Der altbekannte Wahnsinn... - oder doch nicht?


Erste Seite eines neuen Kapitels. Und wie sehr ich hoffe, dass wir endlich mal ein gutes Kapitel schreiben.

Gestern Abend hatte mich noch eine Kollegin darüber informiert, dass ich heute um neun Uhr in der Früh beim Chef im Büro stehen soll. Termine beim Chef per Flurfunk… - na super. Allerdings hatte ich dann auch Zeit mir um die Fragen die kommen werden, ein paar Gedanken zu machen.

Montag. Frühs. Der erste Arbeitstag. Es war eine kurze Nacht und heute früh reißt mich tatsächlich der Wecker aus dem Schlaf. Wie lange habe ich den schon nicht mehr gehört… ? ich bin noch etwas skeptisch mit der neuen Schlafmedikation, aber es scheint doch ein bisschen zu funktionieren. Besserer Schlaf, ohne sich völlig überfahren zu fühlen, wenn ich aufwache.
Es ist fast so, als hätte ich nie etwas anderes getan. Aufstehen. Mit der Kaffeemaschine kämpfen. Schnell ein bisschen Skyr und zermatschte Banane zusammen rühren. Sich kurz vor dem Laptop setzen. Mails abrufen. Einen Blick in den Blog werfen. Ins Bad schlurfen, anziehen, Tasche packen, Fahrrad aus dem Keller holen und dann geht es in empfindlicher Kühle los.

Die erste, die ich an diesem Morgen treffe, ist die Arzthelferin. Sie nimmt mich erstmal fest in den Arm. Danach trudeln auch zwei andere Kollegen ein, die sich nach ihrem Bekunden freuen mich wieder zu sehen und erstmal fragen, ob es mir besser geht und ob ich die Ereignisse nun schon ein wenig verarbeiten konnte.
Viertel vor acht. Die ersten Patienten zum Blutabnehmen und Zugang legen warten im Blutabnahmezimmer. Und obwohl zwei ältere Damen schlechte Venen haben, schaffe ich alles im ersten Anlauf. Vielleicht kann man das irgendwann wirklich. In den Famulaturen habe ich das gefühlt jedes halbe Jahr von vorn gelernt – dementsprechend hatte ich nach der langen Pause etwas Angst davor.
Außer mir hätten heute theoretisch noch vier weitere Kollegen erscheinen sollen. Aber es bleibt auch nach der Blutabnahme noch bei den beiden, die ich schon gesehen hatte. Und dann… - trudeln zwei Krankmeldungen ein. Und so schnell stehen wir im altbekannten Wahnsinn. Eine bis zum letzten Platz belegte Station und nur knapp die Hälfte des Teams.
Ich rufe erstmal die Sekretärin vom Chef an und frage, ob ich wirklich um neun Uhr bei ihm sein muss. „Ja Mondkind, er wartet auf Dich. Und wenn er noch nicht da bist wenn Du kommst, soll ich Dir einen Kaffee anbieten…“ Ich schaue auf die Uhr. Acht Minuten. „Na dann sollte ich wohl mal rüber traben – bis gleich…“, sage ich und versenke das Diensttelefon in der Tasche des Kasacks.
Während ich unterwegs zwischen den Gebäuden bin, reflektiere ich schon mal kurz. Ich spüre die Rolle an mir. Die der Ärztin. Die kurz Smalltalk mit den Patienten beim Blutabnehmen hält, mit den Kollegen lacht. Man bescheinigt mir, viel besser auszusehen. Die Funktionsmondkind scheint sich gut zu machen.
Bei der Sekretärin muss ich noch kurz warten und dann tauchen der Chef und die potentielle Bezugsperson aka des Oberarztes zusammen auf. Ich bin mir unsicher, wie ich jetzt den Oberarzt begrüßen soll, aber er nimmt mich dann einfach mal in den Arm. Ich weiß es nicht… - was er hier für eine Rolle spielt, in der Geschichte. Also hassen kann er mich nicht – trotz der Mails, dann hätte man die Begrüßung deutlich distanzierter gestaltet.
Der Chef nimmt mich mit rüber in sein Büro. Wir einigen uns, dass ich erstmal auf meiner alten Station arbeiten darf, wenn ich das möchte und auch mit einem ganz normalen 8 – Stunden – Tag anfange. Zum Thema Dienste sagt er nichts; ich sage auch nichts – immerhin bin ich in einer denkbar schlechten Position. Als es um das Thema Medikamente und Weiterbehandlung geht, ruft er meinen Oberarzt dazu. Es wird vereinbart, dass der Chef versucht mich in der Psychosomatik unterzubringen. Da scheinbar absolut nichts ohne Vitamin B geht, wird auch das Rezeptproblem über den Chef gelöst. Kein Hausarzt bei uns nimmt mehr neue Patienten an… - es sei denn, der Chef ruft an.
Danach schleppt mich der Oberarzt noch kurz in sein Büro. „Also Mondkind mit der Entlassung gegen ärztlichen Rat nach dem ganzen Drama hier… - musste das sein…?“, fragt er. „Habe ich Ihnen das gesagt?“, frage ich etwas irritiert. Ich hatte in der Mail nur geschrieben, dass ich unter etwas komplizierten Umständen entlassen worden bin und deswegen bis Freitagnachmittag nicht in der Lage war zu sagen, ob ich Montag wieder da bin. Da war absichtlich so wenig Angriffsfläche wie möglich drin. Der Flurfunk hier funktioniert zuverlässiger als die Post…

„Mondkind, bist Du jetzt mal unterwegs zur Hausärztin?“, fragt eine Kollegin später. „Naja… - jetzt in der Arbeitszeit, wenn die Hälfte der Mannschaft fehlt…?“, frage ich. „Mondkind, da kenne ich keinen Spaß. Jetzt mache Dich auf, ehe der Hausarzt zu macht…“
Also bewege ich mich gegen Mittag erst zum Hausarzt und dann in die Apotheke, wo sie die Medikamente erstmal bestellen müssen.

Am Nachmittag durchforste ich meine circa 300 ungelesenen Mails, ergänze alle Briefe, die sich über die Wochen in meinem Fach gesammelt habe und trage sie ins Schreibbüro. Dann schaue ich mal in den Dienstplan. Aus den ersten Diensten bin ich mittlerweile tatsächlich raus genommen für diesen Monat, nachdem eine Kollegin eingeworfen hatte, dass es doch noch länger dauern könnte mit mir. Und der Stroke Dienst steht für übernächsten Sonntag drin; im Hintergrund mit „meinem“ Oberarzt. Das ist doch kein Zufall alles… - ich weiß es nicht.

Später soll ich noch eine Lumbalpunktion mit Druckmessung machen. Direkt am ersten Tag… - aber auch das klappt. Erstaunlicherweise. Als hätte ich diese lange Pause nie gehabt.
Als ich wieder komme, hat ein Kollege einen Kaffee auf meinen Schreibtisch gestellt. 


Und dann schaut kurz bevor ich nach Hause gehe einer unserer beiden Oberärzte vorbei. „Mondkind – wenn irgendetwas ist: Niederschwellig fragen…“, ermahnt er.

Und jetzt ist es so die Frage: Wird es wirklich der altbekannte Wahnsinn… - oder nicht? Ich bin heute ehrlich gesagt sehr erstaunt darüber gewesen, wie lieb man mich wieder aufgenommen hat. Dass man betont hat, dass ich wirklich im Team gefehlt hätte, dass man mich vermisse habe und alle sich glaube ich aufrichtig bemüht haben, mich ohne diesen Stempel und ohne Vorurteile, die ich befürchtet hatte, ins Team zu integrieren.
Zumindest aktuell scheint den meisten auch klar zu sein, dass mir noch eine Menge Kraft fehlt und dass ich nicht mit den 200 % weiter machen kann, wie es vorher war. Wenn ich unsere acht geplanten Aufnahmen für Mittwoch sehe, weiß ich nicht, wie lange das hält – aber ich spüre durch die Kollegen und den Chef schon auch Unterstützung. Jedenfalls würde ich das mal nicht für normal halten, dass der Chef mir mit seiner Position hilft einen Therapeuten zu finden.

Und während ich schnellen Schrittes durch den vierten Stock der Neuro rase auf der Suche nach einem Patienten, mit dem ich noch einen MOCA – Test machen muss und den Blick aus dem Fenster über die Landschaft schweifen lasse, fühle ich für einen ganz kurzen Augenblick diesen alten Zauber. Der es mal war. Zu Famulatur- und PJ – Zeiten. Der mich gelehrt hat, diesen Ort zu lieben und dafür zu kämpfen, hier sein zu dürfen. Wahrscheinlich ist das zwischen all der Angst vor dem Scheitern und all dem Perfektionismus verloren gegangen. Und ich spüre auch wie schön es sein kann, wieder die Seiten gewechselt zu haben. Diejenige zu sein, die helfen kann, Sicherheiten vermitteln und mittragen kann.
In diesem Moment glaube ich etwas zu fühlen, das man Glück nennt. Und das ist dieser Moment, von dem ich dem Freund gern am Abend berichtet hätte. Und in dem mir das klar wird, das ich letztens noch dem Ergotherapeuten erklärt habe: Es sind diese kleinen Momente von Glück, in denen das Fehlen groß wird.

Jetzt gerade sitze ich auf meinem Sofa. Frisch geduscht. Extrem erschöpft. Sehr dankbar. Mit einem ganz kleinem bisschen vorsichtiger Zuversicht. Aber auch mit sehr viel Angst. Ich fühle schon jetzt wieder, wie viel Kraft mir dieser Job rauben wird. Und vielleicht… - vielleicht ist es auch wirklich noch viel zu früh. Denn auch, dass ich die Rolle heute so gut spielen konnte lenkt nur wenig vom Drama der vergangenen Tage ab. Ich hoffe… - die Krankheit und ich können sich irgendwie arrangieren. Sie wird laut genug sein, damit ich sie sehe. Aber hoffentlich leise genug, um trotzdem zu leben.

Mondkind

Kommentare

  1. Bist du noch da? Gestern war Welttag der Suizidprävention...
    Mir geht es auch nicht gut, ich denke an dich.

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    1. Hey,
      Danke der Nachfrage. Ja, ich lebe noch...
      Es war eine super anstrengende Woche - von den zwei Stationsreformen, die es gegeben haben soll, merkt man bei Krankheit und Kündigung von einigen Kollegen, nichts mehr. Die Zuständigkeiten der Oberärzte waren auch noch nie so unklar. Ich stehe nach nur einer Woche zurück im Job mit mehr Patienten da, als ich jemals hatte - dementsprechend waren die Abende lang - ich komme einfach nur noch nach Hause und falle ins Bett.

      Und dann ist es auch irgendwie ein ständiges Schwanken des Gefühlslage. Von absoluter Verzweiflung, bis hin zu Dankbarkeit, überhaupt so einfach zurück in den Job zu können - ich habe viele Menschen kennen gelernt, die diese Option überhaupt nicht hatten.

      Eigentlich hatte ich gestern einen Beitrag aus dem Anlass des Suizidpräventionstags schreiben wollen - ich habe gestern auch viel an meinen Freund gedacht. Aber die kleinen, grauen Zellen wollten am späten Abend nicht mehr.

      Ich denke ich werde morgen, oder Sonntag ein absolut chaotisches Update schreiben.

      Dir gute Besserung und generell an alle Leser... - Haltet die Ohren steif; ich bemühe mich auch.

      Mondkind

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  2. Ich habe mir auch Sorgen gemacht und bin froh, dass du dich gemeldet hast. Ich wünsche dir gute Erholung!

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