Einen Tag ins Off katapultiert

Dienstag, 4. Dezember 2018
Der Oberarzt der Epilepsie – Station kommt ins Büro gelaufen.
„Schaut mal nach draußen“, sagt er zu meiner Kollegin und mir.
Über dem Wald trifft das Licht der schon fast hinter den Baumzipfeln verschwundenen Sonne auf die hinab fallenden Regentropfen und zaubert einen Regenbogen.
Ein Symbol von Hoffnung. Und das Ende eines anstrengenden Tages.

Eigentlich bin ich gerade auf der Epilepsie – Station. Dort ist allerdings aufgrund der Vertretungssituation jeden Tag ein anderer Assistenzarzt zuständig und es wird eher „so nebenbei“ gemacht. Das hat zur Folge, dass ich mich jeden Tag an den Rockzipfel von wem anders hängen müsste, jeden Tag einen anderen gefühlt hundert Mal fragen müsste, ob ich ihm Arbeit abnehmen kann. Und heute ist es die Ärztin, die mir gestern vorgeworfen hatte, meine Aufgaben nicht zu erfüllen, weil der Patient am frühen Nachmittag immer noch nicht aufgenommen worden war. Ich weiß immer noch nicht, was ich hätte machen sollen – ihn aus den Therapien raus ziehen, ist glaube ich auch nicht üblich, denn auch hier muss am Ende des Aufenthaltes der Laufzettel ausgefüllt sein; sonst kann der Patient nicht entlassen werden.
Wenn es mir ohnehin nicht gut geht, rede ich meist überhaupt nicht mehr. Dann bin ich dankbar, wenn Kollegen mir konkrete Aufgaben geben. Das geht dann; aber eigeninitiativ ist fast nichts möglich. Wahrscheinlich ist die Kollegin auch nicht daran interessiert, mir etwas zu tun zu geben –weil sie mich für unzuverlässig hält.
Es ist anstrengend den ganzen Tag mit jemandem im Büro zu sitzen, mit dem man nicht ein Wort wechselt. Ich höre nicht mal ein „bis morgen Mondkind“, als sie nach Hause geht.

Zwischendurch überlege ich noch, meinen Oberarzt aufzusuchen. Einmal gehe ich zu Fuß hinab Richtung Notaufnahme, aber er ist nicht da. Und bevor ich ihn später anrufe und ihn frage, ob er ein paar Minuten Zeit hat, drehe ich das Telefon zehn Minuten in meiner Hand. Nerve ich ihn nicht total?
Er hat Zeit – aber nur kurz. Der nächste Stroke Angel ist schon angemeldet. Ich erkläre, dass ich gerne von der Epilepsie – Station auf die Intensiv – Station rotieren möchte, weil das so für mich im Moment einfach nicht geht. Ich finde es halt selbst ein bisschen schade, weil der Stationsarzt richtig viel erklärt hat und wir gut miteinander zurecht kamen, aber keiner weiß genau, wann er wieder kommt. Der Oberarzt verspricht, sich darum zu kümmern.
„Was hast Du noch auf dem Herzen?“, fragt er. Ich berichte, dass ich absolut keinen Plan habe, wie ich es jetzt mit der Bewerbung machen soll. Er schlägt vor, trotzdem mit dem Oberarzt der Stroke Unit zu reden, wie er es mal vorgeschlagen hatte und dann die Bewerbung beim Chef abzugeben. Aber was soll ich dem Oberarzt erzählen, wenn es eigentlich eine Sache zwischen dem Chef und mir ist, wie er gestern erklärte? Und wie viele Monate ich Lücke lassen soll, ist auch eine ungeklärte Frage. Zwei oder drei Monate. „Eigentlich sollte ich das nicht mit meinem Oberarzt besprechen, sondern mit meinen Eltern, aber das ist alles nicht ganz einfach“, beginne ich. Wir überlegen kurz zusammen, was man machen kann. Er schlägt vor, dass der Sozialdienst vielleicht helfen kann, aber ich halte das für keine gute Idee. Es muss nicht das ganze Krankenhaus wissen, dass die PJlerin ihr Privatleben nicht auf die Reihe bekommt. Ich habe schon einige Anregungen bekommen. Von Überbrückungskredit bis Arbeitslosengeld war alles dabei, aber ich müsste das angehen. Und wenn man bedenkt, dass ich nur noch zwei Wochen Zeit habe, um das alles zu klären, die Bewerbung zu schreiben inklusive Bewerbungsfotos machen zu lassen und Bewerbungsmappen zu kaufen, den Umzug zu organisieren und dann irgendwie damit zurecht kommen muss, diesen Ort wieder zu verlassen – das ist mir gerade echt zu viel.
Und auch der Oberarzt meint, dass ich den Vertrag nicht einfach auf zwei oder drei Monate nach dem Examen datieren kann, wenn ich nicht weiß, ob ich die Zeit dazwischen überbrücken kann.

Ich hatte immer die Befürchtung, wenn dieser Punkt mal kommt, dass es wirklich nicht mehr geht, wird es das ganz große Desaster im Büro des Oberarztes. Denn natürlich wusste ich es gestern schon. Aber ich war ganz leise und bin auf der Sachebene geblieben.
Mittlerweile tut es einfach nur noch weh.
Und manchmal – manchmal würde ich gerne jeglichen gesellschaftlichen Anstand und die Grenzen vergessen dürfen und einfach nur die Sehnsucht des Herzens stillen. Ein Mal nur.

Zugegebenermaßen ein altes Bild aus dem Fenster meines Zimmers im Studentenwohnheim...


Freitag, 5. Dezember 2018
„Ja, der Morgen danach – das ist das Problem“, habe ich letztens gehört. Die ganze Nacht über war der Kopf ruhig, war es etwas weniger schwer, hatte ich etwas mehr Raum zum Atmen. Dafür kann ich heute morgen nicht mehr stehen. „Mondkind – bist Du noch zu retten? Das war doch gestern Abend schon klar, wie das endet“, denke ich mir. Zwar habe ich den Wecker extra eine Stunde eher gestellt, um den Kreislauf doch noch in Schwung zu bringen, denn eigentlich hatte ich nicht unbedingt fehlen wollen, aber es gelingt mir nicht.
Automatismus – Mondkind. Mondkind fehlt nie. Und eigentlich hat Mondkind keine Ahnung mehr, was sie da tut. Warum sie überhaupt ihr Kommen heute gefährdet hat. Das sind diese Aktionen, die ihr Angst machen. Was ist, wenn sie irgendwann mal nicht nur in Kauf nimmt, dass sie am nächsten Tag nicht einsatzfähig ist, sondern, dass sie vielleicht überhaupt nicht mehr aufwacht?
Es reißt wieder eine ungewollte Lücke in Mondkinds Perfektionismus – Anspruch.

Ich schreibe dem Oberarzt kurz, dass ich nicht komme, weil es mir nicht gut geht. „Alles klar, erhol Dich, gute Besserung“, schreibt er zurück. Zum Glück hat er keine Ahnung, was ich hier gemacht habe. Und ich hoffe, er wird auch nicht fragen.

Bis zum späten Nachmittag gelingt das Aufstehen nur, um kurz ins Bad zu gehen. Der Kopf ist immer noch ziemlich im Nebel und irgendwie hat es etwas, das alles mal nicht so nah zu spüren. Es sind kaum noch Menschen da, denen ich es zutraue und zumuten kann, das Chaos in mir aufzufangen. Nur ich selbst kann es eben auch nicht mehr tragen.

Eigentlich habe ich viel zu tun. Ich muss Neuroanatomie bis zum Wochenende wiederholen, ich habe noch zwei Mails, die ich beantworten muss und ich muss das Thema Bewerbung angehen. Nach einem Telefonat mit einem ehemaligen Kollegen, ist von den Vielen eigentlich nur noch eine Frage übrig geblieben. Neuro hier, oder Neuro in der Studienstadt? Und da man immer wechseln kann und weiß Gott nicht an einen Ort auf ewig gebunden ist, werde ich - da bin ich mir mittlerweile sehr sicher - es hier versuchen. Und wenn es nicht passt, suche ich mir woanders einen Job. Aber woanders anfangen und dann wieder hierher kommen, halte ich für die schlechtere Lösung.

Nur der Antrieb irgendetwas zu tun – der liegt auch noch im Bett. Und das macht den Tag – wenn man wieder etwas klar im Kopf ist – auch anstrengend. Ich weiß, ich sollte etwas tun. Aber es geht einfach nicht. Es ist ein Pendeln zwischen Bett und Schreibtisch…

Wie der Tag morgen werden soll – das weiß ich auch noch nicht. Diese Nacht sollte ich mich möglichst nicht nochmal abschießen und dann habe ich morgen ein bisschen die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder weiter Epilepsie – Station mit dem bekannten Personal – Chaos oder Intensivstation mit einem völlig neuen Personal. Wenn man sich eigentlich nur ins Schneckenhaus verkrümeln und gar keinen sehen will, ist beides ehrlich gesagt nicht sonderlich verlockend.

Ich hoffe, bald gibt es wieder positivere Dinge zu berichten. Morgen treffe ich mich – wenn ich es ins Krankenhaus schaffe – zumindest mit dem Seelsorger. Hoffe ich jedenfalls, er wusste nicht genau, ob er wirklich Zeit hat. Auch wenn ich noch nicht weiß, worüber wir reden sollen. Denn zu reden gibt es eigentlich nichts. Ich brauche gerade nur jemanden, der mitträgt.

Mondkind

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