Reise, Freunde, Labor und Therapie
Es hat erstaunlich gut funktioniert. Es ist Samstagabend und ich bin
mittlerweile auch echt im Eimer, aber es hat alles irgendwie geklappt.
Gestern am Bahnhof im Dorf. Wann stand ich hier eigentlich das letzte
Mal? Es muss gewesen sein, als ich das erste Praktikum hier gemacht habe. Fast
drei Jahre her. Als ich aus dem Zug ausgestiegen bin und zum ersten Mal die
Klinikgebäude oben auf dem Berg gesehen habe.
Die Stadt verabschiedet mich mit Regen und ich mich mit einer ziemlich
gedrückten Stimmung. Wie soll ich das bitte alles durchhalten? Habe ich mir
irgendetwas dabei gedacht? Ich habe auch über ein Jahrzehnt nicht mehr bei
fremden Leuten geschlafen…
In der nächstgrößeren Stadt auf dem Hauptbahnhof. Warten, bis um 23
Uhr endlich der Bus in die Studienstadt fährt. Und irgendwann sehr
furchteinflößende Gestalten. „Haben Sie zufällig noch ein Bahnticket über?“,
ist eine der netten Fragen. Klar doch – weil ich ja auch immer zwei Stück
kaufe.
Die Busse fahren ein wenig entfernt ab. Nur wenige Menschen stehen um
diese Uhrzeit noch herum. Ich bin froh, dass ich noch einen Freund an der
Strippe habe. Schon komisch, dass es keine zwölf Stunden dauert, bis wir uns
endlich wieder sehen würden.
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Aussicht vom Hauptbahnhof... obwohl die Weinhänge im Bild nicht halb so beeindruckend aussehen... |
Busfahrt. Der Bus fährt weiter nach Amsterdam und ist in dieser Nacht
erstaunlich voll. Ich hatte mich über zwei Sitze gelegt, eine Decke so um mich
herum gestopft, dass es irgendwie ein bisschen bequem ist und habe versucht zu
schlafen. Und irgendwann rüttelt mich eine Frau wach. Sie müsse sich dahin
setzen; es seien keine Plätze mehr frei.
Im Halbschlaf ist Mondkind nicht so gut zu sprechen.
Morgens um 4 Uhr purzle ich aus dem Bus. Eine Freundin steht schon
dort und holt mich ab. Das finde ich ehrlich gesagt schon sehr beeindruckend,
dass sie das für mich gemacht hat. Halb 5 sind wir bei ihr. Sie hat eine
Isomatte auf ihr Laminat gelegt. Nicht das bequemste Nachtlager und meine
Beckenknochen danken es mir nicht, aber das ist meinem Kopf egal. Bis der
Verkehrslärm in der Früh beginnt, schlafe ich noch ein paar Stunden.
Durch das Zimmer schleichen. Sie möglichst nicht wecken. Alle Sachen
anschnappen. Und langsam die Tür hinter mir zuziehen. Und hoffen, dass ich
nichts vergessen habe.
Altbekannte Wege durch die Uni. Dort treffe ich erstmal den Freund,
mit dem ich am Vorabend noch telefoniert habe. Und wie wir so durch die Uni
gehen fühlt es sich ein bisschen an, als sei ich nie weg gewesen. Das PJ ist
plötzlich in so weiter Ferne, dieser ganze Ort. Und ich weiß schon jetzt, dass
ich am Sonntag Angst haben werde, zurück zu fahren. Ein Leben zwischen den
Welten.
Wir gehen Kaffee trinken und ich esse ein Müsli dazu. Wahrscheinlich
wird es eines der letzten Male sein, dass wir in der Uni zusammen Kaffee
trinken. Er zieht jetzt um, ganz in meine Nähe. Bis Ende des Jahres ist es gut,
danach wird es wieder schwierig, dass wir uns sehen können.
Er begleitet mich noch bis zum Anatomiegebäude. Das altbekannte
Klicken der Schlüsselkarte. Die Türklinke leuchtet grün und ich öffne
schwungvoll die Tür. „Hallo Mondkind“, begrüßt mich der MTA, springt von einem
Stuhl auf und nimmt mich erstmal fest in den Arm. Und dann quatschen wir eine
Menge. Darüber, wie es so ist im PJ. Und darüber, dass er ja auch einer der
gewesen ist, der mich so sehr ermutigt hat, das durchzuziehen. Ich bin ihm
dankbar dafür.
Ein paar neue Präparate sind fertig, die ich mitnehmen kann. Und der
MTA hat sie schon eingescannt und die Zettel, auf denen ich die Lymphgefäße
einzeichnen soll, wie ein Malbuch zusammen gebunden.
Ich habe nicht viel Zeit, dann muss ich weiter. Therapiestunde. Vorher
noch schnell in der Bibliothek vorbei und einen Zettel drucken, falls es mit
dem Reden nicht klappt.
Und dann ist es geschafft. Der Weg durchs Grün zur Ambulanz hinter der
Chirurgie vorbei. Normalerweise bin ich hier mit dem Fahrrad, aber das Gefühl
ist dasselbe. Wieder mal eine Zeit überlebt, die zwischendurch unmachbar
erschien. Und jetzt bin ich für ein paar Minuten sicher.
Wir reden. Darüber, dass das PJ am Anfang sehr gut lief, dass ich echt
erstaunt war, wie reibungslos es klappt. Und darüber, dass es jetzt kippt. Dass
ich eigentlich nur bis zu diesem Freitag gedacht habe. Dass danach eine neue
Etappe losgeht, die wieder einige Wochen dauert und die im Zweifel mit vielen
schwierigen Momenten verknüpft ist.
Sie erklärt, dass es normal ist, dass es am Anfang gut läuft, es dann
eine Phase gibt, die eher schwierig ist und es sich dann in der Mitte einpendelt.
Aber natürlich sollte es zwischendurch möglichst nicht ganz abstürzen.
Ich schaffe es das Thema auf den Oberarzt zu lenken. Erzähle von den
Treffen der letzten Wochen. Und, dass ich es damals schon gemerkt habe, im
ersten Praktikum. Dass da gerade etwas passierte, das nicht passieren sollte. „Ich
dachte, der Oberarzt wüsste von nichts…?“, hakt sie nach.
Ich schaue an der Therapeutin vorbei. An die Wand, an die ich schon so
oft geschaut habe. Und erzähle die ganze Geschichte.
„Mich überfordert das alles langsam“, erkläre ich. „Ich weiß, dass das
etwas zwischen uns ist, das es gar nicht geben sollte. Der wird mal mein Chef…
Und wenn ich dort bin, dann ist es für einen Augenblick okay. Dann sind diese
Löcher in mir etwas weniger tief, nur um hinterher noch weiter aufzureißen. Und
ich weiß nicht, warum das so ist. Vielleicht – so habe ich mir schon gedacht -
ist es, weil er mich einfach nimmt, wie ich bin. Weil er akzeptiert, dass die
guten und die schwierigen Teile zu mir gehören und er sagt, dass wir trotzdem
das Beste daraus machen und versuchen es zu schaffen. Und er mich immer noch
dort haben will, obwohl er weiß, dass es schwierige Zeiten geben wird…“
„Können Sie das denn alles noch rückgängig machen?“, fragt die
Therapeutin. „Nein“, entgegne ich. „Dann ist es ein Fall für radikale Akzeptanz.“
Sie erklärt, dass es irgendwo menschlich ist. Natürlich ist die ganze
Konstellation schwierig, vielleicht die Sache mit der Akzeptanz auch nicht der
einzige Grund, aber bisher scheint das Thema bei ihm ja in guten Händen zu
sein. Er geht damit super um. Und es hat ja auch positive Seiten. Zumindest ein
Mensch weiß da unten Bescheid.
„Es ist schon irgendwie merkwürdig, wie sehr er mich über die Zeit
gezogen hat. So viel Illusion, wie das auch gewesen sein mag, aber selbst als
ich in der Klinik dachte, dass es alles nichts mehr wird und nichts mehr bringt
und so verzweifelt war wusste ich, dass ich da raus muss, weil ich anders den
Abschluss nicht machen und damit nicht an diesen Ort gehen kann.
Und auch jetzt ist es wieder so. Die Tage sind einfach im Moment sehr
schwer. Und egal wie viel spazieren ich gehe und egal wie viel ich telefoniere,
die Suizidalität geht einfach nicht weg. Aber ich denke mir, dass ich das jetzt
einfach nicht machen kann, weil er ja davon weiß und ich nicht will, dass er
sich Vorwürfe macht. Er hat mir zwar gesagt, dass ich mich melden soll, wenn
etwas ist, aber ich denke, man wird sich doch fragen, ob man etwas verpasst hat…“
„Wenn er das bewirkt ist das sehr gut, aber Sie sollten schon
versuchen auch für sich selbst zu leben“, erklärt sie.
Auch über Richtlinientherapie reden sie nochmal. Ich erkläre nochmal,
dass mir das viel zu viel Angst macht. Ich berichte von der Kurzzeittherapie
einer Freundin mit 12 Stunden und dass ich bis dahin wahrscheinlich nicht mal
ein Viertel angesprochen hätte, weil ich einfach nicht schnell Vertrauen fasse.
„Ja ich weiß, das hat bei Ihnen lange gedauert, aber wenn Sie es nicht
versuchen wissen Sie nicht, ob es nicht doch irgendwie geht.“
Sie ist sich sicher, dass man da mit verschiedenen Therapieverfahren „noch
etwas machen kann.“ Und irgendwie hat mich das „noch“ in dem Satz gestört.
Sie meinte, wir sollten vielleicht versuchen mehr in den
Selbsthilfebereich zu gehen. Therapie wird ja erstmal nicht machbar sein, wenn
das nicht mal über Beziehungen hinhaut. „Das ist schon schräg. Ich gehe jeden
Abend auf meinem Spaziergang durch den Park an der Psychosomatik vorbei und da
sind die richtigen Leute, aber die können mir nicht helfen, weil sie keine
ambulanten Angebote haben…“
Das kann sie nachvollziehen, dass sich das komisch anfühlt. Und auch
irgendwie frustriert.
Anderthalb Stunden später bin ich wieder draußen. Das war also der
Termin, für den ich den „Horror – Trip“ auf mich genommen habe. Ich bin erleichtert,
dass die Therapeutin mich für die ganze Oberarztsache nicht verurteilt hat.
Und vielleicht muss ich das jetzt erstmal auch für mich selbst
akzeptieren, dass es so ist. Und die guten Dinge darin sehen. Und mich nicht
dafür fertig machen, dass es so passiert ist. „Es ist in Ihrer Situation
menschlich gesehen auch nachvollziehbar“, sagte sie.
Und er findet es so schlimm wohl auch nicht, sonst würde er nicht
immer noch so viel für mich tun. Und vielleicht ist es okay. Wenn mein Hirn
mich nicht dafür fertig macht.
Die Schwere kann auch sie nicht von den Tagen nehmen. Dass ich gern
jemanden hätte, der sie mit mir aushält ist nachvollziehbar, aber da müssen
andere Lösungen ran. Auch wenn ich bisher noch nicht weiß, wie die aussehen
sollen.
Selbst in der Stunde hatte ich streckenweise das Gefühl auf der Stelle
zusammenbrechen zu können. Aber das geht nicht. „Es ist wichtig, dass sie den
Moment nicht verpassen, an dem es zu viel wird“, sagte die Therapeutin. „Aber
dann kann ich auch nichts machen. Ich muss das ja machen. Ich muss in der Neuro
ankommen und dort auch noch gut sein.“ „Aber ehe es schief geht, kommen Sie auf
den Oberarzt zurück. Das ist dann die bessere Lösung. Und vielleicht hat er
dafür wirklich ein anderes Verständnis. Wenn er den Facharzt für Neuro hat,
dann hat er zumindest mal kurz in der Psychiatrie gearbeitet. Ein Chirurg würde
vielleicht sagen, trinken Sie ein Bier und dann wird das alles wieder…“
Wir haben überlegt, wie wir es mit den Terminen weiter machen. Ein
Vierwochenrhythmus bietet sich an. In vier Wochen ist Mittwoch ein Feiertag,
den kann ich dann zum Ausgleich arbeiten gehen. Und dann nochmal kurz vor der
Neuro – Zeit, damit ich nicht sofort am ersten oder zweiten Wochenende
verreise, sondern meine Kraft erstmal voll und ganz in die Neuro investieren
kann.
Mal sehen, wie es mir Montag
geht. Ob ich dann immer noch glaube, dass es eine gute Idee ist. Allerdings
denke ich, dass die nächsten Wochen auch schwierig werden, wenn es mit der Suizidalität
nicht besser wird und ich dann vielleicht öfter als ein Mal in acht Wochen da
sein sollte.
Im Anschluss treffe ich mich noch mit einer Kommilitonin und wir
trinken noch einen Kaffee.
Währenddessen schickt mir meine Freundin noch eine Einkaufsliste, weil
sie das selbst nicht mehr geschafft hatte. Ihr geht es eher nicht so gut.
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Kaffee und Kuchen... - Pause an dem anstrengenden Tag... |
Und nachdem ich dann noch durch den Supermarkt gerast bin, komme ich
dann endlich nach fast 12 Stunden wieder bei der Freundin an. Zum Abendessen
schmeißen wir noch ein paar Frühlingsrollen in den Ofen und machen einen Salat
dazu. Und während sie eine Serie schaut, haue ich in die Tasten.
Tag verarbeiten. Und mich wundern, wie ich das eigentlich gemacht
habe. Kaum geschlafen, heute nur herum gerast.
Und gleich falle ich ich ins Bett - oder eher auf die Matratze auf dem Boden... ;)
Mondkind
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