Intensivstation und die Ruhe vor dem Sturm


„Ich glaube, wir sind die Station, die hier am meisten lacht. Aber das müssen wir auch hier…“

Wahrscheinlich. Denn die mehr tot als lebendigen Leute, die ich bei meinem ersten Besuch auf der Stroke Unit im Jahr 2016 dort erwartet hatte, liegen hier.  Oder eben alle Krankheitsbilder, die dazu geführt haben, dass die Menschen – ohne es böse zu meinen – kein Hirn mehr haben. Zumindest vorübergehend. Bis die untergegangenen Funktionen auf andere Bereiche ausgewichen sind, so das möglich ist.

Es hat allerdings nicht immer alles mit dem Hirn zu tun. Manchmal zicken auch die Nerven in der Peripherie. Dafür dann aber alle. Heute haben wir eine Dame aus der benachbarten Klinik mit einer Critical illness neuropathie bekommen. Über das Krankheitsbild habe ich schon eine Menge gelesen, aber gesehen habe ich es noch nicht. Es tritt häufig dann auf, wenn schwer kranke Menschen eine Weile im Koma lagen und Komplikationen – in etwa eine Sepsis – aufgetreten sind. Man vermutet, dass die toxischen Abbauprodukte die während der Entzündung entstehen, die Nerven angreifen und es allen voran zu motorischen – weniger zu sensiblen – Ausfällen kommt. Häufig bleibt die Erkrankung einige Zeit unbemerkt, da sich Menschen im Koma ja ohnehin nicht bewegen. Es fällt dann auf, wenn man die Patienten nicht von der Beatmungsmaschine entwöhnen kann, da auch das Zwerchfell mitbetroffen ist.
Die Patientin ist wach und ansprechbar, sie kann die Augen bewegen, den Kopf drehen und die Fingerspitzen bewegen. Langsam verstehe ich auch, weshalb so viele Menschen nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation traumatisiert sind. Es geht nicht darum, dass wir nicht vorsichtig und bestmöglich mit den Patienten umgehen und sich alle Beteiligten so viel Zeit nehmen, wie sie eben haben. Es geht um die Hilflosigkeit da tagelang zu liegen und sich nicht bemerkbar machen zu können. Irgendetwas wollte sie uns heute mitteilen, das haben wir gemerkt. Es hat bestimmt 20 Minuten gedauert, bis wir herausgefunden haben, dass sie Schmerzen in der Hüfte hat.
Auch wissen Menschen ohne medizinischen Hintergrund nicht, wie sehr sich die Situation wieder bessern wird. Weit mehr als 50 % der Patienten verlassen das Krankenhaus Monate später ohne jegliche neurologische Einschränkungen.

Aber dennoch… - jetzt liegt sie da, bemerkt nur, was mit ihr geschieht und kann nichts anderes tun, als es über sich ergehen lassen und die Zeit ihr übriges tun lassen.

Heute morgen auf der Visite hatten wir übrigens auch ein sehr schöne Ereignis. Wir haben einen Mann bei uns liegen, der eine Sinusvenenthrombose und im Anschluss noch eine Hirnblutung hatte. Er liegt wohl schon ewig da, man hatte sich zwischendurch gefragt, ob er es wohl schaffen wird. Mit dem Atmen klappte es in den letzten Tagen aber immer besser, sodass wir ihn von der Maschine nehmen und die Trachealkanüle entblocken konnten. Ein paar Tage hat das nicht dazu geführt, dass der Patient irgendeinen Ton von sich gegeben hat. Und heute in der Visite hat er plötzlich den Pfleger mit Namen angesprochen. Es war so schön, wirklich… 

Es hat schon Stil, dieses Rot im Gegensatz zum langweiligen weiß...



Ansonsten… - es ist ein bisschen die Ruhe vor dem Sturm. Kennt ihr das... - wenn man genau weiß, dass da etwas kommt und man am liebsten schon heute mitten drin sein würde, um schneller damit durch zu sein und es aus dem Kopf zu haben?

Ehrlich gesagt will ich überhaupt nicht wissen, wie es mir heute in einer Woche geht. Nächste Woche wird es schon mal stressig. Weihnachtsfeier, Packen, nochmal die Wäsche machen, weil ich dann ewig keine Waschmaschine habe, den letzten Tag vorbereiten. Und Freitag geht es erst zurück in die Studienstadt und danach direkt zu meinem Vater und da ist auch Programm geplant.
Ich vermute allerdings, dass es mir lieber wäre, allein zu sein. Nicht so tun müssen, als sei alles okay, obwohl es absolut nicht okay ist, dass alles was mir die letzten Monate Halt gegeben hat, zusammenbricht. Morgen telefoniere ich noch kurz mit der Therapeutin und ich weiß nicht, ob es Sinn hat, das nochmal anzusprechen, ob sie nicht doch noch ein paar Wochen zur Verfügung steht. Aber eigentlich frage ich nicht fünf Mal nach, wenn jemand „nein“ gesagt hat.

Da ist Angst… - sehr viel Angst. Wenn ich mir so anschaue, was ich in den letzten Wochen gemacht habe: Auf Arbeit gehen, nach Hause kommen, so platt sein, dass bis auf ein bisschen bloggen oder spazieren gehen nichts mehr mit mir anzufangen ist und dann ins Bett gehen. Am nächsten Tag von vorne. Ich habe auch in den letzten Monaten immer aufgepasst unter der Woche nicht mehr einkaufen gehen zu müssen.
Solang es auf der Arbeit einigermaßen läuft, ist das kein Problem. Und an den Wochenenden… - da war auch nie viel los, wenn es nicht sein musste.
Das ändert sich alles im Januar. „Mondkind, Du bist doch dann wieder da…“ – wie oft ist das jetzt schon die Einleitung in verschiedenste Themen gewesen? Keine Ahnung, wie ich das letzten Jahr im Sommer gemacht habe (obwohl es ja am Ende der SemesterFERIEN (!) auch in eine Krise aufgrund von Überforderung mündete), aber das packe ich einfach nicht. Allein diese paar Termine im Januar bei verschiedensten Ärzten stressen mich schon zu Tode – und ich nehme auch schwer an, dass es nicht bei einem Zahnarzttermin bleiben wird. Aber der Plan ist bis zum Ende der Chirurgie – Zeit mit allen Pflichtveranstaltungen hinsichtlich Ärzte erstmal durch zu sein, damit ich in Ruhe lernen kann. Ich muss das „nur“ alles durchhalten.
Jedenfalls: Nein, ich kann mich nicht beständig nach der Arbeit mit allen möglichen Leuten treffen und nein, das geht auch nicht regelmäßig am Wochenende. Ich muss dann auch schon langsam mal wieder den Blick aufs Examen richten, wenn ich Kapazitäten übrig habe.
Ich fürchte nur, ich werde es mal wieder nicht schaffen, „nein“ zu sagen und mich damit dann auch noch stressen.

Ehrlich gesagt – ich war ganz froh, hier dieses ruhige Landleben zu haben. Man hat in der Stadt alle Läden, die man braucht. Wenn man nach der Arbeit oder am Wochenende eine Runde spazieren gehen will, dann gibt es genug Möglichkeiten und falls man sich mal ins Cafè setzen möchte, ist das auch kein Problem – aber es gibt nicht dieses Überangebot von Möglichkeiten, das einen erschlägt und von dem man immer meint es wahrnehmen zu müssen, um im Sozialleben präsent zu bleiben und nichts zu verpassen.

Meine größte Sorge ist einfach der Druck, der dahinter steht. Ich habe vorrausichtlich keinen mehr, der eine Dekompensation der Situation auffängt. Es gibt – nach jetzigen Stand keine Therapeutin mehr und es gibt auch keinen Oberarzt mehr, der zehn Minuten in seinem Büro über hat und keinen Seelsorger , der mit mir in der Kapelle das Chaos im Kopf sortiert.
Ich muss selbst zurecht kommen. Und wenn ich den Vertrag für die Neuro dann unterschrieben habe, muss ich auch das Examen machen. Das bedeutet: Keine Fehltage, Freizeit zum Lernzettel schreiben nutzen, pünktlich und planmäßig in den vorerst letzten Lernmarathon zu starten und dann irgendwann zwischen Anfang Mai und Ende Juni zwei Tage abliefern.

Was mich immer so ein bisschen stört ist, dass jeder sagt: „Du schaffst das.“ Und bisher ging es auch meistens – wenn auch mit vielen schwierigen Zeiten. Was es viel einfacher gemacht hätte und was ich mir immer gewünscht habe ist, dass jemand sagt: „Wir schaffen das zusammen.“
Und wenn jemand in irgendeinem Zusammenhang das Wort „wir“ in den Mund nimmt, werde ich meist – als sei das Gehirn ein bisschen darauf getrimmt – hellhörig.
 

Mondkind

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