Impulse aus der Arbeit im Krankenhaus


Wenn man so viel von Krankheit, Leid, Hoffen und Glauben umgeben ist, dann hält man manchmal kurz inne.
Schaut voller Demut auf sein eigenes Leben. Und ist am Ende dennoch gefangen im Strom der Gesellschaft. Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir vergessen, dass wir irgendwann alle zu Asche und Rauch zerfallen. Wir leben, als hätten wir endlos Zeit. Als könnten wir all unsere Wünsche, Hoffnungen und Träume noch ein wenig schieben. Denn nächstes Jahr ist ja auch noch ein Jahr.
Und vielleicht kann man mit der Familienplanung ja mal anfangen, wenn man den Facharzt hat. Und vielleicht ist man ja irgendwann glücklich. Wenn man mal Oberärztin und damit nicht mehr der Fußabtreter im Krankenhaus ist, eine eigene Familie gegründet hat, einen Ort – ob nun Wohnung oder Haus –nach den eigenen Vorstellungen eingerichtet hat, weil man nicht mehr jeden Cent umdrehen muss und wenn man dann vielleicht noch ein Haustier hat.
Zukunftsvision.

Ein Patient in der Notaufnahme; um die fünfzig Jahre. Eingewiesen vom Hausarzt. Der hatte erhöhte Leberwerte festgestellt und gesehen, dass die Augen des Patienten ein wenig gelb sind. Die Leber hat also irgendein Problem. Vielleicht eine harmlose Hepatitis?
Der Patient hatte eigentlich nicht unbedingt vor, zu bleiben. Er müsse doch noch arbeiten gehen – Urlaub habe er erst in ein paar Wochen.
Und dennoch bleibt er. Etwas widerwillig.
Eine der ersten Untersuchungen ist ein Ultraschall. Und bei dem was wir da sehen, bleibt uns fast das Herz stehen. Die Leber ist übersäht von Metastasen. Selbst der Chef gibt zu, so etwas noch nicht gesehen zu haben. Es scheint beinahe kein gesundes Stück Leber mehr zu geben.
In den nächsten Tagen läuft die Diagnostik auf Hochtouren. Es gilt den Ursprung des Leidens zu finden, um je nach Tumorentität schnell mit der Therapie beginnen zu können. Aber man findet einfach nichts. Das MRT vom Kopf zeigt keine Pathologien, ebenso wenig ein CT vom Brustkorb und vom Bauch. Wir nehmen alle möglichen Tumormarker ab, aber keiner davon ist eindeutig.
Schnell wird auch beschlossen, eine Biopsie von der Leber zu machen. Zu verfehlen sei der Herd ja nun nicht, wie der Chef zynisch bemerkte. Aber eine Histologie dauert mindestens drei Tage. Wir bitten die Pathologen, uns immer wieder mit vorläufigen Ergebnissen auf dem Laufenden zu halten, denn die Zeit rennt.
Bei jeder Blutabnahme steigen die Leberwerte an, der Patient wird zunehmend gelb und schwächer.
Gestern Nachmittag bin ich noch bei ihm. Ich sollte ihm nochmal Blut abnehmen. Er hat einen erstaunlich schlechten Venenstatus für so einen jungen Mann, stelle ich fest. Ich binde ihm den Stauschlauch um den Arm und klopfe ein wenig auf dem Arm, um die Venen zu ärgern und damit besser sichtbar zu machen. „Versuchen Sie es mal dort“, erklärt der Patient und zeigt auf eine Stelle ganz am Rand der Ellenbeuge. Dort habe es letztens ganz gut funktioniert.
Ich steche mehr oder weniger blind, aber erstaunlicherweise funktioniert es wirklich ganz gut. Er erklärt mir, dass seine Frau nachher nochmal kommen möchte und ich wünsche ihm noch einen schönen Nachmittag. „Wir sehen uns morgen wieder“, füge ich hinzu.

Am nächsten Morgen, als ich in den Stützpunkt laufe, kommt mir schon eine Schwester entgegen. „Mondkind der Patient ist heute Nacht leider verstorben…“
Es ist, als würde jemand einmal kurz den Kopf ausschalten. Reset – Knopf. Ich denke gar nichts und brauche erstmal in paar Minuten.
Vor einer Woche noch wähnte der Patient sich in bester Gesundheit und heute ist er nicht mehr unter uns. Es kann so schnell gehen. Und er war noch so jung. Hatte vielleicht auch noch Ziele für „irgendwann in der Zukunft“. Weil wir glauben, die sicher zu haben.

Es ist irgendwann später am Morgen, als eine Schwester mit einer Akte auf mich zukommt. „Mondkind, für die Patientin fehlt noch der Brief.“
Zugegebenermaßen fällt mir erst jetzt auf, dass die Patientin nicht mehr da ist. Sie hatte nach einem Herzinfarkt einen kardiogenen Schock erlitten und eine Woche lang sah es so aus, als würde sie das nicht überleben. „Die riecht nach Tod“, hatte die Oberärztin gesagt. Und dann saß sie doch eines Tages auf der Bettkante. Lächelte mich an und fragte mich, in welche Fachrichtung ich mal gehen wolle, nachdem ich ihr erklärt hatte, dass ich noch studiere.
Ich war erleichtert, weil die Familie erst zwei Wochen zuvor den Vater bzw. Opa verloren hatte. Das Leid war groß genug.
„Wo ist die Patientin denn mittlerweile eigentlich?“, frage ich, während ich die Akte entgegen nehme.
„Die ist leider verstorben…“
Und plötzlich habe ich wieder dieses Bild vor Augen. Wie sie in einer roten Bluse mit weißen Punkten auf der Bettkante vor mir sitzt. Ihr Lächeln, ihre zugewandte Art, die zeigt, dass sie jedes von meinen Worten verstanden hatte.
Es wird ein schwerer Brief.



Am Nachmittag sitze ich lange im Park. Das muss ich erstmal in Ruhe verarbeiten.
Da sind wieder die Schuldgefühle den Menschen gegenüber. Aber das Problem ist wahrscheinlich gar nicht mal die psychische Krankheit. Das sucht sich ja keiner aus – auch ich nicht. Auch Suizidgedanken will keiner haben.
Das Problem ist wahrscheinlich, dass auch ich glaube, sicher eine Zukunft zu haben. Ich schiebe alles ein wenig auf. Es macht ja nichts, sich ein wenig durch die Tage zu quälen, solange es eben funktioniert. Vielleicht wäre es sinnvoll, das ganze Thema nochmal in der Klinik anzugehen – wenn dafür Zeit ist. Vielleicht zwischen Examen und Berufsstart. Vielleicht aber auch nicht.
Und mal unabhängig davon, dass ich solange bis es besser wird, sinnbildlich immer am Abgrund tanze und hoffe, dass es nicht doch irgendwann mal die gefürchtete Kurzschlussreaktion gibt, ist es auch die Verschwendung vom wertvollsten Gut, das wird haben. Lebenszeit, in der wir glücklich sind.
Aber das ist glaube ich auch ein gesellschaftliches Problem. Es geht nie um den Einzelnen und dessen Glück. Es geht immer um Leistung, ständige Erreichbarkeit und Wachsamkeit und nur wer viel Einsatz zeigt, kommt weiter.
Wenn man pünktlich das Krankenhaus verlässt, wird man fast ein wenig schief angeschaut.

Ich frage mich ein wenig: Wie soll man sich in einer solchen Leistungsgesellschaft noch auf das Wesentliche besinnen? Wenn der Chef jeden Morgen der personellen Notstand heraus kehrt und erklärt, dass wir alle ein wenig zusammen rücken müssen.
Ich habe manchmal das Gefühl, dass über allem Fortschritt – vielleicht auch dem Fortschritt der Medizin, die ständig neue Erkenntnisse gewinnt und am liebsten sich bis zu einer Unsterblichkeit des Menschen entwickeln würde – der biologische Aspekt des Menschsein vernachlässigt wird. Es mag dem Druck des Krankenhauses geschuldet sein, vielleicht auch hin und wieder dem Ehrgeiz des Individuums, aber die Arbeit im Krankenhaus dankt einem keiner. Zwar ist mir aufgefallen, dass man am Telefon oft „bitte“ und „danke“ sagt, aber wenn es in der Häufigkeit vorkommt und auch dann, wenn es am Ende eines Gesprächs gar nicht nötig ist, wirkt es etwas unauthentisch. Nur damit am Ende des Tages die Frage kommt: „Warum ist Brief xy noch nicht fertig?“ Defizitdenken. Keiner sieht, was schon alles getan wurde.
Und was brauchen wir als Menschen überhaupt? Eigentlich ist es glaube ich gar nicht so schwer. Ein bisschen das Gefühl, in einer Gruppe geborgen zu sein. Irgendwo hin zu gehören. Nähe zu spüren und angenommen zu werden. Es sind eher die kleinen und vor allem die zwischenmenschlichen Dinge.

Und manchmal frage ich mich, ob ich am Ende aller Tage feststelle, dass es davon ausreichend gute Momente gegeben hat. Ob ich ein Leben gelebt habe, dass nicht nur daraus bestand zu versuchen den Ansprüchen gerecht zu werden, die scheinbar immer ein wenig über dem Niveau liegen, das man erreichen kann.
 

Mondkind

Bildquelle: Pixabay

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