Ausflug in die Bahnhofsstadt
Long time no see…
Heute war ich in der Stadt, die ich nach der
Studienstadt in den letzten Jahren sicher mit am häufigsten besucht habe. Nicht
in meinem Leben, da waren es ein paar andere. Aber, seitdem der Süden
Mittelpunkt meines Lebens geworden ist.
Heute geht es mit dem Auto am Hauptbahnhof
vorbei. Vor dem ich vor zwei, bald sind es schon drei Monate, gesessen habe.
Auf den Bus gewartet habe, der mich erstmal in die Studienstadt gebracht hat
und die einen Unterschlupf in diesem Schrecken geboten hat. Bis der Ort an dem
ich war in der Studienstadt selbst ein Ort des Schreckens geworden ist.
Ich sehe auf den Bahnhofsvorplatz. Den
Bürgersteig, auf dem ich immer saß. Mit dem Freund in der Leitung. Abends
irgendwann um kurz nach 23 Uhr. Er hat darauf bestanden so lange am Telefon zu
bleiben, bis ich endlich im Bus saß und wir uns wenige Stunden später in die
Arme schließen konnten in der Studienstadt.
Bahnhöfe. Ich glaube, das sind so Ort, wie
kaum Andere. An denen Wiedersehensfreude, Sehnsucht und Abschiedsschmerz ganz
eng beieinander liegen und ganz intensiv gespürt werden. Vielleicht ist es ein
bisschen die alte Schule, die wir da betrieben haben. Wer redet heute schon
noch von Flair auf Bahnhöfen? Aber wir hatten beide kein Auto. Keine
Möglichkeiten, mal schnell an einem Wochenende hin und her zu düsen. Diese
Momente waren kostbar. Sehr kostbar. Und niemals hätte ich geglaubt, dass es
das letzte Mal ist. Als ich damals, zum letzten Mal mit ihm in der Leitung, in
der Dunkelheit gesessen und auf den Bus gewartet habe.
Heute parken wir an der Festung. In den
Weinbergen. Laufen den Weg rückwärts, den wir damals durch die Stadt gelaufen
sind. Über DIE Brücke. Hinein in die Innenstadt.
Wahnsinn. Heute hier zu sein. Zu wissen,
dass das einer Deiner größten Wünsche war mit mir nochmal zusammen über diese
Brücke zu laufen. Und zu wissen, dass das nicht mehr geht. Dass wir nie wieder
Hand in Hand dort entlang laufen werden. Nie wieder durch die Stadt laufen und
nebenbei über Gott und die Welt reden werden. Nie wieder in einem der Cafés am
Straßenrand sitzen werden.
Wir gehen vorbei. An diesem Café, in dem wir
damals stundenlang saßen. Kaffee getrunken, gegessen und geredet haben.
Irgendwie ist uns ja nie der Gesprächsstoff ausgegangen.
Heute bin ich hier mit meiner Schwester
unterwegs. Und irgendwie… - ist es eine seltsame Ambivalenz. Es nützt nichts,
nur im Gestern zu bleiben. Ich sollte auch Momente im Heute genießen. Meine
Gedanken schweifen wieder zu jenem Gespräch mit dem Ergotherapeuten auf der
geschützten Station ab. Der erklärt hat, dass ich ihn irgendwann ein bisschen
loslassen muss und dass „loslassen“ nicht „vergessen“ bedeutet. Ich glaube, die
Schwierigkeit wird es sein, ihm einen neuen Platz in mir zu geben. An dem er
immer bleiben kann, an dem ich ihn immer bei mir habe. Und der doch nicht mehr
so überpräsent ist. Das tiefe innere Vertrauen in mich selbst, dass die neuen
Erfahrungen, die ich im heute mache, die Erlebnisse des Gestern nicht
entwerten. Dass er bis ans Ende meines Lebens immer ein Teil von mir bleiben
wird, immer ein Teil von meinem Herzen einnehmen wird.
Wie das gehen soll, weiß ich noch nicht. Ich
lese in jeder freien Minute fleißig meine Bücher und hoffe, dort Antworten zu
finden.
Während wir wieder auf dem Weg zum Auto
sind, kommt mir der Gedanke, dass es ein Wunder ist, dass ich noch stehe und
atme. Und versuche irgendwie weiter zu machen, irgendetwas suche, an dem ich
mich entlang hangeln kann, irgendetwas, das irgendwann nochmal Hoffnung geben
kann.
Wenn ich so zurück denke... - Mitte Juni.
Meine Idee war es immer, hier in der Ferne einen Menschen zu finden, der mir
noch einmal das vermitteln kann, das meine Eltern einfach aus verschiedensten
Gründen nicht konnten. Und das wollte er ja auch tun, die potentielle
Bezugsperson; das war vier Jahre lang unser beider Plan; zumindest glaubte ich
das. Und dann, so war meine Idee – wenn ich nicht in jedem Gegenüber einen
potentiellen Familienersatz sehe – kann das vielleicht mit der Beziehung etwas
werden. Wo der Freund doch der erste Mensch nach Jahren der Stille war, den ich
auf einer komplett horizontalen Ebene kennen gelernt habe.
Innerhalb von zwei Wochen habe ich zuerst
den Menschen verloren, der mir ein Gefühl von Familienrückhalt vermitteln
wollte und dann den Freund. Zuletzt die Klinik, die ich als Rettungsschirm
im Hintergrund glaubte. Das müsste mir jedenfalls nochmal Jemand erklären, was
diese Verlegung unter diesen Umständen sollte, um Jemals nochmal Vertrauen in
dieses Team zu gewinnen – abgesehen vom Herrn Kliniktherapeuten; dem würde ich
schon noch weiterhin nach einer kleinen Reorientierungsphase vertrauen; wir
haben ja schon ein paar Krisen hinter uns, er hat ein paar Steine mehr im
Brett, als alle anderen dort. Obwohl er mir trotzdem erklären müsste, wie das
Thema „Suizidalität“ an jenem Entlasstag als „plötzlich neu aufgekommen“
bewertet worden sein kann.
Jedenfalls - Ich lebe noch. Ich atme noch.
Dauermüde und in ständiger Angst vor dem nächsten Zusammenbruch, weil das hier
eigentlich unmöglich ist. Aber immerhin noch am Leben. Ein tägliches Wunder. Das
man vielleicht nicht überstrapazieren sollte.
Und obwohl dieses Herz heute Abend so sehr
weh tut, obwohl ich wieder ein bisschen mehr begriffen habe, dass es ein „uns“
nicht mehr gibt und ich gerade nicht weiß, ob ich nochmal in der Lage sein
werde so etwas zuzulassen, nachdem ich gelernt habe, wie sehr die Welten von
heute auf morgen brechen können, versuche ich dankbar zu sein. Dankbar für die
Zeit, die wir hatten. Dankbar, dass dieser Mensch in meinem Leben war. Dass ich
Teil von ihm sein durfte. Dass all die Gedanken, die wir geteilt haben, in mir
weiter leben.
Am Samstag werden es drei Monate. Ich werde
alleine hier sein. Meine Schwester längst auf dem Rückweg. Zeit für einen
langen Brief an ihn. Ganz viel Angst vor diesem Tag.
Mondkind
P.S. Ich hoffe, es ist irgendwie okay für
Dich, dass ich heute da war. In dieser Stadt. Ich wünschte, wir hätten das
zusammen erleben können. Wirklich.
Du fehlst. Jeden Tag. Immer noch so sehr.
Liebe Mondkind, kennst du die Bücher von Roland Kachler wie zum Beispiel „Meine Trauer wird dich finden - ein neuer Ansatz in der Trauerarbeit“? Ich wünsche dir viel Kraft!
AntwortenLöschenHey,
Löschennein, kenne ich nicht. Ich schaue es mir mal an; Danke Dir.
Im Moment bin ich echt für alles und jeden dankbar, der mir irgendetwas dazu sagen kann.
Mondkind
Dann bin ich froh, dass ich dich darauf aufmerksam gemacht habe. Er ist Psychotherapeut und hat selbst seinen Sohn verloren. Er hat selbst erfahren, dass die gängige Trauerpraxis inkl. „Loslassen“ ihm nicht geholfen hat und einen neuen Weg der Trauerbewältigung gesucht. So hat er entwickelt, wie man in einem kreativen Beziehungsprozess zu einer inneren Beziehung zum Verstorbenen finden kann. Es geht um ein Lieben in neuer Weise, der Verstorbene bleibt hier, die Beziehung geht weiter und lässt sich weiter gestalten... Auf Amazon gibt es interessante Rezensionen zu seinen Büchern. Lass dir von niemandem einreden, wie und wie lange du trauern sollst oder wann du das überwunden haben solltest. Alles Gute.
Löschen