Hatte doch der letzte Psychiatrie – Aufenthalt für
so viel Aufruhr und negative Stimmung gesorgt, dass meine Schwester und mein
Vater seitdem bis heute nicht miteinander sprechen können – da musste man eine
zweite Version davon nicht unmittelbar vor der wichtigsten Prüfung im Leben
meiner Schwester hervorrufen.
Und was würde mein Umfeld sagen, wenn ich dann irgendwann sage: „Naja
das Examen habe ich schon seit einem Monat und jetzt gerade bin ich in der
Psychiatrie.“
Es war dieses Versteckspiel, das mich so sehr belastet hat. Ich wollte
gesund werden. Aber das musste ich im Verborgenen tun. Weil krank sein ja nicht
erlaubt war – also auch keine Notwendigkeit, gesund zu werden. Und es war die
Frage, ob die in der Klinik die komplizierten Familienstrukturen so schnell
würden verstehen können und mich da gut würden auffangen können.
30 Minuten aus muss man von der Bahnhaltestelle an
der Uni durch die Stadt gurken, ehe man an der Haltestelle vor dem
Psychiatriegelände heraus fällt. Und dann ging es mein Köfferchen hinter mich
her ziehend in Richtung des Hauses, in dem ich für die nächsten Wochen leben
sollte.
Beim ersten Aufenthalt ist es mir ehrlich gesagt
nicht wirklich aufgefallen, dass da mitten auf dem Gelände ein recht modern
aussehendes Gebäude steht.
Wie das am Anfang immer so ist, habe ich mich
natürlich verlaufen. Nicht, weil das so wahnsinnig schlecht ausgeschildert ist,
sondern weil ich in der Aufregung einfach die Schilder versäumt habe, zu lesen.
Ein lieber Mitpatient hat mich dann etwas verloren im Gebäude aufgegabelt und
mich den Schwestern übergeben.
Nach den ganzen administrativen Aufnahmeformalien
unten in der Tagesklinik haben sie mir sofort erstmal Blut abgenommen, bis ich
mit meinem Köfferchen eine Etage höher geschickt wurde. Und schon wieder nicht
wusste, wo ich hin musste. Dann stand ich plötzlich erstmal irgendwie in der
Küche. Weil die direkt gegenüber dem Eingang war.
Auf den zuständigen Pfleger musste ich erstmal
kurz warten. Er hat mich dann – weil er noch etwas erledigen musste – erstmal im
Aufenthaltsraum geparkt. Ich war wahnsinnig gestresst. So viele neue Menschen.
Mitpatienten, Personal und dazwischen eine Mondkind.
Bei der Pflege musste ich erstmal eine Menge
Fragen beantworten. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was ich alles
erzählen sollte. Ich weiß nur noch, dass ich mir von Anfang an vorgenommen
habe, diesmal ehrlicher als beim letzten Mal zu sein. Dafür zu sorgen, dass niemand
völlig entgeistert ständig von sich gibt „Was wollen Sie denn… - in [Ort in der
Ferne]… ? Das ist doch ein winziges Kaff… ?! Was sucht da ein junger Mensch,
wie Sie?“ Ich wollte es transparent gestalten. Auch, wenn es unangenehm ist.
Auch, wenn man diesen zwischenmenschlichen Aspekt dieses Plans so sehr
verurteilen kann. Und so sehr falsch verstehen kann. Und ehrlich mit dem Thema
Suizidalität wollte ich auch sein. Damit das endlich mal aufhört in diesen
Wochen, in denen ich da bin.
Das Aufnahmegespräch mit der Pflege lief ganz gut.
Ich hatte aber auch – im Nachhinein betrachtet – einen sehr lieben Pfleger
erwischt, mit dem ich noch so manches gute Gespräch hatte in den Wochen danach.
Mit vielleicht fünf Minuten Pause folgte das
Aufnahmegespräch mit dem vertretenden Stationsarzt. Er war nett… - aber leider
Neurologe. Demzufolge dauerte das nicht besonders lange, bis unser Gespräch
über die Neurologie abdriftete – folglich hatte er keine Ahnung, warum ich überhaupt
da bin – wenn Aufnahmegespräche so gar nicht laufen, ist das immer schlecht.
Weil man sich da das erste Bild vom Patienten macht, was später nur schwer
korrigierbar ist. Heute kann ich mir die Fallbesprechung mit der Oberärztin
schon lebhaft vorstellen. Da saßen sie dann wahrscheinlich beide im Büro und er
konnte nicht erklären, was eine frisch gebackene Ärztin in der Psychiatrie
macht und die Oberärztin hat schon – bevor ich überhaupt etwas erzählen konnte,
ihre eigene Version entwickelt.
Die Aufnahmeuntersuchung war dann auch sehr
neurologisch angehaucht und ich fand das echt eine ganz spannende Erfahrung all
das, was ich sonst mit meinen Patienten mache, mal selbst zu erleben. Weniger
spannend war, dass mir dann doch zwischenzeitlich aufging, dass er gerade einen
Mini mental test mit mir macht und ich da ziemlich versage, weil ich mir weder
drei Worte merken kann, noch von 100 in 7 – er Schritten rückwärts zählen. Und
eigentlich konnte ich das im PJ im Schlaf. Da war die Durchführung dieses Tests
eine meiner Hauptbeschäftigungen auf der Station, auf der ich jetzt bin.
Danach gab es erstmal Mittagessen. Stressfaktor
hoch 1000. So viele unbekannte Menschen. Manche haben mich einfach ignoriert,
manche haben mich lieb begrüßt, manche haben gefragt, warum ich da bin. Und ich
war von den ganzen Geschehnissen des Morgens schon dezent überfordert und
ziemlich wortkarg. Und so wirklich essen konnte ich auch nichts. Da hat der
Magen schon angefangen zu rebellieren.
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Klinikgelände... |
Nach dem Mittag habe ich mich ein wenig auf dem
Bett lang gemacht, ehe ich von der Oberärztin eingesammelt wurde. Der
Stationsarzt musste den Fall zusammenfassen, hat irgendetwas von Examen und
Depression nach dem Examen erzählt, was ja so nun gar nicht stimmte. „Konzentrations-
und Auffassungsfähigkeit herabgesetzt…“, sagte er an irgendeiner Stelle, was
mich irgendwie doch so sehr gestört hat, dass ich eingeworfen habe, dass es so
schlimm ja wohl nicht sein kann. Schließlich habe ich vor wenigen Wochen Examen
gemacht – das Hirn konnte noch nicht weit weg von seiner Hochform sein.
Die Oberärztin hat mich dann erstmal komplett aus
dem Konzept geworfen. „Nach dem Examen rutscht jeder ein bisschen ab – das ist
normal“, erklärte sie und nahm mir damit den Wind aus den Segeln. Ich war
überhaupt nicht in der Lage, ihr die Situation bewusst zu machen. Ich hatte es
gerade so - mit viel Unterstützung der ambulanten Therapeutin - bis nach dem
Examen geschafft, weil wir beschlossen hatten, dass Klinik vor dem Examen keinen
Sinn mehr macht. Aber das Examen war sicher nicht die Ursache für die
psychische Dekompensation. „Ein stationäres Setting brauchen Sie eigentlich gar
nicht so richtig. Wir werden zusehen, dass wir Sie schnell in die Tagesklinik
stecken können.“
Das hat mich dann für den Rest des Tages komplett
raus gehauen. Eigentlich habe ich nur noch geweint. Einen Freund, der sich
erkundigen wollte, habe ich ständig noch ein paar Minuten versetzt, weil ich
dachte, dass ich mich irgendwann beruhigen kann, aber das konnte ich nicht. Irgendwann
haben wir dann doch telefoniert. Sehr einseitig. Ich konnte nicht reden. Nur
zuhören.
Ich habe mich so unter Druck gesetzt gefühlt. Da
war ich doch so froh gewesen, endlich mal aus meinen vier Wänden befreit zu
sein, endlich mit diesem Chaos – Kopf in Sicherheit sein zu können und dann würde
ich schon wieder raus sein, noch bevor ich mich so richtig in die Behandlung
fallen lassen könnte.
Da waren so viele Fragen. Es hat ja nie so gewirkt,
dass es mir wirklich schlecht geht. Das tut es bis heute nicht und das ist nach
wie vor das große Problem mit dem Helfersystem – hatten wir ja jetzt im letzten
Monat genug, dass jeder denkt, dass ich alles alleine kann. Da war plötzlich
mehr denn je die Frage, ob ich denn in diesem Sommer überhaupt gesünder werden
kann? Ob ich den Platz überhaupt verdient habe? Ob die mich für eine Simulantin
halten? Und wieso diese Not nicht gesehen wird. Da war die Frage, ob ich nicht
doch sofort meine Sachen hätte packen und in den Ort in der Ferne gehen sollen.
Vielleicht wäre der erste Sommer dort besser geworden, als ein Sommer in der
Psychiatrie, in dem man wieder um Verständnis ringen wird, das einem niemand
entgegen bringt.
Hochfunktionale Erkrankungen sind für die
Wirtschaftlichkeit gesehen sicher gut, aber für die Betroffenen absolut
beschissen. Die Not wird grundsätzlich nicht gesehen. Man muss sehr viel reden
und Jemanden finden, der zuhören kann und mal mehr auf das Innen, als auf das
Außen schaut, damit es überhaupt etwas werden kann. Und diese Menschen sind
sehr rar.
Und irgendwann im Verlauf des Tages habe ich mich
auch damit gestresst, dass ich gar nicht in der Lage war, die Mitpatienten
kennen zu lernen. Was würden die denn jetzt von mir denken? Wie soll man sich
in eine Gruppe integrieren, wenn man nur weint…?
Ich habe auch noch abends in der Abendrunde
geweint. Und in der ersten Nacht vielleicht so ein oder zwei Stunden
geschlafen.
Danach folgte erstmal ein langes Wochenende. Ein
gefühlt sehr langes Wochenende. Nicht, weil ich nichts zu tun hatte. Keine
Ahnung, wie viele Fragebögen man da ausfüllen musste – es war auf jeden Fall
ein ganzer Stapel Zettel und ich wollte mir Mühe geben dabei.
Sondern, weil ich so beunruhigt war. Die Klinik war
meine letzte Chance, vor dem Arbeitsleben etwas zu retten. Ein Leben gestalten
zu können, das ein bisschen was mit Lebensqualität zu tun hat. Möglichst dafür
zu sorgen, dass ich nicht mehr glaube, eines Tages an diesem Chaos – Kopf zu
sterben.
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Unsere Katzen... |
Die ersten Wochen waren wahnsinnig holprig.
Vermutlich haben entweder die ambulante Therapeutin oder der Herr Psychiater
der Oberärztin der Station vorgeschlagen, mich in die Schematherapie zu
stecken. So richtig hat sie die Idee aber nicht unterstützt – das hat man
gemerkt. Und da wir ja vermeintlich Zeitdruck hatten, hatte sie auch keine Zeit
zu warten, bis eine neue Gruppe startet. Also kam ich in eine Gruppe, die schon
die Hälfte der Sitzungen absolviert hatte. Ich hatte keine Ahnung, wovon die da
reden. Und da die Gruppe von meiner Einzeltherapeutin geleitet wurde, haben wir
die Einzelstunden dann nicht für Einzeltherapie genutzt, sondern dafür, dass
sie versucht hat mir im Schnelldurchlauf, die Grundzüge von Schematherapie
näher zu bringen. Leider war ich dafür am Anfang der Klinikzeit nur so gar
nicht aufnahmefähig. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren und zudem war da
diese massive Angst im Hintergrund, dass die einfach nicht sehen, was los ist
und mich genauso desolat entlassen.
Was Schematherapie vermitteln soll, habe ich erst
lange nach der Klinik gelernt. Klar – die Grundzüge sind nicht so schwer. Es
geht ein bisschen um innere Kinder und ein bisschen um Bewältigungsstrategien
und ein „Gesunder Erwachsener“ tanzt da auch noch irgendwo herum. Aber was das mit diesen Modi
alles auf sich hat und dieses dynamische Zusammenspiel und die große
Individualität dieser Therapieform – das habe ich alles nicht begriffen.
Der Klinikaufenthalt hätte mir wahrscheinlich im
Endeffekt tatsächlich nicht viel gebracht, wäre nicht am Ende meiner dritten
Woche der Herr Kliniktherapeut aufgetaucht, der mich übernehmen sollte, weil
meine Einzeltherapeutin in den Urlaub ging. Und irgendwie kam da ein Mensch,
der ziemlich schnell einfach durch mich hindurch und auf den Boden meiner Seele
geschaut hat. Und mich dann genau dort aufgesammelt hat, wo ich zu dem
Zeitpunkt eben war.
Da hatte ich endlich mal den Ersten von der
Personalseite aus, der an meiner Seite gekämpft hat. Für mich. Dafür, dass ich
noch ein bisschen bleiben konnte. Noch ein bisschen Zeit bekommen habe.
Ungefähr in dieser Zeit, gab es mal eine Achtsamkeitsstunde, in der ich nur
geweint habe. Warum, wusste ich damals gar nicht. Es gab keinen
offensichtlichen Grund. Heute glaube ich, dass mir genau da bewusst geworden
ist – ich muss mich nicht mehr tragen. Ich darf endlich mal fallen. Und wenn da
auch nicht Viele sind, aber zumindest Herr Therapeut kann auffangen. Danach ist
die Symptomatik auch erstmal explodiert. Wo ich nicht mehr Fassaden – Mondkind aufrechterhalten
musste.
Herr Kliniktherapeut hat das Personal eingenordet.
Manche haben das dennoch erst spät verstanden, was da los war. Wie meine Welt
aussah. Selbst nach sechs Wochen musste ich mir noch anhören: „Aber Sie und
[die potentielle Bezugsperson]… - Sie haben doch etwas miteinander…“ Kopf --> Tischplatte. Manchmal
kam es mir vor, als würden die dort Märchenstunde betreiben, statt zuzuhören.
Kurz bevor ich gegangen bin, hatten es glaube ich
auch die Letzen verstanden. Und plötzlich kam Unruhe auf. „Frau Mondkind, wenn
Sie in dem Zustand gehen – das ist zu früh. Funktionieren wird das schon
irgendwie – das ist ja nie das Problem bei Ihnen. Aber ich glaube nicht, dass
Sie da unten etwas wie Lebensqualität haben…“ Ich hätte dann tatsächlich sogar
noch länger bleiben dürfen. Da waren aber leider alle Verträge schon
unterschrieben – ich musste ja mit den Ansagen der Ärzte auch irgendwie planen.
Hätte man ein anderes Ergebnis haben wollen, hätte ich mir nicht wochenlang
umsonst den Mund fusselig reden dürfen. Wir haben da wirklich wochenlang Zeit
verschwendet.
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Manchmal glaube ich, ich werde diesen Zettel bis ans Ende meines Lebens aufheben... |
Letzten Endes habe ich aus diesen Wochen trotzdem
viel mitgenommen. Viel verstanden. Teilweise auch noch im Nachhinein, als mir
das Konzept der Schematherapie so richtig klar geworden ist. Nur für die
Umsetzung hat es dann nicht mehr gereicht.
Natürlich habe ich gehofft, dass es anders wird.
Dass der Chefpsychologe doch falsch liegt. Dass ich hier unten endlich mal ein
Leben mit Lebensqualität leben darf. Das Helfersystem blieb in der Studienstadt
zurück, ich war hier. Das mit dem Telefonieren wird zunehmend schwerer. Die
Menschen machen das immer weniger mit. Es geht auch seit Monaten nicht mehr
wirklich um therapeutische Inhalte. Jedes Telefonat ist im Prinzip nur ein
Abwägen. Ich sollte nochmal eine Runde Klinik einlegen, aber der Job… Und wie
wir Freitag vernommen haben, geben sie mir hier zwei bis drei Wochen. Auf zwei
bis drei Wochen stationären Aufenthalt wird sich aber niemand einlassen.
Ich glaube, die letzte Ansprache an die inneren
Kinder war irgendwann im Januar. Am Telefon. Als Herr Therapeut fragte: „Darf
ich nochmal mit den inneren Kindern reden…?“ Und die Mondkind natürlich „ja“
gesagt hat. Weil dieses ganze Diskutieren auf rationaler Ebene nicht ich bin.
Hier mit dem Job weiter zu machen, mag rational richtig sein, bringt die
inneren Kinder aber zur Weißglut. Weil das eben nicht das ist, was sie gerade
brauchen. Und daher kommt glaube ich auch gerade diese latente „Dauer –
Suizidalität“.
„Ich bin für Euch da“, hat er damals gesagt, als
ich mit geschlossenen Augen im kleinen Arztzimmer saß. Ganz viel Ruhe im
Mondkind – Kopf. Solche winzigen Oasen, die monatelang tragen müssen. Erinnerungen,
die bleiben. Wenige Worte, die so wertvoll sind. Sinnvoller kann man Zeit nicht
investieren.
Genau ein Jahr später sind die Perspektiven
aufgebraucht. Die Wege verlieren sich im Nichts. Seit ein paar Tagen wissen
wir, dass eine erneute stationäre Aufnahme nicht so einfach ist, wie der Herr
Therapeut das postuliert hat. Und wir bräuchten Hilfe bei der Entscheidung, die
wir nicht bekommen. Und wir wissen, dass mindestens 90 % der Menschen um uns
herum die Notwendigkeit einer Behandlung auch gar nicht sehen. Eigentlich alle
mit Ausnahme des Herrn Therapeuten. Der die Hochfunktionalität gesehen hat. „Ich
habe das Gefühl, dass es auch relativ uninteressant ist, was ich sage… - das
kommt bei Ihnen sowieso nicht an…“, sagte er in unserem letzten Gespräch in
Bezug auf einen neuen Klinikaufenthalt. Da hat er nicht Unrecht. Er ist
niemand, der privat bleiben kann. Der bis zum Ende beim Scherben aufkehren helfen
kann. Wenn die Klinikzeit abgelaufen ist, dann stehe ich alleine auf meinem
Weg. Ich brauche mindestens einen Menschen im privaten Umfeld, der den Weg
mitgehen würde.
Bisweilen fühlt sich das an, wie eine
lebensbedrohliche Krankheit, die da zwischen den Hirnwindungen lauert. Wir
gehen auf der Grenze. Täglich. Hoffen, dass es irgendwie gut wird. Dass das
noch irgendwer sieht. Dass noch irgendjemand diese barfuß in einem dünnen Kleid
an den Klippen tanzende Mondkind ein paar Zentimeter weiter weg vom Abgrund
ziehen kann. Und warten gleichzeitig, dass ein Hauch von Wind zu viel das
Gleichgewicht stört und diesen Grenzgang für immer beendet.
Heute ist jedenfalls erstmal ganz viel Erinnern
angesagt. An die guten Momente der Klinik. Die Sicherheiten in einem kleinen,
dunklen Büro. Den Tee – Moment. Die Katzen – Momente. An ein winziges Bisschen
Leben zwischendurch, wenn der Kopf gerade gut versorgt war.
Vielleicht ist das alles, was am Ende bleibt.
Mondkind
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