Worte fürs Herz
Sonntagmorgen. Halb fünf. Schlafen ist so gar nicht meins in letzter
Zeit.
Nachdem ich mich noch eine Weile im Bett herum gewälzt habe, gebe ich
es auf.
Gehe ins Wohnzimmer. Setze mich aufs Sofa. Lese ein bisschen quer. Ich
versuche aus allem was passiert ist in den letzten Jahren zwischen der
Bezugsperson und mir abzuleiten, was ich Sinnvolles im Gespräch nächste Woche
sagen könnte. Was mir da wichtig ist. Und um vielleicht abzuschätzen, wie er
reagiert.
Es gab immer wieder so Situationen, in denen seine Worte mitten ins
Herz getroffen haben. Schematherapeutisch alle Kinder an die Hand genommen
haben. Und es für einen Augenblick ganz still war.
Dezember 2018.
Ich auf dem grünen Stuhl, er übereck. Kurz, bevor ich
zurück in die Studienstadt gefahren bin. Es war eine ganz schwere Zeit für
mich. Der Gedanke, die potentielle Bezugsperson erstmal wieder zu verlieren.
Weil das der Lauf der Dinge war. Weil ich zu Ende studieren musste. Und damals
wusste auch noch keiner, ob ich je wieder komme. Ob ich die Chirurgie
überstehe. Das Examen. Mich für den Ort hier entscheide.
Auch war damals nicht klar, ob meine ambulante Therapeutin noch
weiterhin für mich da sein kann. Sie wollte das eigentlich nicht machen. Und
dann wäre ich zurück in die Studienstadt gegangen und hätte gar keine
therapeutische Unterstützung mehr gehabt. Und das, wo ich wenige Tage zuvor mit
dem emotionalen Chaos so schlecht zurecht gekommen war, dass mich eine weniger
intelligente Aktion einen Tag komplett arbeitsunfähig zurück gelassen hat und
danach war ich auch noch ein paar Tage etwas Matsche im Kopf.
Wir haben damals lange geschwiegen. Auf unsere Hände geschaut. Es gab
nichts zu sagen. Die Situation war bescheiden. „Mondkind“, hat er irgendwann
gesagt, „ich sehe Dich. Und das ist wirklich nicht nötig, im Januar
irgendwelche unüberlegten Aktionen zu bringen, damit man Dich wahr und ernst
nimmt…“
Erst war ich über den Kommentar ein wenig ärgerlich. Weil er mir damit
indirekt unterstellt hat, „unüberlegte Aktionen“ nur aus einem Mangel an
Aufmerksamkeit zu tätigen und das mag auch mal ein Gedanke sein – das kann ich
nicht abstreiten. Aber in der Akutsituation selbst ist es dann doch eher so,
dass es aus großer emotionaler Not heraus passiert und sich der Kopf bis dahin
ohnehin längst verabschiedet hat.
Aber was mich bis heute berührt ist: „Ich sehe Dich.“ Und damit meinte
er nicht meine physische Gestalt. Damit meinte er: „Ich habe den Boden Deiner
Seele gesehen. Und ich weiß, dass es schwierig wird. Aber versuche es einfach…“
Übrigens war das tatsächlich der Abend, an dem ich mich entschieden
habe mich, wenn ich dann im Januar wieder in der Studienstadt sein würde, nicht
umzubringen.
Juni 2019. Psychiatrie.
Die potentielle Bezugsperson war einer der einzigen Menschen, der zu
dem Zeitpunkt überhaupt wusste, wo ich war. Und einer der ganz wenigen Menschen
gewesen, der diesen Psychiatrie – Plan unterstützt hatte. Das war schon seit
Herbst 2018 „unser“ Plan. Erst irgendwie das Examen schaffen, dann Psychiatrie
und dann Job. Letzteres dann stabiler und mit klarem Kopf.
Er war sogar derjenige, der ermahnt hatte, nicht zu früh anzufangen,
eine Wohnung zu suchen. Und der appelliert hatte, die Klinik nicht einzustreichen,
weil vermeintlich keine Zeit ist.
Ehrlich gesagt habe ich an die ersten Wochen dort mittlerweile kaum
noch Erinnerungen, vermutlich, weil ich so am Ende war – da bin ich meinem Tagebuch sehr dankbar. Es war wohl ein
sehr schwieriger Start. Hauptsächlich, weil die Oberärztin der Meinung war,
mich schnellstmöglich in die Tagesklinik stecken zu wollen, ich das Gefühl
hatte, dass ich keine Berechtigung hatte dort zu sein und man mich überhaupt
nicht ernst genommen hat. Obwohl ich versucht habe, auf den Fragebögen ehrlich
zu sein und auch in den Therapien versucht habe, offen mit meinen Themen
umzugehen. Und auch, weil meine Eltern nicht Bescheid wussten. Und ich
befürchtete, dass die Situation vollkommen eskalieren würde, wenn ich sie
darüber in Kenntnis setze.
Natürlich war er dann auch derjenige, der in abendlichen Telefonaten
den ganzen Unmut abbekommen hat. Der dann irgendwie überzeugen musste, dass ich
erstmal noch dableiben soll. Vielleicht mal mit dem Chefpsychologen rede.
Oder auf eine andere Station gehe. Oder – wenn es gar nicht geht – die
Klinik wechseln soll.
Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich auf der Stahltreppe saß,
die von der Dachterrasse der Klinik aus hinunter auf die Wiese führte. Es war
abends kurz nach halb 6 Uhr, die Sonne hat noch geschienen, es war noch warm.
Das Telefonat war noch nicht allzu lang gewesen, ich hatte bis dahin nur
erzählt, dass gerade eine Menge Therapien wegen Urlaub und Feiertagen ausfallen
und ich mich in den Verbleibenden nicht ernst genommen fühle.
„Sag mal Mondkind…“, hat er plötzlich mit einer eigenartigen Strenge
in der Stimme losgelegt, „Ist dem Personal dort und Deinen Eltern überhaupt
klar, dass Du – korrigiere mich, wenn ich falsch liege – am Tag bestimmt 20 Mal
darüber nachdenkst, wie Du Dich umbringst…?“
Ich weiß noch, wie ich mich danach erstmal gegen den Treppenpfosten
hinter mir gelehnt habe, den kalten Stahl im Rücken gespürt habe, die Augen
geschlossen und trotzdem gespürt habe, wie die Tränen aus den Augenwinkeln fließen.
Ich hatte das Thema Suizidalität bei ihm seit Längerem gar nicht mehr angesprochen.
Aber es war dauerpräsent. Seit dem Examen bis zum heutigen Tage wache ich damit
auf und gehe damit schlafen.
Und da hatte es Jemand über 400 Kilometer Distanz geschafft, einfach
so durch mich hindurch zu sehen. Genau das festzustellen, das zu dem Zeitpunkt
keiner um mich herum erfasst hatte. Und für einen Augenblick hat es unfassbar
weh getan und war gleichzeitig ganz still. Wir wurden gesehen. Nicht von den
Leuten, von denen das zu dem Zeitpunkt nötig gewesen wäre. Aber von der
potentiellen Bezugsperson.
Schreibseln in der Psychiatrie... |
Ganz und gar nicht passen diese Aussagen mit seinem gelegentlich
postulierten: „Mondkind, eigentlich bist Du gar nicht krank…“ zusammen. Und der
jetzigen Überzeugung, dass die Psychiatrie für mich der falsche Ort ist.
Und manchmal, wenn ich so genau drüber nachdenke, steckt da vielleicht
auch etwas ganz anderes dahinter. Wenn ich mir so sein „Natürlich hoffe ich,
dass Du Dich trotzdem entscheidest hier zu bleiben“, ins Gedächtnis rufe,
nachdem er zuvor gesagt hat, dass ich arbeiten kann, wo ich will. Ob nun in der
Studienstadt oder in Schweden.
Vielleicht haben wir einfach beide Angst. Dass Bemühen am Ende nicht
reicht. Dass er den Schmerz zwar für den Moment tatsächlich fast ganz weg
nehmen kann, aber dass er das Fundament dieser brüchigen Pyramide auch nicht
stopfen kann. Was mich so verzweifeln lässt ist, dass ich das von den „echten
Bezugspersonen“ nie erlebt habe, aufgrund meiner Person akzeptiert zu werden.
Deswegen glaube ich immer den Erwartungen entsprechen zu müssen, Jemand sein zu
müssen, der ich nicht bin, um akzeptiert zu werden. (Und ob man es nun zugibt
oder nicht, aber akzeptiert und geliebt werden möchte Jeder). Und auch die
potentielle Bezugsperson kann die Vergangenheit nicht ändern. Die Anteile, die
von der „Lebenspyramide“ schon gelebt wurden, stehen dort. Können nicht mehr
umgebaut werden. Man kann nur versuchen, sie ab jetzt so stabil wie möglich zu
bauen. Ich kann mich bemühen, mich jetzt darauf zu konzentrieren, dass Menschen
auch anders sein können. Dass ich trotzdem akzeptiert werden kann auch wenn -
oder gerade wenn – ich meine eigenen Entscheidungen treffe.
Und vielleicht sind seine ambivalenten Aussagen damit zu erklären,
dass wir beide nicht wissen, wie und ob wir das hinkriegen können. Und
vielleicht auch, ob ich das überleben kann, wenn da täglich so viel
Verzweiflung ist. Und vielleicht hat er auch einfach genauso viel Angst wie
ich, dass mich die Psychiatrie den Job kostet. Und der Plan in einem geschützten
Umfeld zur Ruhe zu kommen, dann natürlich auch nicht mehr klappt…
***
Übrigens habe ich heute tatsächlich schon mal ein paar Stunden EEG
ausgewertet.
Und sonntags… - darf man das auch mit Musik auf den Ohren tun…
Jetzt versuche ich mal noch zumindest ein bisschen Energie zu tanken für all das, was da ab morgen wieder auf uns wartet...
Es ging sogar besser, als ich dachte... |
Mondkind
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