Briefchen - über ein bisschen Dekompensation


Hey mein Freund,
na, wie ist die Lage… ?

Der Mond war heute so hell auf dem Heimweg und stand genau neben der Kirche, dass ich dachte… - vielleicht weißt Du, dass heute so ein Tag mit ultra viel Redebedarf ist.

Weißt Du, ich bemühe mich echt, alles irgendwie positiv zu sehen. Dankbar dafür zu sein, zurück im Job zu sein. Wieder Assistenzärztin sein zu dürfen, wieder Menschen helfen zu können, für sie da zu sein. Auch, wenn das auch manchmal bedeutet schwierige Diagnosen so zu verpacken, dass man die Menschen mit ihren Trümmern, die man soeben selbst erzeugt hat – obwohl die eigentlich schon vorher da waren, man hat sie eben nur sichtbar gemacht – aufzufangen.

Aber weißt Du… - manchmal dekompensieren einfach alle da auf dieser Station. Inklusive der Oberärzte. Ich habe doppelt so viele Patienten, wie ich eigentlich haben sollte. Epilepsiepatienten, für die sich keiner zuständig fühlt. Und hätte ich nicht so viel schon selbst darüber gelernt, würde ich da völlig auf der Leitung stehen. Ich kriege das alles schon ganz gut selbst zusammen gebastelt, aber trotzdem müsste da mal ein Oberarzt drüber schauen, bevor ich den Patienten entlasse.

Und manchmal, wenn ich am Abend so um kurz nach Neun auf dem Weg nach Hause bin… - dann frage ich mich schon: Ist das jetzt das Leben?
Irgendwie wartet halt auch keiner mehr zu Hause… - das ist eher auch Stress. Meine Schwester will Entscheidungen von mir, die ich nicht treffen kann, der Papa nervt mit der Frage, was denn aus dem Auto und dem Wohnzimmer geworden ist – da muss ich mir immer mal was anderes einfallen lassen. Fakt ist, dass ich zum Einen unendlich viel Redebedarf habe (aber nicht über Wohnzimmer und Auto) und zum Anderen einfach klinisch tot bin, wenn ich nach Hause komme. Und viel zu wenig Zeit zum Schlafen habe. Einfach nur liegen, die Augen zumachen. Ist ein Luxus geworden.

Therapeutisch gesehen funktioniert hier sehr, sehr wenig, was allmählich wirklich zum Problem wird. Frau Therapeutin hat nicht zurück geschrieben, Herr Kliniktherapeut auch nicht – sie werden ihre Gründe haben und ich werde sie kennen. Dann gab es da ja noch den Verein, den ich da noch kontaktiert habe, der sich mit Hinterbliebenen von Suizidopfern beschäftigt und zumindest mal aufzeigt, was an Hilfen möglich ist und versucht dahin zu vermitteln. Ein diesbezüglicher Telefontermin – das schieben wir gerade auch irgendwie gemütlich. Und ich hasse es. Dieses Gefühl, abhängig von diesem Mailpostfach zu sein und so verzweifelt zu warten, dass hier irgendwer mal wieder dazwischen grätscht und wenigstens kurz mitträgt.
Und es kann sein, dass sich das alles in den nächsten Tagen löst. Aber es gibt diese Abende. In denen man ganz dringend das Gefühl braucht, dass da irgendwer ist. Und man einfach nur diese grenzenlose Einsamkeit spürt.

Und weißt Du… - ich weiß, ich sollte so etwas nicht denken. Aber während ich heute so den Berg hinab gelaufen bin, da habe ich mich schon gefragt, ob ich nicht einfach irgendwann zu Dir hoch kommen sollte. Wofür lebt man denn hier? Ich versuche mir gerade so Vieles irgendwie schön zu reden und zu glauben, dass es sich lohnt, aber am Ende des Tages ist es auf so vielen Ebenen die Dunkelheit, die sich über mich legt.

Du fehlst hier. Ganz, ganz doll. Heute ist so ein Abend, an dem ein 10 – Minuten – Telefonat echt was gerissen hätte. Und ich wahrscheinlich mal wieder gehört hätte, dass die Lieblingsärztin das schon hinkriegt. Heute wäre so ein Abend gewesen, an dem ich Dich gebraucht hätte.
Ich geb mir trotzdem Mühe. Versprochen.

Ganz viel Liebe
Mondkind

P.S. Der erste Stroke – Dienst seit zwei Monaten war echt gut. Da wollte ich Dir eigentlich noch etwas zu schreiben. Es ging damit los, dass mich eine Schwester dort gleich in den Arm genommen und behauptet hat, ich hätte dort gefehlt. Dann habe ich super gut mit den Neurochirurgen zusammen gearbeitet. Und einen Notfall mit akuter Verschlechterung ziemlich gut auf der Station gehändelt. Ein Doppler habe ich etwas vergeigt – da war die Sonde total verstellt und ich wusste nicht, wer da an welchem Knopf gedreht hat. Aber sonst  war es gut. Ich war ein bisschen stolz auf mich.

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