Bröckeln der Fassade
Heute Morgen ist es passiert. Auf den letzten Metern. Als ich schon
gehofft hatte, dass ich es diesmal umschiffe, weil es doch die letzten Tage
gemessen daran, dass es die letzte Woche ist, sehr gut lief. Fast ein bisschen
zu gut.
Auf der Station musste ich mich den ganzen Tag über bemühen, die
Fassade aufrecht zu halten. Obwohl jede Aufgabe eine zu viel war, ich vor jedem
Handgriff Angst hatte, weil ich einfach nicht bei der Sache war. Das Gebimmel
der Monitore, das ich sonst ganz gut aushalten konnte, war viel zu viel und
viel zu laut, jede Stimme zu streng, jede Aufforderung zu scharf.
Acht Stunden. Irgendwann war die Anspannung so hoch, dass egal wie ich
mein Bein auf den Boden gestellt habe, es nach fünf Sekunden wieder zu zittern
begonnen hat. Ich weiß nicht, ob den Kollegen etwas aufgefallen ist. Gesagt hat
keiner etwas. Also scheine ich es gut gemacht zu haben.
Es ist viel passiert. Beruflich und privat. Auf die meisten Dinge
möchte ich gar nicht eingehen.
Auf der Station haben wir heute
Morgen bei unserem Schlaganfallpatienten die Maschinen abgestellt. Ein paar Minuten
später schlugen die Monitore Alarm und zeigten die Asystolie an. Kein Rennen
über den Flur. Wir lassen ihn aus dem Diesseits ziehen… - diesen Menschen. Viel
zu früh, viel zu jung, viel zu unterwartet.
Irgendwie dürfte auch ich langsam geschnallt haben, dass meine Familie
die Sache meist nicht besser, sondern schlechter macht. Es gibt diese Stunden,
die gut sind. Aber es gibt auch viel unterschwellige Aggressivität, viele
stumme Vorwürfe. Man kann sich auf nichts und niemanden verlassen. Und es kann
sich auch niemand mit einem freuen. Ich weiß noch, der Abend nach dem Examen –
wir standen am Fluss. Eine meiner Kommilitonen fragte mich, ob meine Eltern sich
schon erkundigt haben, wie es gelaufen ist. Hatten sie nicht. Ich hatte bis
dahin nicht viel darüber nachgedacht, aber es stellte sich heraus, dass in
jeder Familie schon über das – bei uns allen erfolgreiche – Examen gesprochen
wurde. „Mondkind, auch wenn es Dir keiner sagt, aber Du kannst sehr stolz auf
Dich sein…“, sagte die Kommilitonin.
Zu meiner Aussage, dass ich zwar immer noch nichts Schriftliches habe,
aber das „Indianeroberehrenwort“ des Oberarztes und die Tatsache, dass ich auf
dem Stellenplan stehe und damit zu fast 100 % den Job habe, wurde nur gefragt: „Mondkind,
willst Du direkt nach dem Examen arbeiten?“ „So irgendwann, ja“, war meine
Antwort. „Also ohne Pause?“, fragte meine Mutter. Was sie eigentlich fragen
wollte war: „Kann ich mich darauf verlassen, dass Du sofort arbeitest und nicht
einen Zwischenstopp in der Klinik einlegst?“
Vielleicht sollte mich das nicht so bewegen. Vielleicht sollte es
reichen, wenn ich zu mir selbst sage, dass ich stolz auf mich sein kann. „Mondkind,
Du brauchst nicht die Bestätigung von anderen“, ist immer mal wieder die
Aussage. Aber manchmal wünscht man sich das doch, dass sich einem nahe stehende
Menschen mit einem freuen.
Die Intensivstation schmeißt mein Konzept hier zu arbeiten, aber immer
wieder durcheinander. Sie kommen wirklich mit stichhaltigen Punkten um die
Ecke, die man eigentlich überdenken müsste. Denn ja – ich möchte eine sehr gute
Neurologin werden. Und die Kollegen der Intensivstation fragen sich laut, ob
ich hier eine berufliche Zukunft habe.
Ich kann die Argumente nicht von der Hand weisen. Aber sie kennen die
Story dazu nicht. Ob das hier nun alles Sinn hat oder nicht, ob es Illusion
sein mag, oder nicht – aber die Vision dieses Ortes hat mich über die
dunkelsten Zeiten gezogen. Ein Phänomen, das bis heute besteht. Nur wenn ich
jetzt in den Tunnel hinein gehe, kann ich auch am Ende – im Herbst nächsten
Jahres – das Licht wiedersehen.
Es sind eben viele private
Gründe dabei.
Plötzlich sind die ganzen Zweifel wieder da. Wird das alles etwas
werden? Werde ich mich irgendwann umdrehen und sagen: Keine Ahnung wie, aber
ich habe es geschafft. Wird es
irgendwann mal Menschen geben, die mir wichtig sind und die auch bleiben können?
Von denen ich nicht weiß, dass es nur auf Zeit ist? Oder werde ich lernen, mit
Abschieden zu leben? Weil es einfach zum Leben dazu gehört, auch wenn sich hin
und wieder der Verstand ausschaltet und man sich fragt, ob nicht entgegen aller
Gesetze, die man gelernt hat, der Mensch
doch bleibt?
Bin ich überhaupt richtig auf meinem Weg? Orientiere ich mich nicht
viel zu viel an zwischenmenschlichen Dingen? Und zu wenig daran, wo ich
Karrierechancen habe? Aber ist nicht auch Zwischenmenschliches okay, wenn ich
damit glücklicher werde und an der Karriere Abstriche machen kann? Weil es doch
darum am Ende geht. Zufrieden zu sein mit dem, was man tut.
Es gibt Menschen die sagen, dass es an mir liegt, wie ich die
Situation bewerte. Aber man kann nicht immer alles versuchen irgendwie ins
Positive zu drehen. Zwei Tage, bis mir wieder alles auseinander bricht, bis ich
Stützen verliere, die mir so wichtig sind, bis ich den Rahmen eines Alltages
verliere, der mir in den letzten Monaten Halt gegeneben hat. Wie soll ich das positiv
sehen, wenn jede Neuorientierung keine aufregende Sache, sondern einfach nur
anstrengend ist?
Hin und wieder komme ich mir tatsächlich vor wie ein Spielball, den
sich alle munter hin und her werfen.
Ich weiß: Einige denken jetzt: „So, so… Passivität und Opferrolle…“ Ja
ich weiß. Aber man kann nicht jeden Tag kämpfen. Manchmal bin ich einfach müde
davon, gefühlt nur Steine jeden Tag aus meinem Weg zu räumen.
Heute Abend ist Weihnachtsfeier der Klinik und eigentlich gehört es
zum guten Ton, dorthin zu gehen. Aber irgendwie… - der Punkt, an dem man sagen
könnte: „Mondkind, Abwechslung tut Dir vielleicht gut“, ist vorbei. Ich kann
keine Fassaden mehr aufstellen heute Abend. Eigentlich hatte ich es wirklich
geplant hinzugehen. Aber allein der Gedanke an die ganzen Menschen in Kombination
mit meiner in solchen Tagen immer ganz besonders ausgeprägten Hasenfüßigkeit…
Ich hoffe, es wird besser. In dem Zustand zu meinem Vater fahren, ist
eher weniger lustig.
Mondkind
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