Schattenseiten der Stationsarbeit
„So, ich muss jetzt noch schnell nach den Histo – Befunden schauen und
eine Aufklärung müssen wir noch machen“, sagt „Mondkinds“ Ärztin.
Mondkind zupft ihr die Aufklärungsbögen aus der Hand und läuft zum
Patienten. Ein Mann, Mitte 50. Seine Frau sitzt neben ihm auf dem Bett.
Mondkind hatte schnell auf den Aufnahmebogen geschaut, bevor sie losgelaufen
war. Leberzirrhose aufgrund einer Autoimmunhepatitis. Eine Krankheit, die keine
sonderlich gute Prognose hat.
Mondkind begrüßt den Patienten. „Ich würde gern noch kurz etwas mit
Ihnen besprechen“, erklärt sie weiter. „Ich müsste Sie noch kurz über die
Untersuchungen morgen aufklären. Der Kollege hat Ihnen ja schon bei der Aufnahme einiges darüber erzählt…“
„Ja ich weiß Bescheid“, unterbricht mich der Patient, „und bei jeder
ärztlichen Maßnahme gibt es Risiken…“ „Genau…“, erwidere ich und schaue ihn
wahrscheinlich etwas schief an. „Ich bin Zahnarzt…“, sagt er. „Ach so“, sagt
Mondkind. „Dann schreibe ich die Komplikationen einfach nur in den Bogen hinein
und Sie unterschreiben mir das“, sage ich. „Genau und dann sparen Sie sich ein
paar Minuten und können ein bisschen Pause machen…“
Und wie so oft fällt das Gespräch auf die Frage, wo ich studiere. Und
wo ich später mal hin möchte. Und wie genau ich auf dieses Kaff hier gekommen
bin. „Na da haben Sie ja was vor“, sagt er. „Aber ich denke, das wird schon
klappen.“
„So ein lieber Mensch“, sagt Mondkind halblaut im Schwesternzimmer,
als die die Akte wieder ins Fach hängt. „War das jetzt ironisch oder ernst
gemeint?“, fragt eine Schwester.
„Nein, das meine ich ganz ernst“, erwidert Mondkind.
Ein ganz lieber Mensch mit einer ungünstigen Prognose.
Nur der Gipfel eines anstrengenden Tages heute.
Und nach über 10,5 Stunden Krankenhaus packt Mondkind ihre Sachen.
Radelt in den Park und setzt sich an den Teich. Schaut den Enten zu. Und muss
die Erlebnisse erstmal sacken lassen.
Schon der Morgen war nicht
sonderlich erquicklich gewesen, wenngleich Mondkind in ihre Arbeit hinein
wächst und es allmählich zu schätzen weiß, im Stress schnellen Schrittes über
die Krankenhausflure zu rasen. Jedenfalls wenn sie ihr Gleichgewicht am Morgen
einigermaßen aufgestellt hat und dazu körperlich in der Lage ist.
Mondkind hatte ihre Visite vorbereitet und war durch die Zimmer
gegangen. Eine Patientin konnte sie nach Hause entlassen. Eigentlich sollte sie
erst nachmittags gehen, aber plötzlich stand der Sohn schon auf der Matte und
wollte sie mitnehmen. Da musste Mondkind sich dann eilig um alles kümmern.
Bei anderen Patienten heißt es einfach warten, bis die Antibiose
anschlägt und ein Auge darauf haben, dass die Patienten klinisch nicht noch
schlechter werden oder die Entzündungsparameter weiter ansteigen, die das
Versagen der Therapie verdeutlichen.
Eine Patientin liegt schon einige Tage bei Mondkind. Sie sorgt sich
ein wenig. Gestern war es der Patientin, mit der man aufgrund ihrer Demenz und
ihres schlechten Allgemeinzustandes kaum kommunizieren kann, etwas besser
gegangen. Sie hatte kurze Sätze verstanden und sogar ein halbes Toast gegessen.
Heute Morgen liegt sie in ihrem Bett, atmet ruhig und reagiert kaum auf
Mondkind.
Und irgendetwas an ihrem Gesichtsausdruck gefällt Mondkind nicht. Ihre
Fingerspitzen sind ein wenig kühl, aber nicht kalt; die Haut weist keine
Marmorierung auf. Mondkind fragt sich, ob sie ihre Kollegin informieren sollte,
aber man erklärt ihr, dass das keine Konsequenz habe. Die Patientin sei alt und
außerdem habe sie eine Patientenverfügung. Keiner werde sie reanimieren, auf
die Intensivstation nehmen, sie beatmen oder an die Dialyse hängen.
In der Zwischenzeit geht Mondkind weiter und sucht eine Patientin auf,
die seit den frühen Abendstunden des letzten Tages da ist. Als Mondkind klopft
und die Tür öffnet, setzt sie sich auf, lächelt Mondkind an und begrüßt sie
überschwänglich mit einer Sprechweise die klingt, als habe sie gerade erst
sprechen gelernt.
Die Patientin kommt als Verlegung aus der Neuro mit einem Infekt. Als
Grunderkrankung besteht eine multiple Sklerose. Es gibt die Formen, die noch
recht positiv verlaufen. Teilweise erleben die Menschen nur ein oder zwei
Schübe in ihrem Leben. Und dennoch hatte es Mondkind erschrocken, als eine
Kommilitonin letztes Jahr auf dem Weg zum Chor beiläufig erwähnt hatte, dass
bei ihr MS diagnostiziert worden war. Denn es gibt eben auch die Formen mit
einer hohen spinalen und cerebralen Läsionslast. Dabei ist man schnell an den
Rollstuhl gefesselt und je nachdem wo die Herde sind, kommt es zu den
verschiedensten neurologischen Ausfällen.
Und vor ihr sitzt eine Patientin Ende 30 mit der letztgenannten Form.
Die Sprache ist betroffen und hauptsächlich die Motorik. Laufen kann sie nicht
mehr.
Fast wichtiger als der Harnwegsinfekt ist der Patientin gerade, dass
der Rollstuhl oben in der Neuro vergessen wurde. Mondkind verspricht der
Patientin, dass sie sich darum kümmern werde.
Aber sie fragt sich in solchen Momenten auch so oft: Ist die Neuro die
richtige Entscheidung? Es ist ohne Frage sehr spannend und Mondkind hat auch
gemerkt, wie für die Patientin ihre Aufmerksamkeit und Neugier geweckt wurde.
Aber es sind auch viele Schicksale, von denen man nur bewundern kann, wie die
Patienten und deren Familien die tragen. Die Neurologen können helfen. Mit
ihren Therapien können sie versuchen, die Anzahl der Schübe zu reduzieren und
die Auswirkungen der Störungen erträglich zu gestalten. So lassen sich mit
Medikamenten auch die Spastiken reduzieren. Ohne die Neurologen wäre das Leid
und der Fortschritt der Krankheit noch ungünstiger. Aber heilen werden sie die junge
Frau nicht mehr.
Ich frage mich, ob ich das auf Dauer aushalten kann. So viele
Patienten kennen zu lernen, die in der Situation sind. Und wenn sie dann auch
noch so nett sind und so viel Sympathie ausstrahlen, macht es das noch schwerer.
Als Mondkind aus dem Zimmer wieder heraus ist, geht sie zurück auf den
Schwesternstützpunkt. „Mondkind Deine Patientin ist gestorben…“
„Wie jetzt?“, fragt Mondkind. „Ich war doch vor einer halben Stunde
noch bei ihr…“
„Geh in das Zimmer…“, sagt die Schwester.
Mondkind läuft in das Zimmer, in der schon eine Kollegin steht.
Mondkind schaut sie an. Ihre Augen sind geschlossen, ihr Brustkorb hebt und
senkt sich nicht mehr. Aber ansonsten liegt sie genauso da, wie vor ein paar
Minuten.
Es ist beklemmend zu wissen, dass ich die letzte war, die mit ihr
geredet hat. Dass es meine Worte waren, die vielleicht noch in ihren Ohren
ankamen. Ich frage mich, ob ich sie richtig gewählt habe. Ob sie sich sicher in
ihren letzten Minuten gefühlt hat. Ob sie Schmerzen hatte und ich es vielleicht
nicht gesehen habe.
„Hätte ich etwas tun können?“, frage ich ganz leise.
„Nein Mondkind“, sagt die Schwester, „sie war doch schon sehr alt und
schwer krank. In den letzten Tagen konnte sie nicht mal mehr essen. Das nimmt
viel Lebensqualität. Für sie ist es besser.“ Und nach einer Pause „Das ist
Deine erste tote Patientin, oder?“
„Naja, die erste, die ich ganz allein betreut habe. Ansonsten reicht
es mir schon für die Woche“, gebe ich zurück. Es ist die Dritte allein auf
dieser Station.
Ganz vorsichtig fasse ich ihre Fingerspitzen an. Sie sind immer noch
etwas kühler, aber nicht kalt. Ich hatte mich vorhin also nicht getäuscht, als
ich ihre Finger- und Fußspitzen auf die Temperatur geprüft hatte als ein
mögliches Zeichen der Zentralisation.
Ich bin auch diejenige, die wenige Minuten später das Telefon in der
Hand herum dreht. Angehörige anrufen. Was sagt man? Gibt es überhaupt Worte?
Egal wie man es dreht und wendet – jeder Versuch das Beileid zu bekunden,
klingt irgendwie gestellt.
Es ist ein schweres Telefonat.
Ein paar Stunden später lernt Mondkind noch von ihrer Kollegin, wie
man eine Leichenschau durchführt und einen Totenschein ausfüllt.
Und dann ist da ja noch der Patient mit dem hochmalignen Lymphom, der
Anfang nächster Woche in die Uniklinik verschifft werden soll, damit dort die
hochdosierte Chemo eingeleitet wird. Wenn er es bis dahin überlebt. Zwar
behauptet er, es ginge ihm gut, aber auch er sieht jeden Tag ein wenig
zerfallener aus.
Als bräuchte es noch einen Gegenpol, kommt am Ende des Tages ein
Patient in den Schwesternstützpunkt gelaufen, den Mondkind vor wenigen Tagen in
die Urologie verlegt hat. Ihre erste eigene Verlegung war das gewesen. Also das
Zielkrankenhaus anrufen, denen erklären, warum sie den Patienten jetzt
unbedingt nehmen müssen, Kurzbrief schreiben, Transport organisieren, alle
Unterlagen kopieren, langen Brief schreiben und hinterher faxen. Und das
möglichst schnell.
Er ist mittlerweile entlassen und möchte sich nochmal für die gute
Betreuung bedanken. Ich freue mich wirklich sehr, ihn zu sehen und dass es ihm
besser geht. Und dass man unsere Arbeit doch schätzt, obwohl wir im Stress
sicher nicht immer jedem Anspruch gerecht werden.
Es reicht für heute. Eindeutig. Eigentlich muss Mondkind noch mindestens
eine Stunde mikroskopieren. Aber ob sie das noch schafft? Duschen und Essen
muss sie auch noch.
Mit ihrer Therapeutin hat Mondkind heute mal den nächsten Termin fest
gemacht. Was sie macht, wenn sie in der Früh um 4 auf dem Hauptbahnhof landet,
weiß sie noch nicht. Es soll ja ein Feldbett geben in der Anatomie…
Jedenfalls ist schon jetzt klar, dass die Zeit wohl eher nicht
ausreichen wird. Denn neben der „Neuro – Oberarzt – Sache“ und neben der Frage,
wie man damit umgeht zu wissen, dass man furchtbar viel verlieren kann, wenn
man hier ausfällt, muss es auch irgendwie darum gehen, wie man mit dem
Krankenhausalltag umgeht. Todkranke Patienten machen etwas mit einem. Und
wahrscheinlich ist das auch gut so. Aber bei dem Leid im Krankenhaus auf der
einen und ihren eigenen Suizidgedanken auf der anderen Seite, prallen zwei Geschehnisse
aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein können. Und dennoch lässt sich
Mondkinds psychischer Zustand auch immer ein wenig an ihrer körperlichen
Verfassung objektivieren. Vielleicht bedingt das eine nicht unbedingt das
andere, aber kurz bevor es sehr schwierig wird, merkt Mondkind schon immer, wie
schwer ihr allein das Laufen fällt. Und dennoch bringt es einfach sehr viel
Potential für Gedankenschleifen mit sich.
Mondkind
Bildquelle: Pixabay
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