Saltos

Es ist Nachmittag. Mein Diensttelefon klingelt. Die Oberärztin steht auf dem Display. Oh nein… - was soll ich auf den Freitagnachmittag noch tun…? Ich lasse das Telefon drei Sekunden klingeln, ehe ich auf den grünen Hörer drücke.
„Mondkind was machst Du gerade?“
Shit… - ich kann jetzt unmöglich erzählen, dass ich schon eine Stunde an einem Brief bastle und es heute einfach nicht gebacken bekomme, die Worte aneinander zu reihen. Es ist schon schlimm genug, dass ich heute Morgen die Blutabnahmen der Station alleine am Hals hatte. Und der neue Hospitant mir auf die Finger geschaut hat, was meine Erfolgsquote arg gesenkt hat zum Unmut der Patienten.
„Ich bereite ein paar Entlassungsbriefe vor“, gebe ich zurück.
„Sind die jetzt so wichtig?“
„Naja… - schon mal etwas vorarbeiten für nächste Woche…“
„Dann lass die jetzt liegen. Was hältst Du davon, Dir ein wenig hitzefrei zu nehmen?“
Das hat sie gerade nicht wirklich gesagt, oder? Ich bedanke mich, packe meine Sachen und verschwinde.

Erst sehr viel später fällt mir zu Hause auf, dass ich den Büroschlüssel nicht dort habe, wo er sein sollte. Shit… - so etwas passiert mir normalerweise nicht. Ich kontrolliere wirklich immer bevor ich fahre, ob ich alles dabei habe. Da sieht man, wie weit weg ich gerade mit meinen Gedanken bin. Also nochmal zurück ins Krankenhaus…

Zu Hause. Putzen und einkaufen.
Tränen in den Augen. Ich könnte schreien und die Wände einschlagen. Und mich gleichzeitig zusammen rollen und unter meiner Bettdecke verkriechen. Es ist diese Schwere, die sich einfach nicht vertreiben lässt. 

Impression von der letzten Wanderung...

Heute Morgen habe ich tatsächlich mit der Therapeutin telefoniert. Als die anderen gerade alle im Nebenbüro saßen. Und natürlich kann man in einem 10 – Minutentelefonat nichts lösen, das ist mir auch klar. Aber darum geht es auch gar nicht. Es geht darum, dass einem jemand für ein paar Minuten Sicherheit vermitteln kann. Nur, um für einen Augenblick die Welt etwas weniger schwer auf meinen Schultern zu fühlen.
Ich war sehr gespannt, was sie zu den neuesten Vorkommnissen im Elternhaus sagt. Oder ob ich einfach völlig überreagiert habe. Ich musste es ihr aber zwei Mal erklären. Und dann war sie auch ein wenig geschockt. Also ist es doch nicht nur meine Wahrnehmung.
„Wir besprechen das alles genauer, wenn Sie dann in zwei Wochen da sind…“, erklärt sie. Woraufhin ich sage, dass ich da noch ein sehr großes zweites Thema habe. „Naja, dann müssen wir die Stunde halt teilen. 30 Minuten für das eine und 30 Minuten für das andere Thema." Das reicht nur leider nie im Leben. In 30 Minuten habe ich wahrscheinlich mit viel Hängen und Würgen gerade mal erklärt, worum es eigentlich geht.
Und überhaupt. Ich weiß immer noch nicht, wo ich in dieser Nacht von Donnerstag auf Freitag noch ein paar Stunden schlafen kann. Ich glaube, das mit dem Feldbett in der Anatomie wird nichts, weil das in einem Raum steht, in den ich mit meiner Schlüsselkarte nicht hinein komme. Außerdem ist das ein bisschen uncool, wenn der Chef am Morgen eine schlafende Doktorandin vorfindet. Wahrscheinlich werde ich mich einfach ins Labor setzen und dort ein wenig die Zeit totschlagen, bis der MTA kommt.
Aber dieser ganze Stress für eine Therapiestunde. Das ist wirklich komplett bescheuert. Aber wahrscheinlich die einzige Chance. Wir müssen etwas aufräumen in meinem Kopf.
„Es muss ja irgendwie gehen…“, habe ich an irgendeiner Stelle in dem Telefonat gesagt. „Es muss überhaupt nichts. Wenn es nicht geht, dann geht es nicht.“ Typischer Therapeutensatz irgendwie. Was ist denn die Alternative? Zurück in die Studienstadt, dann wahrscheinlich erstmal ein paar Tage in die Psychiatrie – selbst wenn es keine zwingende Indikation gäbe, aber die gibt es dann mit Sicherheit, wenn mir das Projekt hier durch die Finger rinnt – bis ich weiß, wo ich dann erstmal wohnen kann. Sozialindikation sozusagen. Und dann?
Ich kann mir keinen besseren Ort für das PJ vorstellen, wenn mein Kopf nicht ständig dazwischen funken würde. Also gibt es die Option, dass das hier alles völlig dekompensiert nicht. Macht auch gar keinen Druck…

Ich habe immer ein wenig Angst. Angst, dass sich die Menschen abwenden, wenn sie merken, dass es auch so dunkle Tage gibt. Weil das einfach nicht zu dieser Mondkind passt, die man meist im Krankenhaus antrifft. Oder dass dann über mich auch so Kommentare kommen wie: „Ja die Mondkind hat vor allen Dingen eins. Eine Meise. Und deshalb kommt sie nicht auf Arbeit.“
Dass es irgendwie als Schwäche angesehen wird. Das ist immer ein bisschen das Problem, wenn man sonst permanent über die eigenen Grenzen geht und es dann – für alle anderen immer ganz plötzlich – nicht mehr geht und so wirkt, als hätte man es nie versucht.
Ich hatte darüber mal ein Gespräch mit einer Psychiaterin. Die meinte zu mir: „Sie dürfen auch ruhig mal stolz sein auf das, was sie geschafft haben.“ Und da habe ich ihr gesagt, dass ich ja nun länger als üblich studiert habe und dass das immerhin völlig normal ist, erst zu studieren, dann das PJ zu machen und dann ins Berufsleben zu starten. Und dann meinte sie, dass ich mich aber an dem „falschen Normal“ orientiere.
Man kann die Krankheit ja nun nicht ausblenden. Mal ist sie mehr da und mal weniger und in den guten Zeiten habe ich umso mehr gekämpft, alles zu schaffen. Sie meinte, mit der Diagnose ist das eine große Leistung.
Ich kann das bis heute nicht für mich annehmen. Ich meine… - was soll denn eine Psychiaterin auch sonst sagen? Sie kann ja schlecht sagen: „Sie haben Recht – Sie kriegen hier einfach nichts auf die Reihe…“

Und während ich diese Zeilen schreibe, ist gerade noch eine Mail vom Neuro – Oberdoc eingetrudelt. Mit einer Empfehlung für ein Fest am Wochenende. Und jetzt sitze ich hier schon wieder mit Tränen in den Augen. Das ist alles wirklich lieb gemeint und ich weiß es wirklich zu schätzen, aber das ist jetzt gerade der unpassendste Zeitpunkt mit einem Fest um die Ecke zu kommen… - leider.

So… - meine Schwester ist im Anmarsch und ich bin noch nicht fertig. Ich muss etwas auf die Tube drücken, fürchte ich…

Allen Lesern wünsche ich einen guten Start ins Wochenende!

Mondkind

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