Zwischen Mondkind und Mondkind - Kind
Es ist Wahnsinn, was da so auf der Arbeit passiert. Wirklich.
Nicht nur, dass ich mittlerweile merke, dass die Konzentration quasi non –
stop arbeiten nicht so cool findet. Es passieren die ersten Fehler. Alle mit
glimpflichen Ausgang; aber mit ein bisschen Hirn beim Arbeiten wäre das nicht
passiert. Und dennoch ist man ja der Auffassung, dass ich zu wenig mache.
Auch das Patientengut ist im Moment… - schwierig. Erst heute gab es
wieder einen erstklassigen Fall von "Nee, mit einer Assistenzärztin muss
man ja nicht reden... – das macht ja nichts, da ein bisschen zu schummeln, wenn
es unangenehm wird…“ „Mondkind, ich hatte gerade ein langes Telefonat mit der
Mutter der Patientin…“, leitete der Oberarzt am Telefon ein. Am Ende blieb mir
nur ein „Ich schwöre, dass sie mir das so nicht erzählt hat“, was sich wohl
ziemlich dünn anhört. Und… - ich musste den Brief komplett umschreiben. Macht
ja gar nicht, wenn es 14 Uhr ist und man noch keine von den Neuaufnahmen
gesehen hat.
Der nächste Patient hat sich zum zweiten Mal das Video – EEG abgebaut.
Tagelang waren die Dateien verschollen und wir dachten, dass er es sich
aufgrund des Rauchens abgebaut und vergessen hat, es wieder dran zu stecken –
wie es schon das erste Mal passiert ist. Jetzt konnten wir sehen: Er hatte
einen epileptischen Anfall und war danach so desorientiert, dass er nicht mehr
wusste, wie man sich diskonnektiert. Deshalb hat er sich dann eben in der
Verzweiflung die Kabel vom Kopf gezogen.
Der dritte Kandidat braucht morgen eine Lumbalpunktion bei seit 10 Jahren
bekannten Normaldruckhydrocephalus. Eine Shuntversorgung will er nicht und dass
die Punktion einer degenerativ veränderten Wirbelsäule, in die seit Jahren
regelmäßig gestochen wird schwierig ist, schiebt er auf die ausländischen
Ärzte. Deswegen muss ich es jetzt mit meiner wahnsinnig großen Erfahrung morgen
machen, ich bin eine der einzigen Deutschen dort. Na herzlichen Glückwunsch. (Dass
man solche Sonderwünsche überhaupt zulässt und die Leute nicht hochkant aus der
Klinik schmeißt… aber das ist nicht
meine Entscheidung).
„Komm Mondkind – Kind, setz Dich mal aufs Sofa…“
Und dann sitzt es da. Im Schneidersitz. Geflochtenen Zöpfen. Und starrt
aus dem Fenster.
„Wie geht es Dir…?“
„Naja… - wie soll es mir gehen…? Wie würde es Dir gehen, wenn Du das 723.
Mal hörst, dass Du einfach nicht in das Leben eines anderen Menschen passt?
Dass da einfach kein Platz ist…“
„Ach Mondkind – Kind…“
„Naja was denn? Im Grunde wiederholt sich dieselbe Geschichte immer und
immer wieder. Ich meine, ich bin auch nicht ganz doof. Ich weiß auch, dass da
zwischendurch gelegentlich kritische Aussagen gab, aber habe ich Tomaten auf
den Ohren oder Halluzinationen oder was weiß ich, oder hat er ernsthaft mal
irgendwann gefragt: „Sag mal Mondkind, gehst Du eigentlich gern wandern…?“ und
auf mein erstauntes „Ja, schon“, entgegnet, dass sich das vielleicht am
Wochenende mal einrichten ließe, oder ich mal zum Frühstück vorbei kommen
könnte. Wer kommt denn auf die Idee so etwas zu sagen, wenn er nie vorhatte,
das durchzuziehen? Das ist doch wie der Papa… - der einst sagte: „Oh Kinder, im
neuen Jahr bin ich wieder für Euch da. Nur im Moment bin ich so sehr mit
stressigen Projekten beschäftigt, dass ich ständig auf Geschäftsreise bin.“ Und
im neuen Jahr waren Mama und Papa getrennt und wir haben Papa einfach gar nicht
mehr gesehen… Ich meine… - warum denkt jeder, dass so eine Mondkind - Kind – Seele halt irgendwie nicht wichtig
ist…?“
„Es tut mir leid, Mondkind – Kind…“
„Das ändert aber nichts. Also… - Du änderst nichts…“
„Ich gebe mir Mühe, das merkst Du hoffentlich. Ich kann Dir nicht das
geben, das Du brauchst. Aber ich habe versucht Dir ein Umfeld zu schaffen, das
Dir das geben kann…“
„Und bist grandios daran gescheitert…“
„… was dezent übertrieben ist…“
„Ist es nicht. Das betrifft nicht nur die potentielle Bezugsperson,
sondern auch den Job. Mondkind, das wusstest Du seit dem ersten Tag im Studium,
dass das echt nicht Deins ist. Und ich weiß, wie Du damals gefragt hast, was Du
machen sollst, wenn dieses Gefühl bleibt. Und jetzt haben wir hier den Salat.
Ernsthaft – das macht niemanden glücklich hier. Du bist unzufrieden, weil Du
das Gefühl hast, den Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Weil Du 12 Stunden am
Tag in dieser Klinik hängst, für nichts und niemanden mehr Zeit hast – nicht mal
für Dich selbst und trotzdem nur kritisiert wird, dass Du zu wenig tust. Und
ich bin unzufrieden, weil wir kein Leben haben. Weil wir dieses Leben für das
der anderen aufgeben, bevor wir je eins gehabt haben. Und weil das ja auch
irgendwie so gut passt – bis auf dezente Wutausbrüche, von denen Du natürlich
aufpasst, dass die keiner mitbekommt: Wenn wir schon kein Leben haben, können
wir ja wenigstens das der anderen retten oder was da die Idee ist – ich weiß es
nicht.“
„Weißt Du Mondkind – Kind… - wenn ich die Zeit zurück drehen könnte und
so reflektiert wie ich heute bin, mit den Menschen damals reden könnte, dann
würde ich sie fragen, was sie sich so dabei denken. Wieso man für die Eltern
plötzlich nur noch wertvoll war, wenn man gut in der Schule war. Was das bringen
soll, bei jeder schlechten Note ein Katastrophenszenario zu erstellen, bei dem
man definitiv „unter der Brücke“ landet. Wieso sie uns nicht auch bei einer
schlechten Note mal in den Arm nehmen und sagen konnten, dass es auch wieder
besser laufen wird. Wieso man da mit Tonnen von emotionaler Last nach Hause
laufen musste und vor nichts mehr Angst hatte als dem Moment, in dem nach der
Klausur gefragt wird. Wieso man das Kind sein musste, das sie wollten und nicht
das, das man war. Wieso es unbedingt dieses Studium sein musste, wo uns doch
nach dem Abi die Welt zu Füßen lag. Wir hätten fast alles machen können, das
wir gewollt hätten.
Heute würde ich fragen, warum man da so eine Geschwisterrivalität erzeugt
hat. Warum selbst bei gleicher Note noch auf die Punktzahl geschaut wurde. Was
dann dazu führte, dass wir uns gegenseitig die Lernsachen versteckt haben.
Einfach, damit man bessere Chancen auf die Zuneigung der Eltern hatte. Und
wieso wir uns damit den Weg verbaut haben, Hand in Hand durchs Leben zu gehen.
Ich weiß nicht, von wann es das letzte gemeinsame Foto gibt, auf dem wir uns an
die Hand genommen haben. Und manchmal… - da fühle ich immer noch die
Zwillingsband zwischen uns. Und wünsche mir, dass sie jetzt sofort und
augenblicklich hier ist.
Aber Mondkind – Kind, wir können die Zeit nicht zurück drehen. Wir können
nicht ändern, was gewesen ist. Wir können die Erfahrungen nur überschreiben.
Durch bessere Erfahrungen.“
„Was ja nicht geklappt hat, mit der potentiellen Bezugsperson…“
„Das hätte ich nicht erwartet. Wirklich nicht. Nachdem er die Geschichte
doch kennt. Weiß, wie wichtig neue, positivere Erfahrungen sind. Vielleicht
hätte ich Dich auch davor schützen müssen…“
Mondkind – Kind sitzt im Schneidersitz. Starrt immer noch raus. Auf die
Wolken, die mittlerweile durch den Sonnenuntergang rot gefärbt sind. „Weißt Du
was… - ich wäre so gern in der Zeit heute vor einem Jahr. Da war es nicht
schlimm, Mondkind – Kind sprechen zu lassen. Heute will das keiner mehr hören.
Das ist irgendwie unanständig. Man muss ja ach so erwachsen sein…“
„Wie sollen wir das denn organisatorisch hinkriegen…?“
„Ja ich kenne die Leier. Es geht sich zeitlich nicht aus, wir können
nicht den Job verlieren, weil wir ja unsere Brötchen verdienen müssen, Du hast
keine Kraft für noch einen Umzug, bla… - ich weiß…“
Lange Pause.
„Ich glaube ich gehe ins Bett Mondkind.“
„Mach das. Ich räume hier noch auf, dann komme ich auch. Vergiss Deinen
Tee nicht in der Küche, ja...?“
Und dann springt Mondkind – Kind auf, schlurft in der Küche vorbei und
anschließend in Richtung Schlafzimmer.
Mondkind
Bildquelle: Pixabay
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