Psychiatrie #55 Schnipsel und Kind - Dialog


Blogpost der Zweite. Mondkind hat Redebedarf. Bedarf, gehalten zu werden.

Es gibt so Momente, in denen werden aus Gefühlen Entscheidungen.
Auch, wenn es die Entscheidungen werden, vor denen man Angst hatte. Entscheidungen, von denen man weiß, dass sie falsch sind, die weh tun, sich aber richtig anfühlen.

Schnipsel.
***

Ergotherapie.
Seit gerade mal fünf Minuten reden mehrere Menschen durcheinander und zwei Menschen schmeißen Ton auf die Tische. Ich zucke bei jedem neuerlichen Knall zusammen. Merke, wie sich meine Halsmuskeln anspannen. Im Kopf ein Durcheinander losgeht.
Das was tagsüber auf der Station auf Arbeit den ganzen Tag Realität ist, überfordert mich hier nach fünf Minuten. Wo soll das enden…?

***

„Hi Mondkind, ich hoffe Du kommst bald…“
Eine Kollegin. Die Kollegin, die schon letzte Woche gefragt hat, wann sie denn das nächste Mal meinen Schreibtisch putzen muss. Die Kollegin, die immer wieder betont, dass sie für mich keinen Ersatz bekommen.

***

Der Oberarzt. Die potentielle Bezugsperson. Die erste nette Mail seit Wochen. Er hat gut auf meine sachliche Kritik reagiert.
„Für mich hast Du bewiesen, dass Du Dir alles hier verdient hast und wir weiter mit Dir daran arbeiten werden Fuß zu fassen und sich hier zu etablieren, wenn Du das willst…“
All das was vorher passiert ist und im Endeffekt zu dieser Aussage geführt hat ist mehr als grenzwertig, aber jetzt kann ich es nicht nochmal vergeigen. Gerade habe ich ihn auf meiner Seite. 

***

Ich liege auf dem Bett. Eine Wolldecke über mir, weil ich friere. Der Magen schmerzt und der Kopf auch. Was ist geworden aus dem Wirbelwind einer Mondkind… ? Ich stelle mir die kleine Mondkind vor. Wie sie neben mir liegt. Den Kopf auf meinen ausgestreckten Arm abgelegt hat. Sich zusammen gerollt hat, an meiner Seite liegt und mich mit großen Augen anschaut.
„Mondkind…?“
„Ja, Mondkind – Kind…“
„Ich habe Angst…“
„Kann ich nachvollziehen…“
„Wir sollten mal sprechen irgendwann. Erinnerst Du Dich? Da war mal eine Hausaufgabe. Die „kleine Mondkind“ sollte mir Dir fünf Minuten am Tag am Meer sitzen und darüber sprechen, was sie braucht und sich wünscht…“
„Ich erinnere mich…“
„Warum hat nie Jemand danach gefragt…?“
„Naja… - Therapiestunden sind knapp und es war viel los…“
„Ja aber Mondkind, es ist doch immer dasselbe. Jedes verdammte Mal. Irgendwie dachte ich… - das lohnt sich, mal ein bisschen aufzudrehen…“
„Ich höre Dich ja. Muss ja Herr Therapeut nicht hören…“
Ja aber Mondkind… - Du kannst nicht aufpassen auf uns. Du bist doch den ganzen Tag mit Kritikern und Forderern beschäftigt. Schau doch, wie Du drauf bist… Wie soll denn das weiter gehen…?“
„Mit der Arbeit…?“
„Mondkind…?“
„Naja… - schau doch mal. Jetzt ist die Kiste hier wirklich festgefahren. Übermorgen ist die Entlassung geplant, der Folgepatient ist schon einbestellt. Die Oberärztin hat heute schon angedeutet, dass es sein könnte, dass ich die Station wechseln muss. Dann sind wir in derselben Situation wie vor rund zwei Monaten. Mit einem neuen Team mache ich das nicht nochmal und schon mal gar nicht für noch eine oder zwei Wochen. Mondkind – Kind, es ist doch folgendermaßen: Die Kraft zum Leben, die uns fehlt, die wird nicht in zwei Wochen wieder da sein. Vermutlich wird die Welt in zwei Wochen nicht wesentlich anders aussehen als jetzt. Nur mit dem Unterschied, dass wir uns in zwei Wochen noch unbeliebter gemacht haben auf der Arbeit. Das war nicht das Ziel der Therapie, da gebe ich Dir Recht. Aber im Grundsatz wird sowohl morgen, als auch in ein oder zwei Wochen die Devise sein: „Schwimm oder stirb – so war das schon immer.“ Und deswegen bin ich dafür – wir halten morgen mal den Ball flach. Nach der Suizidalität wird vermutlich ohnehin nicht gefragt, also halten wir die Klappe und sonst riskieren wir das ohnehin nur, auf der geschützten Station zu landen. Und was… - soll uns das bringen?
„Mondkind…? Ist das ne Entscheidung?“
„Ich glaube, ja…“
„Das zerreißt mir irgendwie gerade das Herz…“
„Mir auch. Und glaub bloß nicht, dass es mir leicht fällt. Donnerstag, der Entlasstag fällt genau auf den Tag zwei Monate nach der Katastrophe und Freitag stehen wir wieder auf dem Bahnhof, auf dem wir immer mit dem Freund telefoniert haben. Und auf dem wir das letzte Mal standen und wussten, dass Herr Therapeut auf uns in der Studienstadt wartet und uns erstmal hin Sicherheit bringt. Wenn wir die Tür aufschließen, ist die erste Monster – Aufgabe schon erledigt.“
„Hast Du schon die Tickets…?“
„Buche ich gleich. Ich habe das jetzt tagelang im Blick gehabt, langsam werden die Busse voll. Wenn wir noch 24 Stunden warten, wird es eng…“
„Mondkind…?
„Ja…“
„Ich hab Angst…“
„Ich auch… - oder was meinst Du, woher die Magenschmerzen kommen…?“

Fast spüre ich die Tränen der „kleinen Mondkind“. Und auch der Versuch sie in Gedanken in den Arm zu nehmen, funktioniert nicht richtig. Wie soll ich ein todunglückliches und verzweifeltes Kind halten, das weiß, dass es mir selbst nicht besser geht.
„Wir haben nur noch uns… - ich versuche auf Dich aufzupassen, soweit ich kann. Vielleicht redet Herr Therapeut morgen nochmal mit Dir… - er hat uns heute noch einen Termin gegeben.“
„Dann wird es eine Heulstunde…“
„Macht nichts. Ist die Letzte…“

Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen