Zwei wunderbare Patientenfälle
Irgendwie ist mir heute mal wieder danach, von zwei Fällen zu
berichten. Die beide wirklich schön waren.
Anfang der Woche wurde bei der Patientenverteilung berichtet, dass am
Wochenende eine junge Frau mit einem erstmaligen Krampfereignis gekommen ist,
das nun abgeklärt werden muss. „Den Fall nehme ich“, habe ich sofort gesagt,
denn ich soll ja Epilepsie lernen. (Naja, mittlerweile geht das alles irgendwie
ein bisschen unter und es macht zum Leidwesen des Oberarztes aktuell fast jeder
auf unserer Station Epilepsie).
Die Anamnese aus der Notaufnahme war relativ dürftig – was bei deren
Zeitmangel ja auch verständlich ist und sehr viel mehr, als dass man eine
Bildgebung, sowie ein EEG angefertigt und die Patientin anschließend auf der
Station geparkt hatte, war noch nicht passiert.
Eines der wichtigsten Dinge bei der Epilepsie – Diagnostik ist die
Anamnese. Also ziehe ich mit meinem Klemmbrett unter dem Arm los und suche die
Patientin auf. Die ersten Fragen sind, an was sie sich selbst noch erinnern
kann von dem Anfall, ob sie irgendwelche Anzeichen gespürt hat, bevor es
passiert ist, ob so etwas schon mal vorgekommen ist. Sie sei wütend vorher
gewesen, erzählt sie. Auf meine Frage hin, ob das generell öfter passiere und
woher die Wut komme, finden wir den Einstieg in die Geschichte dahinter. Sie
berichtet von multiplen psychosozialen Belastungsfaktoren, die allesamt dazu
führen, dass sie schon mal wütend werde. Aber hauptsächlich sei sie einfach
sehr unglücklich mit ihrer Situation, sowohl privat als auch beruflich. Sie
habe die Freude an den Dingen verloren, könne sich zu fast nichts mehr
aufraffen, sich nicht mehr konzentrieren, auf der Arbeit unterliefen ihr
ständig Fehler. Nach und nach sinkt sie immer mehr vor mir zusammen, weint viel
beim Sprechen und irgendwann ist auch Jemandem, der von der Materie keine
Ahnung hat klar, dass die junge Frau stockdepressiv ist.
„Manchmal, wenn die Psyche zu überfordert ist, dann schaltet sie sich
ab. Und dann können solche Anfälle passieren“, erklärt der Oberarzt ihr später.
Aus meinem Epilepsie – Fall wird nichts und stattdessen versorge ich
den nächsten Psycho – Fall. Durch unsere Epilepsie – Diagnostik drehen wir sie
natürlich trotzdem, denn sauber ausschließen müssen wir es. Gleichzeitig melde
ich ihr ein psychosomatisches Konsil an.
Nachdem sie mir einmal so viel erzählt hat, kommen auch die Ängste und
Sorgen. „Was ist denn, wenn ich mich nie wieder konzentrieren kann? Ich kann
nicht mal mein Buch lesen…“, erklärt sie – und weint schon wieder. Ich erkläre
ihr, dass ich mir vorstellen kann, dass das ganz furchteinflößend ist, weil man
so viel möchte und es gerade nicht schafft. („Es ist absolut genau so“, wirft
sie ein) Und auch gerade das Gefühl hat, dass es nie wieder besser wird. Aber
in dem Fall ist das wirklich ein Symptom der Krankheit. Und es wird besser
werden – ganz sicher. Aber man muss der Sache Zeit geben.
Nach dem psychosomatischen Konsil – im Rahmen dessen der Patientin
eine Depression bescheinigt wurde, sowie dringend eine stationäre Aufnahme
empfohlen wurde – steht sie wieder vor mir. „Also ich wollte in dem Gespräch
erstmal keine Aufnahme. Irgendwie hat mir das Angst gemacht. Denn natürlich wird
man da auch sehr stigmatisiert. Aber irgendwie glaube ich, dass ich das doch
nicht alleine schaffe…“
Ich setze mich nochmal mit ihr. Erkläre, dass das Klima unter den
Patienten meist nicht stigmatisierend, sondern sehr wertschätzend wahrgenommen
wird. Natürlich ist das eine berechtigte Sorge vom Außen stigmatisiert zu
werden. Da gibt es in der Klinik aber sicher auch Unterstützung, wie man mit
Angehörigen, Freunden und allgemein mit der Erkrankung in der Gesellschaft
umgehen kann.
„Meinen Sie, ich soll doch in die Psychosomatik gehen…?“, fragt sie. „Naja,
das ist Ihre Entscheidung“, gebe ich zurück und spüre fast den Schmerz, den
dieser Satz auslöst. „Ja, aber wie entscheidet man das denn?“, fragt sie. „Das
ist auch ein Symptom der Erkrankung – man kann sich schlecht entscheiden, was
es natürlich schwierig macht…“, gebe ich zurück. Wir schweigen eine Weile. „Sie
könnten eine pro- und contra – Liste schreiben“, schlage ich vor. „Das hilft
manchmal, wenn man die Argumente vor sich sieht…“ „Und wo fange ich da an…?“,
fragt sie. Ganz kurz denke ich an die Uhr. Und wie spät es schon wieder ist. Und,
dass ich nach Hause sollte. Und dann denke ich an mich. Und wie sehr ich mir
gewünscht hätte, dass das einer mit mir gemacht hätte. „Sollen wir mal zusammen
anfangen…?“, frage ich. Sie nickt dankbar. Ich nehme einen neuen, weißen
Zettel von meinem Klemmbrett, schreibe „pro“ und „contra“ auf, ziehe ein paar
Striche und lege den Zettel zwischen uns. „Jetzt fangen Sie an…“, sage ich und
gebe ihr den Stift in die Hand. Sie braucht noch ein bisschen Ermutigung, fragt
mich, ob sie mit „pro“ oder „contra“ anfangen soll und dann werden zaghaft die
ersten Worte geschrieben. Ich mache mir noch eine Weile mit ihr Gedanken,
schlage auch vor, dass man die Argumente mit Punkten zwischen 1 und 3 gewichtet,
damit man eine bessere Quantifizierung erreicht. „Jetzt sind wir ja schon ganz
schön weit. Aber vielleicht haben Sie noch ein paar sehr private Gründe, oder
Ihnen fällt noch etwas ein im Verlauf des Abends. Ich lasse Sie jetzt mal
alleine und wir sprechen morgen früh nochmal darüber, in Ordnung?“
Am nächsten Morgen schaue ich wieder bei ihr vorbei. Sie hat sich für
die Klinik entschieden. Also muss ich wieder in der Psychosomatik anrufen. „Naja,
das Konsil ist abgeschlossen, jetzt müssen Sie das über den Hausarzt machen…“,
erklärt die Sekretärin. „Okay und wie lange sind bei Ihnen die Wartezeiten im
Moment…?“, frage ich. Das komme natürlich ein bisschen darauf an, wann der
Hausarzt jetzt die Einweisung veranlasse, erklärt mir die Sekretärin. Eventuell
ginge es schon in der nächsten Woche. „Okay, ich schlage Folgendes vor: Ich schicke
die Patientin morgen zum Hausarzt, schreibe natürlich alles in den Brief, damit
der Hausarzt weiß, was er machen soll. Und Sie vermerken die Patientin schon
mal bei Ihnen – dann muss sie nur noch ein Mal anrufen, aber dann läuft das im
Hintergrund schon“, erkläre ich. Darauf lässt die Sekretärin sich ein.
Im Anschluss informiere ich die Patientin, lasse im Brief eine
Dringlichkeit der ganzen Sache durchblicken und führe dann das
Abschlussgespräch. Sie ist wahnsinnig dankbar und irgendwie bin ich auch sehr
glücklich damit, wie das alles gelaufen ist. Ich habe das dem Seelsorger immer
nicht so richtig geglaubt, aber irgendwie gibt es einem tatsächlich etwas, wenn
man für andere die Person sein kann, die man sich selbst so sehr wünscht. Das
tut auch sehr weh irgendwo. Aber vielleicht hat man doch ein bisschen Leid
eingespart.
Die zweite Patientin ist eine Schmerzpatientin. Ursprünglich war ich
gar nicht so glücklich sie bekommen zu haben, denn sie ist auch eine ärztliche
Kollegin – wenn auch aus einer anderen Fachrichtung. Und natürlich hat sie mir
jahrelange klinische und praktische Erfahrung voraus. Ich bin immer ein
bisschen angespannt bei ihr, auch wenn ich versuche, das nicht durchblicken zu
lassen. Aber natürlich schaut sie mir genau auf die Finger.
Heute Nachmittag war ich mit dem Chef nochmal bei ihr. „Das habe ich
heute Morgen schon mit Ihrer jungen Kollegin besprochen…“, merkt sie an
irgendeiner Stelle im Gespräch an. „Da haben Sie sich übrigens eine sehr liebe
und fähige Assistenzärztin an Land gezogen…“, sagt sie zum Chef. Ich glaube,
ich werde dezent rot unter meiner Maske. „Ja die Frau Mondkind ist eigentlich
schon lange Teil des Krankenhauses“, beginnt der Chef. „Sie hat bei uns
schon vor Jahren famuliert und dann hat sie ihr PJ hier gemacht und schon da
war klar, dass wir sie hier brauchen. Und jetzt ist sie schon ein ganz fester
Teil vom Team hier und gehört auf jeden Fall zu unserer Neuro - Familie. Sie
macht ihre Sache sehr gut und wird eine hervorragende Neurologin…“ Ich weiß
nicht, ob ich da eventuell eine Träne im Auge habe. Und vor allen Dingen weiß
ich nicht, was ich sagen soll. Ich bedanke mich erstmal beim Chef.
„Jetzt habe ich Sie so gelobt, das glaubt sie uns gar nicht“, sagt der
Chef, als er die Tür hinter sich zuzieht. Balsam für die Seele. Ich weiß nicht,
warum man so viel von mir hält, ehrlich gesagt. Ich bin eben erst im ersten
Jahr; ich kann so manches noch nicht, was die Kollegen mit links machen. Aber
es ist schön, auch wenn ich es glaube ich noch lernen muss, das für mich auch
anzunehmen.
Aber wir sind echt gerade ein ganz gutes Team auf der Arbeit. Ein
erfahrener Kollege fragt mindestens ein Mal am Tag, ob ich eine Frage habe und
hält mich immer wieder an, mit Problemen zu ihm zu kommen. Und eine andere
Kollegin hat mir einen Sprüchekalender mitgebracht und auf den Platz gestellt.
Wenn ich gerade beim Patienten bin, dreht sie da gern mal dran herum und wenn
ich wieder komme habe ich einen neuen Spruch neben meinem Bildschirm.
Und ansonsten warte ich auf Mails. Vom Herrn Therapeuten, um mit ihm
nochmal zu besprechen, ob es nicht ein einheitliches Aufnahmeprocedere gibt.
Das ist ja schon ein bisschen komisch, dass man komplett unterschiedliche
Aussagen von der Pflege bekommt, je nachdem, wen man da in der Leitung hat. Es
gab schon die Aussage, dass ich – wenn es ganz akut wird – eben über die
Notaufnahme kommen soll und dann übergangsweise bis ein Bett frei wird auf eine
andere Station gehe. Das ist natürlich nicht so elegant, aber als
Notfallkonzept war die Option sehr beruhigend. Da war nicht die Rede davon,
dass ich definitiv ein Vorgespräch führen muss zu dem ich auch definitiv
persönlich erscheinen muss – auch wenn das eben gerade unmachbar ist. Da war
zwischenzeitlich mal sehr viel mehr Menschlichkeit als gestern, wo man sehr auf
die strikte Einhaltung von Abläufen aus war und gar nicht bereit war,
individuelle Lösungen zu finden. Ich möchte überhaupt nicht bevorteilt werden,
aber wieso scheint es diese Lösung jetzt gar nicht mehr zu geben, wo es eben
doch langsam akut wird? Vielleicht weiß da auch nicht jeder über alle
Möglichkeiten Bescheid – ich glaube, die Pflegerin die ich gestern an der
Strippe hatte, ist nicht oft da. Das Einfachste wäre, wenn ich es mal mit dem Stationsarzt
besprechen könnte. Es beschäftigt mich einfach ziemlich und gerade weil ich ja
so unsicher mit der Situation und meiner Entscheidung bin, macht es diese
Inkohärenz in den Aussagen jetzt absolut nicht besser. Mal scheint es zumindest
ein rettendes Ufer zu geben, zu dem ich mich Millimeter für Millimeter
vorarbeite und nach dem gestrigen Telefonat habe ich jetzt erstmal das Gefühl, dass
ich da völlig verloren auf dem Meer schwimme und es bis zum rettenden Ufer gar
nicht mehr schaffen kann.
Und auf die potentielle Bezugsperson warte ich auch noch. Die – so wie
ich es mit meiner Patientin getan habe – mit mir mal eine pro- und contra –
Liste schreiben wollte. Seit über einem Monat schon. Und manchmal – und vielleicht
ist das dabei der Punkt, der irgendwo auch weh tut – bin ich auch einfach nur
eine anstrengende Patientin. Die sich selbst nicht mal erlauben kann „pro –
Argumente“ hinsichtlich Klinik auf eine Liste zu schreiben. Sehr albern, aber
man kommt nicht raus aus seiner Haut. Obwohl man doch weiß wie es geht. Anderen
so sehr eine Stütze sein kann. Weil man eben genau weiß, was es da braucht. Man
erlebt es ja selbst. Jeden Tag. Und manchmal… - kann man einfach sehr viel
Warten, Hoffen und Verzweifeln ersparen. Und vielleicht lohnt sich genau dafür
dieser Job.
Mondkind
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