Der erste Sonntag in der Ferne


Sonntag.
Der erste Sonntag hier seit rund zwei Monaten.
Morgendlicher Kaffee auf dem Sofa. Hatten wir jetzt lange nicht.
Ich öffne das Fenster im Wintergarten und die Luft die herein kommt, ist empfindlich kühl.
Es ist Herbst. So langsam.

Unruhe. Flattern. In mir. Immer noch.
Eigentlich fast durchgängig seit dem Gespräch mit dem Ergotherapeuten am Freitag. Irgendwas hat das ausgelöst.
Vorahnung? Realität…? Man weiß es nicht.
Der Freund ist weniger als eine Woche nach der Entlassung aus der Klinik gestorben. Ist mal eine Tatsache.

Viele Tränen am heutigen Tag. Ich hoffe, morgen sind sie leer geweint. Erstmal. Für den ersten Arbeitstag.
Wie auch immer der aussehen mag. Ich hoffe, niemand sagt viel. Fragt viel. Ich hoffe, der Chef möchte mich nicht sehen. Ich hoffe wir können einfach so tun, als sei nie etwas gewesen.

Ich schaue die Post durch. Die wichtigsten Briefe haben die Nachbarn schon geöffnet über die Zeit. Zwischen all den Umschlägen fällt mir eine Karte in die Hand. Von einer ehemaligen Kommilitonin, der ich wohl gesagt haben muss, was passiert ist. Ich kann mich nicht mehr erinnern.
Ein paar Sätze, die mich wieder zum Weinen bringen.
„In Gedanken an einen geliebten Menschen.
Du wirst immer mein Freund sein.
Du wirst immer Lust haben, mit mir zu lachen“
-                               -  Der kleine Prinz
Manche Menschen verlassen uns nie ganz.
Liebe Grüße“

Am Kühlschrank hängt noch der Dienstplan. Mit den Daten, die nicht mehr zu bewältigen waren. Die Frage ist… - was werden die neuen Daten sein? Was wird das neue Ende sein? Das doch erstmal so weit weg zu sein schien mit der Dienstbefreiung...
Im Arbeitszimmer liegt ein Briefumschlag, darauf unordentlich mit einem lila Stift vermerkt: 09.07. 17:00 Uhr. Tag und Uhrzeit, zu der ich mit Herrn Therapeuten verabredet war.

Knapp zwei Monate später hat man die Klinik unter so schwierigen Umständen verlassen. So unfertig. So völlig zerbrochen. In einem noch schlimmeren Zustand, als ich das immer befürchtet hatte. Sogar medizinisch so bescheinigt. Was hat man da unterschrieben? Aufklärung bis zum Tod. Sozialer Abstieg.
Natürlich bin ich nicht unschuldig daran. Ich hätte vermutlich viel mehr auf den Tisch hauen und für mich einstehen müssen. Es ist doch egal, ob es der Oberärztin organisatorisch Umstände macht, oder nicht. Es ist doch egal, wer was davon hält. Hauptsache ich überlebe das. Aber wenn ich das könnte, für das Recht der inneren Kinder kämpfen, wäre ich vermutlich nicht dort gewesen. Da wird Schritt zwei vor Schritt eins erwartet.

Es waren diese Blicke, mit denen ich von der geschützten Station verabschiedet wurde. Dieses „Die Fronten sind geklärt, aber eigentlich ist nichts geklärt…“ Dieses dann ausgesprochene „Passen Sie wirklich, wirklich gut auf sich auf…“ Von allen Seiten. Vom Assistenzarzt, von der Pflege, vom Ergotherapeuten. Der Ergotherapeut, der nochmal eine Ansprache gehalten hat. Es sei zu früh, sagte er. Es würde zu viel Lebenszeit, zu viele Fähigkeiten, zu viel Zukunft verloren gehen.

Rechtlich sind sie alle raus. Das ist wenigstens schon mal was. Ich muss mir keine Sorgen machen, dass Herr Kliniktherapeut oder der sehr geschätzte Herr Psychiater Probleme wegen mir bekommen. Die Frage ist: Können sie das leben, das mir von Zeit zu Zeit mal gepredigt wurde? So ein lapidares „Sie sind nicht Schuld…“ Sind sie halt auch einfach vermutlich nicht. Aber so logisch wie das von außen sein mag, so schwer ist es im Innen zu leben.

Ich habe es selbst erlebt und erlebe es immer noch. Und jetzt, wo ich wieder hier bin, lebt es alles noch mal auf. Nochmal von vorne. Eigentlich war doch sofort klar, dass es jetzt nicht mehr geht. Sein Suizid in Verbindung mit meiner eigenen Suizidalität. Wo dieses Thema, das doch immer im Untergrund schwelte, nun non-stop Thema wurde und wird.

Wie kann es weiter gehen… ? Das Einfachste wäre: So wie bisher. Irgendwie funktionieren. Aber ich glaube die „Irgendwie funktionieren – Zeit“ ist vorbei. Und bei allen anderen Möglichkeiten gibt es im Endeffekt nur Verlierer. Wenn ich es wieder nicht schaffe, verliere ich meinen Job, meine Eltern machen das auch nicht mehr mit. Wenn ich daran sterbe, wird der Aufschrei auch groß sein.
Hilflosigkeit. Hoffnungslosigkeit. So wie damals. Als plötzlich die Mauern gesprengt wurden. Die nun noch enger gebaut sind, als sie es damals waren.

Parkspaziergang. Ein ganz langsamer. Wenn, dann dieses Wochenende. Nächstes muss ich arbeiten – ich weiß nur gerade nicht, ob Samstag oder Sonntag.
Noch sind die Bäume grün hier. Der Kies knirscht unter meinen Schuhen. Ein Eichhörnchen hüpft über die Wiese. Und dennoch ist es, als sei die Welt mit einem grauen Pinsel angestrichen worden.
Ich setze mich auf die Bank, auf der der Freund und ich zuletzt miteinander telefoniert haben. Und still wünsche ich mir, ich könnte die Zeit zurück drehen. Und hätte einfach irgendetwas anderes gesagt. Irgendetwas, das richtiger gewesen wäre. Das ihn in seiner Not abgeholt hätte. 
Und dann erinnere ich mich an den Musiktherapeuten. Einer der Wenigen, der gesagt hat, dass Trauer okay ist. So lang sie eben da ist. Es gibt kein Datum, bis zu dem das fertig sein muss. Wenn es auch irgendwann still und leise geschehen muss, damit es niemand mehr mitbekommt und verurteilen kann, wie wenig Mondkind dieses Ereignis bis zum heutigen Tag in ihr Leben integrieren kann.


Übrigens, was mir aufgefallen ist… - ich war dieses Mal in der Studienstadt wirklich nicht ein Mal am Fluss. Man ist nur wirklich da gewesen, wenn man am Fluss gewesen ist. War immer das Motto. Allerdings fühlt es sich tatsächlich an, als sei ich nicht richtig da gewesen. Als sei es mal wieder Zeit, die Studienstadt zu besuchen, einen Stopp bei Herrn Kliniktherapeuten einzulegen und ihn um Rat zu bitten.

Freitag noch Geschlossene. Montag arbeiten.
Verrückte Welt. Ganz verrückt.

Was bleiben jetzt noch für Möglichkeiten? Wie soll diese Seele ein bisschen heilen?
Wieso kann man nicht morgens nicht mehr aufwachen und einfach nicht Schuld daran sein? Wieso ist dieses zerbrochene Herz so zuverlässig? Wieso schlägt es so gleichmäßig, obwohl es doch so sehr weh tut? Warum kann es nicht einfach mal eine Pause einlegen wollen?. Eine Pause, die ein paar Sekunden zu lang ist, für die sauerstoffabhängigen Zellen…?

Mondkind

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