Ein emotionaler Abschied von der Neuro

 
Nicht immer wenn 'n großer Moment vorbei ist
Weiß ich auch gleich, „Mann, es kommt nie mehr so!“
Doch was ich weiß, ich trag' ihn für immer bei mir
Und nur in mir drin kann ich ihn wiederholen

(Mark Forster – Einmal)

Ich sitze am Schreibtisch mitten in meinem viel zu großen Packchaos.
Und endlich dürfen die vielen Tränen des heutigen Tages geweint werden. Es zu viel. Viel zu viel. Diesen Moment gab es meiner Planung nie. Dieser Moment, in dem ich dem Ort, an dem ich besten Zeiten meines bisherigen Lebens verbracht habe, wieder den Rücken zudrehen muss.

Jetzt in 24 Stunden stehen all meine Sachen wieder in meiner Studentenbude und mein Vater und ich sind vermutlich gerade auf dem Weg zu ihm.

Ich habe das schlecht geplant, dass heute Abend keiner hier ist. Für mich bricht hier gerade meine kleine, sichere Welt zusammen. Dieser kleine Kosmos, in dem es alles irgendwie – auch trotz aller Tiefs hier – machbar erschien.

Den Morgen habe ich noch auf der Intensivstation verbracht. Das vom Oberarzt angekündigte „Wir reden morgen mal drüber“ nach der erfolglosen Reanimation kanalisiert sich dann in einem Gespräch im Arztzimmer, in dem er mir erklärt, warum der Patient im Prinzip schon keine Chance mehr hatte, als er durch unsere Tür kam. Schon da hatte er einen Adrenalin – Perfusor laufen. Normalerweise spritzt man das dosiert während der Reanimation – wenn er also nur darunter einen Kreislauf hatte, standen wir auf verlorenem Posten. Retten hätte man ihn nur können, wenn man seinen fatalen Zustand eher erkannt hätte – aber dafür waren wir nicht zuständig. Eventuell könnte er dann jetzt noch leben.
So richtig hilft mir das jetzt auch nicht, ehrlich gesagt.

Auch die letzte Lumbalpunktion steht heute an. Ich bin ein bisschen gestresst, weil ich möchte, dass die letzte Punktion klappt. Der Patient sitzt sehr verkrampft auf dem Bett, die Bänder sind bretthart. „Mondkind, ist das Knochen auf dem Du da bist?“, fragt sie Assistenzärztin neben mir. „Nein, Knochen fühlt sich anders an – ich bin mir sehr sicher, dass es Bänder sind.“ Die dünne Nadel biegt sich etwas, aber dann kann ich endlich durchstechen und das Nervenwasser läuft mir entgegen.

Es ist früher Nachmittag, als mein Telefon klingelt. Ein eigenartiger Schmerz durchzieht meine Brust. Es wird das letzte Mal sein, dass ich den Oberarzt auf dem Display stehen sehe. „Mondkind, ich bin jetzt in meinem Büro. Komm mal vorbei.“ Als ich seine Tür erreiche, steckt der Schlüssel von außen. Ich wundere mich etwas und klopfe zaghaft. Und als sich nichts tut, etwas lauter. „Ja“, höre ich von Innen. „Wissen Sie, dass Ihr Schlüssel draußen steckt?“, frage ich. „Den habe ich vergessen, bring ihn mit rein…“
„Du brauchst jetzt also Deine Bescheinigung…“, legt er los. Gemeinsam suchen wir sie auf den Seiten des Landesprüfungsamtes und drucken sie aus. Ich trage meinen Namen oben ein, er die Klinik sowie die Urlaubstage und dann setzt er seinen Stempel darunter.
Wir reden nochmal kurz über meinen Plan zurück zu kommen. Ich erkläre, dass mich die Intensivstation in den letzten beiden Wochen sehr verunsichert hat. Die Bewerbung ist ja nun ohnehin abgegeben, also läuft das ganze Projekt auch irgendwie an. Aber man hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass man hier keine Zukunft für mich sieht, wo ich doch sehr motiviert bin und wenn das so bleibt, bei entsprechender Förderung vielleicht wirklich mal eine gute Neurologin werde.
Er erklärt, dass man das nicht so einseitig sehen darf. Gemeckert werde überall – das gehöre ja schon fast zum guten Ton. Natürlich hat die Neurologie auch hier Schwachstellen – so wie das jede Neurologie haben wird. Aber für eine gute Facharztausbildung und ein funktionierendes Rotationssystem braucht es auch motivierte Assistenzärzte und daran hapere es auch manchmal, erklärt er mir. Und immerhin habe die Neuro schon gute Fachärzte ausgebildet.
„Unter dem Strich kann ich mir das auch nicht vorstellen jetzt zu gehen und nie wieder zu kommen“, erkläre ich, „ es ist nach wie vor das Licht am Ende des Tunnels, in den ich jetzt hinein gehe. Ich finde es nur etwas schwierig, dass ich jetzt so verunsichert bin. Ich meine, ich bin noch jung, ich kenne die Kliniklandschaft noch nicht so genau und weiß nicht, wie so etwas laufen muss und wie es anderswo läuft… Aber ich glaube, nach so langer Zeit wäre es auch die beste Idee mal auf das Herz zu hören. Der Verstand hat mich lange genug am Leben erhalten, bis das Herz wieder etwas Halt gefunden hat.“

Die fachlichen Gespräche lenken von der eigentlichen Tragödie dieses Treffens ab. Auf die wir dann aber doch noch kommen. „Naja, es ging mir schon besser“, erkläre ich. „Aber auch schon schlechter“, merkt der Oberarzt an. Eigentlich nicht… - aber das denke ich nur. Ich habe mir fest vorgenommen, nicht zu weinen. Wenn das nämlich ein Mal los geht, hört es bestimmt die nächste Stunde nicht mehr auf.
Wir halten das Gespräch über private Dinge kurz. Ich glaube, es ist im Interesse beider Seiten. Ich weiß nicht, wie bewegt er davon ist, dass es jetzt vorbei ist. Wenn er sich wirklich so gefreut hat mich als PJlerin zu haben, wie er das immer gesagt hat, ist er vielleicht auch traurig.
„Wir können ja im Kontakt bleiben“, schlägt er vor. „Du kannst immer mal schreiben. Ich möchte ja auch wissen, wie es Dir geht. Wie wir das vorher auch schon gemacht haben…“ Die Mailfrequenz vor dem PJ betrug ungefähr eine Mail alle drei bis vier Monate. Um mal kurz zu erinnern, dass es mich noch gibt und dann dieser Plan des PJs hier noch nicht begraben ist.

Zuletzt gebe ich ihm noch die Karte, die ich geschrieben und in einen Briefumschlag gesteckt habe. „Lesen Sie die mal, wenn Sie ein bisschen Zeit haben“, erkläre ich dazu. „Keine Angst, es steht nichts drin, das Sie nicht schon wüssten, aber ich wollte es nochmal schwarz auf weiß verschriftlichen…“

Die Karte für den Oberdoc

Wir stehen auf. Und wie wir im Türrahmen stehen, meine ich auch in seinen Augen ein Glitzern zu sehen. Unsere Wege trennen sich schnell. Keine Tragödien.
Ich brauche erstmal eine Pause – Toiletten sind dafür immer geeignet. Denn bei allen Plänen – wer weiß, ob wir uns wieder sehen? In zehn Monaten kann viel passieren. Ich muss die Chirurgie schaffen, ich muss das Examen bestehen. In der Zeit darf es möglichst wenige Krisen geben, damit ich genug lernen kann und nicht durchfalle. Und es darf keine Kurzschlüsse oder unüberlegten Aktionen geben, die unumkehrbare Folgen haben. Gefühlt ist die ganze Sache nicht auf dem aufsteigenden, sondern eher auf dem absteigenden Ast. Und dass es die letzten Monate über nur zwei heftige Krisen gegeben hat, habe ich in nicht unwesentlichem Ausmaß dem offenen Ohr des Oberarztes zu verdanken. Und auch er muss in zehn Monaten noch da sein.
Eventuell wird es nie wieder so, wie es mal war.

Am Nachmittag drehe ich nochmal eine Runde über alle Stationen und sammle meine Schüsseln wieder ein. Die Scones trafen auf viel Gegenliebe und die meisten Kollegen entlassen mich mit ein paar aufmunternden Worten. Den Kollegen, mit dem ich mir die letzten Wochen ein Büro geteilt habe, treffe ich im Treppenhaus. Er muss schnell los, weil er einen Termin hat. Und dann stehen wir uns da gegenüber und wissen beide nicht, was wir sagen sollen. „Darf ich Dich nochmal in den Arm nehmen?“, fragt er. Darf er. 
Der Oberarzt der Intensivstation bietet mir auch an, dass ich ihn nur anrufen muss, wenn ich zufällig in der Neurologie arbeiten wollte, an die er jetzt geht. Ich glaube, das ist auch ein riesiges Haus. Er hält wohl auch einiges von mir. Ich bedanke mich für das Angebot und verspreche, es im Hinterkopf zu behalten.

Ich packe in meinem Büro die letzten Sachen zusammen. Bis zur letzten Minute habe ich gehofft, dass die Telefonliste für Januar noch raus kommt. Da bekommen die meisten von uns neue Telefonnummern. Und obwohl ich noch nie ungefragt wen angerufen habe, wäre es schön, sie einfach zu haben.

„Frohe Weihnachten Mondkind“, wünscht mir die Dame an der Rezeption, an der ich mein Telefon und meinen Schlüssel abgebe.
Ehrlich gesagt hat es sich schon die ganzen letzten Jahre nicht mehr wie Weihnachten angefühlt. Aber dieses Jahr ist es in besonderem Maß so. Denn dieses „coming home for christmas“ stimmt irgendwie nicht – weshalb ich auch dieses Jahr bisher keine Weihnachtslieder gehört habe. Gefühlt lasse ich vier Tage vor Weihnachten einen sicheren Ort mit vielen Menschen, von denen ich viel Wertschätzung erlebt habe, zurück.

Zu Hause fällt mir auf, dass ich die letzten Zettel im Drucker vergessen habe. Ob ich morgen früh deshalb nochmal hoch gehe, weiß ich nicht. Dann geht das Gefühlschaos ja wieder los.
Ich sitze immer noch hier. Immer noch Tränen in den Augen. Und ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie ich bis morgen Früh alles gepackt haben will.

Es war absehbar. Es war dieser Moment, vor dem ich all die Monate so viel Angst hatte. Und ehrlich gesagt fühlt es sich gerade tatsächlich nicht an, als könnte man das aushalten. Wenn es einmal okay ist – warum kann dann nicht einmal alles bleiben, wie es ist? Ich habe doch genug erlebt in den letzten Jahren. Wieso kann ich nicht einfach ein Mal an dem Ort bleiben, an dem ich mich wohl fühle? Warum sieht dieses blöde PJ vor, dass ich jetzt wieder woanders hin soll?

Und als wäre das alles nicht genug, haben sich heute Nachmittag die monatlichen Mädchenprobleme angekündigt. Und während mein Bauch eigentlich nur mit einer Wärmflasche ins Bett will, muss ich jetzt noch durch die Wohnung krauchen, Schränke auswischen, die restlichen Sachen in nicht mehr vorhandene Kisten verstauen.

Ich hoffe, ich werde in zehn Monaten diesen Blogeintrag zitieren. Mich selbst in den Arm nehmen und mir sagen wollen, dass es alles irgendwie geklappt hat. Und dass sich vielleicht nicht viel ändert. Dass ich dort anknüpfen kann, wo ich einst aufgehört habe. 

Letzter Blick über den Campus. Für wie lange wohl?


Mondkind

P.S. Überlest bitte einfach die Rechtscheibfehler heute.Vielleicht kommt in den nächsten Tagen auch noch ein ausführliches Review über die Neuro, aber gerade geht es wirklich nicht.

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