Patienten - Turfing
15 Uhr.
Die Blutabnahmen in der Früh liegen hinter mir. Es ist schon komisch,
dass ich jetzt einen Praktikanten bei mir habe, dem ich das Blutabnehmen
beibringen soll. Die Chefarztvisite ist absolviert, alle Briefe sind
geschrieben und meine Patienten die heute gehen dürfen, sind entlassen. Die
Dame mit der Kontrastmittelallergie hat ihr CT nach viel Diskussion zwischen
der Patientin, dem Radiologen und mir und einer umfangreichen Prämedikation
trotzdem bekommen und ist wohlauf.
Ich bin zufrieden.
Noch eine Stunde bis zum Feierabend. Ich beschließe hinunter in die
Notaufnahme zu gehen und zu fragen, ob ich helfen kann. Zwar melden die sich
auch, wenn ihnen alles über den Kopf wächst, aber je nachdem wer da unten
gerade Dienst hat, warten sie auch lange bis sie um Hilfe fragen. Denn jeder
von uns weiß, dass die anderen auch viel zu tun haben und keiner das mag in die
Notaufnahme zu kommen, wenn die Station noch nicht fertig ist.
„Im Moment ist es ruhig hier, aber es sind ein paar angekündigt. Ich
hoffe, die kommen nicht alle gleichzeitig.“ Wir verziehen uns in den
Aufenthaltsraum und mein Kollege fragt mich ein wenig über meine Doktorarbeit
aus. In den meisten anderen Ländern ist es so, dass man mit dem Abschluss des
Studiums den Doktortitel gleich mitbekommt. Der hat dann zwar formal nicht
dieselbe Bedeutung wie ein Doktortitel, der tatsächlich über eine Doktorarbeit
erworben ist, aber immerhin stehen die beiden Buchstaben unter dem Namen. Ich
persönlich muss auch gestehen, dass ich immer dachte „Dr. med univ.“ sei
irgendetwas ganz spezielles, dabei heißt es nur, dass man in Österreich
studiert hat.
Zwar finde ich persönlich es auch wichtig jemals wissenschaftlich
gearbeitet zu haben, damit man Studien auch richtig interpretieren und deren
Relevanz einschätzen kann, aber das mache ich ja seit 3 Jahren. Und näher an
den Doktortitel hat es mich trotzdem nicht gebracht.
Zwischen den Vorhängen sehen wir den ersten Krankenwagen vorfahren.
Wir machen uns bereit und verlassen den Aufenthaltsraum.
Und dann geht es ganz schnell. Ein Zweiter, ein Dritter und ein
Vierter Krankenwagen rollen an und schon ist unser Flur von vorne bis hinten
mit Tragen zugestellt. Dazwischen laufen noch mindestens 8 Sanitäter, die
Schwestern versuchen die Patienten auf die Räume zu verteilen und wir… - wir
schlagen in Gedanken die Hände über dem Kopf zusammen.
Ich bleibe mit einem Kollegen im Schockraum. Hier haben wir zwei
Plätze.
Auf dem vorderen Platz liegt ein älterer Herr. Er habe ein akutes
Nierenversagen, sei laut Aussage der Sanitäter beinahe „vertrocknet“ und habe
außerdem Rückenschmerzen. Während ich mir noch das Einsatzprotokoll und die
mitgebrachten Unterlagen anschaue, hält der Kollege den Schallkopf auf die
Niere.
Harnstau. Blickdiagnose. „Okay, das ist ein postrenales
Nierenversagen. Wahrscheinlich hat er einen Stein oder so etwas, dann muss er
sowieso in die Urologie. Es ist noch vor vier Uhr – ich bespreche das mit den
Nephrologen, die sind zum Glück noch im Haus und dann verlege ich ihn.“
„Mondkind“, ruft eine Schwester durch den Raum, „kannst Du mit dem
Patienten hier hinten weiter machen?“ Er hält eine Nierenschale in der Hand und
sieht ziemlich geschwächt aus. „Okay, Gastroenteritis - easy“, denke ich. Das
schaffe ich noch bis vier Uhr.
„Der Patient hat eine systemische Pastozytose“, klärt mich die
Schwester auf.
„Der hat bitte was?“, gebe ich zurück. „Eine Pastozytose“, wiederholt sie.
In Gedanken krame ich in allen Schubladen meines Gehirns, wo ich denn schon mal
etwas von Pastozytose gehört habe. Das ist ja super peinlich, wenn man die
Grunderkrankung des Patienten nicht kennt.
Ich werfe einen Blick auf seine Haut. „Ach so…“, sage ich, „Systemische
Mastozytose…“
„Genau…“, sagt der Patient.
Manchmal hilft das Examenswissen eben doch. Das ist glaube ich super
selten und eine Überreaktion des Immunsystems. Da muss man sehr aufpassen, was
man für Medikamente gibt. Also doch nicht so easy.
Ich schaue mir den Triagezettel an. „Drehschwindel und Übelkeit“,
steht darauf.
Der Patient erzählt mir, dass er gestern aufgrund des Schwindels schon
beim Arzt war, aber der sei nur anfallsmäßig da gewesen. Jetzt gehe es aber gar
nicht mehr weg.
Ich frage, wie viel der Patient
getrunken habe. Einen halben Liter, antwortet er mir. Naja… - das ist bei fast
40 Grad nicht viel und kann schon zu Exsikkose und dadurch Schwindel führen.
Ich schaue ihn an. Die Augen sind stark gerötet. „Seit wann sind Ihre
Augen so rot?“, frage ich. „Weiß ich nicht“, kommt zurück.
Wenn man ihm genau in die Augen schaut, erkennt man einen
Spontannystagmus. Also ist das keine triviale virale Infektion, sondern ein
Problem des zentralen Nervensystems. Der Patient gehört in die Neuro.
„Okay, dann rufe ich die mal an“, sage ich. Ich lasse mich über die
Rezeption mit dem diensthabenden Arzt verbinden. Ich meine, der Name der Ärztin
die ich an der Strippe habe, kommt mir bekannt vor, aber ich kann sie gerade
nicht einordnen. Ob sie den Patienten nehmen ist eigentlich gar keine Frage und
sie nehmen ihn auch.
„Schicken Sie einen Ambulanzbrief mit - ein Satz reicht“, sagt die Neurologin, bevor sie
auflegt.
„Was soll ich da denn jetzt schreiben – wir haben nichts gemacht“,
frage ich. „Naja…“, erwidert die Schwester, „pack das Notarztprotokoll in einen
Briefumschlag. Das ist ein Satz…“ Sehr gut gelöst.
„Ist das jetzt ein Notfall? Mit Blaulicht…?“, fragt die Schwester. Ich
überlege kurz. Es gibt viele Ursachen eines Nystagmus, aber unter anderem
gehören zerebrovaskuläre Ursachen dazu. Und da geht es um Zeit. „Ja“, erwidere
ich. Im Nachhinein frage ich mich, ob das wirklich nötig war. Wenn der
Schwindel intermittierend seit gestern besteht, sind wir selbst im Fall eines
Schlaganfalls längst aus dem Lyse – Zeitfenster heraus. Aber nun ja… - ist
jetzt so passiert.
Später am Nachmittag rufe ich noch den Neuro – Oberarzt an. Letzte
Woche haben wir vereinbart uns mal wieder in der Neuro auf einen Kaffee zu
treffen. Es klingelt ein paar Mal, bis ich eine vertraute Stimme an meinem Ohr
höre.
„Ich wollte nur mal grundsätzlich fragen, wann Sie denn Zeit haben?“,
frage ich. „Das muss auch nicht heute sein, ich will Sie nicht stressen“,
schiebe ich hinterher.
„Naja doch – jetzt ist eigentlich ein guter Zeitpunkt. Kannst Du
kommen?“, fragt er.
„Das dauert noch kurz“, erkläre ich. „Ich sitze gerade noch in der
Kreisklinik. Ich muss also noch schnell nach Hause und dann in die Neuro
laufen.“
„In die Neuro laufen?“, wiederholt er. (Steiler Berg bei fast 40 Grad)
„Mh…“, knurrt er, „dann machen wir es vielleicht doch besser morgen. Um 17 Uhr?“
„Dann muss ich mich beeilen, dass ich pünktlich raus bin, aber können
wir machen.“ (Das wird echt ein bisschen Stress morgen. Ich bin fast nie pünktlich raus...)
„Ruf aber vorher nochmal an…“
Ich freue mich wirklich. Aber ich frage mich auch, ob ihn das wirklich
nicht nervt. Er meinte zwar letztens zu mir er fühle sich geehrt, dass ich ihn
an meiner beruflichen und privaten Entwicklung im PJ teilhaben lasse, weil das
eine Zeit sei, in der sich viel ändert und in der man völlig neue Erfahrungen
macht, wenn man die Uni mehr und mehr hinter sich lässt.
Eigentlich ist es also für beide Seiten okay. Ich brauche manchmal
jemanden, mit dem ich auch über die Dinge im PJ reden kann (Haha, wer hätte es
gedacht bei den Ausmaßen des Blogs…;) )
und wenn er das auch in Ordnung findet, können wir das ja so machen.
Mir sagte letztens mal jemand, dass ich Dinge ruhig tun dürfe, solange
keiner sagt, dass ich es nicht darf. Aber man ist ja höflich. Und dann sagt er
vielleicht nicht, wenn es ihn nervt.
Na jedenfalls hoffe ich, dass es morgen nicht so heftig gewittert wie
angekündigt, wenn ich auf dem Weg in die Neuro bin…
Da kann ich auch gleich fragen, was aus dem Patienten geworden ist… Ob
er jetzt wirklich bei denen auf der Stroke liegt.
Mondkind
Bildquelle: Pixabay
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