Briefchen...


Hey mein lieber, bester Freund,
na, wie ist die Lage bei Dir so? Ich wünschte so sehr, Du könntest mir irgendetwas erzählen. Mir sagen, was Du jetzt siehst? Was Du jetzt spürst? Ob es Dir besser geht, dort wo Du jetzt bist? Ob Du mir böse bist? Dass ich Dich irgendwie nicht genug gesehen habe in diesem letzten Telefonat? Und weißt Du, was ich gern wissen würde: Ist unser Himmel immer noch derselbe? Sehe ich Dich, wenn ich abends in die Sterne schaue?

Ich bin wieder im Arbeitsleben angekommen. Ich würde Dir so gern erzählen, dass alle Lumbalpunktionen geklappt haben. Nach  über zwei Monaten Pause hat mich eine Kollegin zu einer Punktion dazu gerufen, die sie nicht geschafft hat. Ich hatte ja echt ein bisschen zittrige Finger, aber es hat geklappt. Ich war stolz wie Oskar, ich sag’s Dir.
Ich habe mir auch wieder die Epilepsie – Patienten unter den Nagel gerissen, obwohl ich noch gar nicht weiß, mit wem ich die betreue.
Ich glaube, ich sehe den Job jetzt ein bisschen anders. Ich bin dankbar, dass ich es wieder machen darf. Und am Ende… - kann das Leben im Moment sowieso kaum noch schlimmer werden. Was will ich denn noch verlieren? Und ehe ich abends mit Tränen in den Augen auf dem Boden meines Wintergartens liege, in die Sterne schaue und mich frage wo Du bist, kann ich auch EEGs auswerten. Ist wohl ne Frage der Perspektive, vermute ich.
Nächsten Sonntag haben der Neuro – Oberdoc und ich zusammen Dienst… - ich bin gespannt, ehrlich. Nach den vernichtenden Mails… - was das so wird… (Ich sehe Dich gerade vor meinem inneren Auge die Augen verdrehen… ;)  )

Ansonsten war ich gestern eine Runde im Park spazieren. Ist kaum auszuhalten ohne Dich am Telefon. Das Knirschen des Kieses unter den Füßen und Deine Stimme im Ohr waren eine beinahe untrennbare Kombination. Es gibt übrigens eine neue Bank. Die ist gebaut wie so ein Schaukelstuhl und ist so ausgerichtet, dass der Blick auf die Saalewiesen fällt. Ich schwöre Dir – das wäre unsere Telefonbank geworden.
Und… - die Bäume werden ganz langsam bunt. Kannst Du Dich noch erinnern, was ich letztes Jahr für hübsche Fotos von den bunten Bäumen unterwegs gemacht habe…? Ich hätte nicht gedacht, dass ich die jetzt nicht mehr teilen kann.

Ich weiß, Du hättest nicht gewollt, dass ich jetzt so lebe. Dass es so sehr weh tut. Dass die Kraft noch nie so sehr gefehlt hat. Dass es ein Wunder ist, dass ich jeden Tag aus dem Bett aufstehe. Obwohl das Leben ja jetzt wieder laufen muss.

Weißt Du, was neben der Traurigkeit, der Sehnsucht, den vielen Fragen irgendwie ganz besonders weh tut… ? Die soziale Isolation.
Ich habe jetzt über zwei Monate so gelebt, wie es für richtig gehalten wurde. Wobei ich rückblickend betrachtet nicht glaube, dass irgendwer das für richtig hält. Es ist nur einfacher, sich mit der „alten Mondkind“ zu beschäftigen, mit den alten Problemen, die jeder kennt, obwohl meine Augen, meine Worte, meine Körpersprache etwas ganz anderes vermitteln.
Mehr als zwei Monate später verstehe auch ich mal, dass ich einfach nichts muss. Und schon mal gar nicht das, was mir vorgeschrieben wird. Nämlich das alles als ein Randthema zu betrachten, nicht zu trauern, weil es ja „nur“ ein Freund war. Mich nicht damit auseinander zu setzen, obwohl es im Hintergrund Tag ein, Tag aus tickt. Ich glaube, deswegen konnte die Klinik auch nicht wirklich etwas nützen. Die Depressionen sind nicht weg, weil da jetzt Dein Suizid ist. Aber Dein Suizid hat alles andere in den Hintergrund gedrängt. Nur, dass das nicht gesellschaftsfähig ist. Dass Du nicht mehr gesellschaftsfähig bist.



Ich werde nicht umhin kommen, mich damit zu beschäftigen. Allerdings vermutlich anders, als das bisher der Fall war. Ich glaube, das nützt wenig, das mit Therapeuten durchzusprechen. Oder man klärt vorher mal eindeutig, dass es darum gehen soll. Ich bin irgendwie therapiemüde, muss ich sagen. Nachdem ich mir wochenlang den Mund fusselig geredet habe, dass Du gerade im Vordergrund meiner Welt stehst und man das nicht sehen wollte. Ich habe mich lange nicht damit beschäftigt, aber es gibt ganze Vereine, die sich mit den Hinterbliebenen von Menschen beschäftigen, die sich das Leben genommen haben. Das kann nicht so trivial sein, wie alle das gern hätten. Und auch wenn wir offiziell keine Beziehung hatten – was spätestens die Rechtfertigung für alle ist, dass es so schlimm nicht sein kann – warst Du der erste, beständigste und tief gehendste soziale Kontakt, den ich nach sehr langer Pause hatte. Vielleicht war es nicht die klassische Beziehungsebene, aber ich habe Dich wirklich geliebt. Ich hoffe, das hast Du gespürt.

Ich glaube, ich werde mir jetzt zumindest mal das ein oder andere Buch zum Thema bestellen. Vielleicht hilft das weiter. Weißt Du was… - ich habe Angst. Das ist ein Thema – mit dem werde ich vermutlich immer alleine bleiben. Das wird mich noch Jahre begleiten. Wird meine Sicht auf die Dinge für immer verändern. Und so gerne würde ich manchmal mein Gegenüber anbrüllen: „Kannst Du mir nicht ein Mal zuhören…?“ Aber das würde auch nichts nützen. Die Menschen hören zwei Sätze. Und urteilen.

Oh und weißt Du was… - es gibt ein neues Lied von Revolverheld. Ich glaube, es wäre nicht so unser Ohrwurm geworden. Da gibt es Songs, die besser zu uns gepasst haben. Es ist nur so unglaublich hart zu akzeptieren, dass die Welt sich weiter dreht. Dass es in diesen turbulenten Zeiten langsam wieder etwas Normalität gibt, alle ein wenig aufatmen und es in mir gefühlt immer enger wird.

Du fehlst hier. Unfassbar. Aber ich geb mir Mühe. Du würdest wollen, dass ich mein Leben lebe. Das weiß ich. Aber vielleicht lebe ich mein Leben gerade mehr, wenn ich Dir etwas Raum gebe. Weil sich das gerade richtig anfühlt. Und das ist okay.

Ich hab Dich lieb.
Mondkind


Bildquelle: Pixabay

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