Rückblick - Mein Jahr 2018


In den letzten Tagen habe ich immer wieder ein Stück am Jahresrückblick und wahrscheinlich auch letztem Blogeintrag des Jahres 2018 gearbeitet. Eigentlich hatte ich ihn erst morgen hochladen wollen. Da ich aber jetzt zu einer Freundin und danach direkt in Richtung meines Elternhauses aufbreche und nicht weiß, wie dort die Situation mit dem Internet für Dinge aussieht, die nichts mit der Uni zu tun haben, lade ich den Blog lieber jetzt hoch – stressfrei.

Die Stunden, die ich mit dem Schreiben verbracht habe, waren sehr emotional – an manche Dinge habe ich mich erst erinnert, als meine Finger aus dem Knäuel in meinem Kopf, Worte geformt haben.
Wer Lust und Zeit hat, holt sich am besten einen Kaffee oder einen Tee, setzt sich in eine ruhige Ecke und begleitet mich noch einmal durch die letzten zwölf Monate im Schnelldurchlauf. Vielleicht ist das auch für diejenigen interessant, die den Blog noch nicht so lange lesen.

Ich möchte den Anlass nutzen und an der Stelle auch nochmal allen Lesern danken, die gedanklich bei mir waren. Ebenso war ich hin und wieder gerührt von den Nachrichten, die mich auf verschiedensten Wegen erreicht haben, mir manchmal Mut gemacht haben, aus der Patsche geholfen haben oder die einfach nur gezeigt haben, dass Menschen meinen Weg gedanklich begleiten.

Ich wünsche Euch allen einen guten Start in das Jahr 2019. Es ist die erste Seite eines neuen Kapitels. Kein kompletter Neuanfang, da jedes Kapitel in einem Buch auf dem vorhergehenden Kapitel aufbaut. Aber dennoch vielleicht eine gute Gelegenheit, um bewusste Entscheidungen zu treffen. Ich wünsche Euch neben Gesundheit – ganz viel davon… - den Mut, dass viele der Wünsche, Hoffnungen und Ideen, die in Euren Köpfen herum geistern, in die Realität umgesetzt werden können. 

Neuer Kalender... - gekauft habe ich ihn in einem winzigen Laden im Dorf.
Als Erinnerung an das letzte Jahr und daran, dass dieser Kalender zurück "nach Hause" soll

***

I wanted to let go and give up the fight
Tell my heart it can stop beating
You gave me a reason to believe in myself
Just when I'd given up dreaming

(Ronan Keating – Just when I’d given up dreaming)

In den letzten drei Jahren schreibe ich in meinen Rückblicken immer, dass es ein turbulentes Jahr war. So auch dieses Jahr wieder. Werfen wir einen Blick zurück auf den letzten Eintrag aus 2017.

Kurzer Blick auf nächstes Jahr.
Geplant ist es, jetzt bis April den Lernplan zu verfolgen, dann das Examen zu schreiben und dann habe ich noch einen Monat frei. Was ich in der Zeit mache, weiß ich noch nicht.
Und dann beginnt – wo auch immer – das PJ. Vielleicht werde ich den Großteil meines Jahres sehr weit weg verbringen.
Vielleicht bin ich in 12 Monaten auch dankbar für das Jahr. Vielleicht habe ich dort unten irgendwie Fuß gefasst, Freunde gefunden, einen idealen Ort zum Arbeiten. Denn trotz aller Ängste die das jetzt mit sich bringt, hatte ich schon meine Gründe, so sehr an diesem Ort festzuhalten.
Vielleicht findet sich alles irgendwie

Es ist ein bisschen unglaublich. Hätte mir zu dem Zeitpunkt, an dem dieser Eintrag entstanden ist  jemand gesagt, dass ich heute hier sitze, mit einem Examen, das besser ist, als ich es mir zu dem Zeitpunkt erträumt hatte, mittlerweile die ersten 2/3 des PJs geschafft habe und wirklich sehr dankbar für die letzten Monate bin – wahrscheinlich hätte ich es nicht für möglich gehalten. Ich habe mir viel gewünscht, viel gehofft, ich hatte meine Vorstellungen. Aber dass es alles wirklich klappt – teilweise sogar noch besser als erhofft… - es ist erstaunlich.
Und wenn man bedenkt, dass ich mir nach dem Examen nicht sicher war, ob ich das Ende des Jahres noch erlebe… - zu tief saß die Angst, dass dieser Ort in der Ferne doch nur ein Traum, ein Stück Illusion ist. Dass all das, wofür ich so lange gekämpft habe, gar nicht existiert... – dann ist es noch ein bisschen erstaunlicher.

Aber gehen wir zurück. Zu den Anfängen des Jahres 2018. Januar. Der Lernplan hatte gerade erst begonnen. Zwar hatte ich einen Plan aufgestellt, ich hatte die Tage durchgezählt, nummeriert und für jeden Tag gab es ein von mir selbst zusammengefasstes Script. Aber was da vor mir lag, war ein sehr großer Berg von Arbeit. Allzu viele Krisen zwischendurch konnte ich mir nicht leisten. Die Aussicht auf die Art die Tage bis Mitte April zu verbringen, war ehrlich gesagt nicht besonders verlockend.
Die Therapeutin war so lieb und hat mir kleine Etappen gebastelt, in dem sie auf beinahe jeden Donnerstag einen Termin gelegt hat. Immer wenn es ging auch in den Randbereich, sodass ich nicht mitten am Tag mein Programm unterbrechen musste.
Meine Tage starteten morgens um 6 Uhr am Schreitisch mit einem Kaffee. Und während es draußen innerhalb der nächsten drei Stunden hell geworden ist, habe ich die ersten Seiten auswendig gelernt. Mittags waren immer Einkaufen, Putzen oder sonstige Erledigungen dran, die gerade anstanden, um die Mittagspause produktiv zu nutzen. Und dann ging es bis in die späten Abendstunden weiter. Zu Beginn habe ich noch versucht, die Freunde regelmäßig zu sehen. Aber es war ein Unterfangen, das ziemlich aussichtslos war. Ich habe mich tagelang damit gestresst, an einem Nachmittag oder Abend mal zwei freie Stunden zu basteln, sodass ich es dann gegen Ende Januar ganz eingestellt habe. Mir war bewusst, dass es sein könnte, dass die Freunde das nicht verstehen, aber es war auch die Vorbereitung auf eine der größten Prüfungen meines bisherigen Lebens.


Wenn ich bedenke, dass diese Bilder bald wieder kommen...


Kakao - Pause... - das sollte ich auch 2019 wieder einführen 😋



Nachdem mir so viele Leute erzählt hatten, dass die Zeit der Examensvorbereitung die schlimmste ihres Lebens gewesen sei, fand ich es sehr überraschend, dass ich das streckenweise sogar als relativ entspannt erlebt habe. Ich wusste jeden Tag genau, was ich zu tun hatte; das Examen war noch einige Wochen entfernt. Es gab keine blöden Situationen in der Uni oder in Famulaturen, in die man hinein laufen konnte; keinen der einem den ganzen Tag verständlich gemacht hat, was man alles nicht kann. Wenn ich donnerstags von meiner Therapeutin zurück ins Studentenwohnheim geradelt bin, meinte ich zu wissen, was passiert, bis ich wieder dort aufschlage. Und für einen Menschen wie mich, war diese Vorhersehbarkeit sehr beruhigend. 


😂 Wenigstens gab es hin und wieder etwas zu lachen...

Der Stapel an durchgearbeiteten Scripten wuchs... 👍



Zwischendurch gab es immer wieder Situationen, die mich aus dem Konzept gebracht haben. Manchmal waren die familiärer Natur, manchmal hat die Therapeutin mich gestresst. Zum Beispiel damit, dass sie mich eigentlich ab Ostern an wen anders abgeben müsse, spätestens aber nach dem Examen. Meine damalige Lebensversicherung geriet ein wenig ins Wanken. Auf absehbare Zeit würde ich ganz alleine auf meinem Pfad unterwegs sein und das hat sehr viel Angst gemacht.

Irgendwann musste ich mir auch die Frage stellen, wie und wo ich mein PJ machen möchte. „Mein“ Neuro – Oberarzt hatte mir Ende 2017 geschrieben „Mondkind, wir können jetzt auch Innere.“ Und während ich mich im ersten Moment über den Satz gefreut hatte, bedeutete das auch eine Menge Unsicherheit. Dass mein Herz an diesem Ort hängt, das wusste ich. PJ an einem kleinen Kreiskrankenhaus schien verlockend, aber wie soll das bitte beinahe acht Monate ohne Stütze gehen? Der Neuro – Oberdoc und ich – wir kannten uns zwar, aber noch nicht so gut. Und dass da im Sommer irgendwann ein Pfarrer auftauchen und die Sache mittragen wird, wusste ich zu dem Zeitpunkt auch nicht – sonst hätte ich mich im Leben nicht so verrückt gemacht.

Nachdem ich dem Oberarzt der Neurologie meine Bedenken mitgeteilt und ihn auch erstmalig erklärt hatte, warum ich jetzt überhaupt ein halbes Jahr später dran bin als geplant, kam eine ganz liebe Mail zurück. So etwas ähnliches habe er sich schon gedacht, da man neben der Zielstrebigkeit, dem Ehrgeiz und der Professionalität auch etwas ganz Zerbrechliches an mir bemerke und er werde mir helfen, wo er könne. Wenn ich das wollte, dann würden wir das hinbekommen. Wir…
Ich weiß noch genau, wie eine Freundin und ich in ihrer Küche standen und darüber debattiert haben, ob ich es mache oder nicht. Und darauf gekommen sind, dass es in Krisen einfach schwierig werden wird, weil Hilfe schwer erreichbar ist. Die Freundin stellte damals fest, dass es für mich nicht ganz ungefährlich ist, dort runter zu gehen. Hatte ich in der Studienstadt immer die Ambulanz als Versicherung im Rücken auch in schweren Krisen nicht daran kaputt gehen zu müssen, solange wie ich noch in der Lage bin das dort zu kommunizieren, würde die Sache mitten auf dem Land anders aussehen.
Aber es würde auch eine Chance für mich sein. Ich könnte viel lernen in einem kleinen Haus, ich könnte in der Neuro Fuß fassen und immerhin hatte ich dort auch schon gute Zeiten verbracht.
Am Ende wurde es ein „Ja“ für die acht Monate. Nicht ohne, dass ich mich danach beinahe täglich gefragt habe, ob es die richtige Entscheidung ist.

Während ich weiterhin emsig für das Examen gelernt habe, ist Frühling geworden. Irgendwann fiel mir bei meinen wöchentlichen Fahrten an die Ambulanz in der Uni auf, dass die Kirschbäume wieder blühten und kurz darauf die ersten hellgrünen Blätter zu sehen waren. Die Vögel kamen wieder, jenseits der Fensterscheiben kehrte das  Leben zurück. Es wurde warm draußen, ohne dass ich es gemerkt hatte und so kam es, dass ich bei beinahe 20 Grad mit Winterjacke los fuhr zum Einkaufen. 

Noch war Winter...
Ich hoffe mein viertes Fach wird nicht Epidemiologie...

Frühling... ! Ich liebe die Kirschbäume - und von denen gibt es bei mir viele!💛


Vor dem Examen stellte sich dann die Frage, wie man nach dem Examen weiter macht. Der Gedanke an das PJ hat mich zusammen mit der Therapeutin über die Wochen gezogen. Was immer im Hintergrund mitlief, war die latente Suizidalität. Mal stand sie mehr im Vordergrund, mal weniger. Mal wusste ich nicht, ob ich das PJ überhaupt noch erleben wollte – zu groß war die Angst, dort unten doch in aller Einsamkeit unter zu gehen. Zwar hatte der Neuro – Oberarzt viel geredet, aber würde er wirklich für mich da sein? Kann ich mit meinem Chaos – Kopf überhaupt eine gute Ärztin sein? Schaffe ich es, auf die Patienten einzugehen? Kann ich überhaupt irgendetwas? Und wenn sich das alles als nicht machbar herausstellt – was bleibt dann noch? Ich bestehe doch quasi nur aus Uni…

Nach und nach formte sich der Plan, die fünf Wochen nach dem Examen nochmal für einen Klinikaufenthalt zu nutzen. Während man von anderen gehört und gelesen hat, die nach dem Examen erstmal in die Karibik fliegen, haben die Therapeutin und ich sich Gedanken gemacht, wie man das möglichst zeitnah nach dem Examen organisieren kann.
Daneben bestand die Angst, dass ich nach dem Examen ohnehin völlig zusammen breche. Der Druck funktionieren zu müssen würde nicht mehr da sein und darüber hinaus hatte die Therapeutin angekündigt, in der Woche nach dem Examen den letzten Termin mit mir zu machen.

Rückblickend betrachtet wundere ich mich, wie das überhaupt alles ausgehalten habe. Das Examen vereinnahmt einen ja in diesen Tagen voll und ganz und nebenbei lief vieles aus dem Ruder. Am Morgen des zweiten Examenstages wurde dann auch klar, dass meine Mutter mir hinsichtlich der Idee Klinik einen Strich durch die Rechnung macht. Unter der Androhung schuld zu sein, wenn meine Schwester das Auto auf dem weiten Weg quer durch Deutschland zu unserer Oma  an die Leitplante fährt und mit der Aussicht den Geburtstag in Paris zu verbringen, was bereits gebucht worden sei, meinte ich kaum noch eine Chance zu haben.
Wenn ich es heute überdenke frage ich mich ein bisschen, warum ich mich da habe so erpressen lassen. Aber es lag so viel Druck auf mir wegen des Examens und der Aussicht, dass ich kurz vor dem PJ völlig auseinander falle, dass ich nicht mehr klar denken und mich nicht auf die Hinterfüße stellen konnte. 


Drei Tage - drei Hefte! Und bestanden 😃 (Wahrscheinlich bewahre ich die bis zum Ende meines Lebens auf...😂)

Und so wurden diese fünf Wochen bevor das PJ startete, mehr oder weniger ein Alptraum. An die Fahrt zu meiner Oma habe ich ehrlich gesagt kaum noch Erinnerungen und auch Paris verschwimmt vor meinem geistigen Auge - abgesehen von dem Attentat, das vor unserem Hotel stattgefunden hat. Die zerbrochene Glastür beim Bäcker nebenan, das Blut und die Kleidung auf der Straße, das weiße Tuch, das über einem toten Mensch auf der Straße lag eingetaucht in Blaulicht und Sirenen, die die Dunkelheit der Nacht zerrissen haben. Und die Frage, warum die Menschheit so grausam ist. Warum Menschen, die auf dem gleichen Planeten unter der gleichen Sonne leben, die doch alle nur ihr Leben leben wollen – warum sie sich gegenseitig töten. 

Die Stadt, in der ich geboren wurde...


Auf einer Wanderung...

Na, wer kennt's?

Paris... - einziger "Urlaub" dieses Jahr

Und das ist meine Wenigkeit...

Zwischendurch gab es noch ein paar Mails zwischen dem Neuro - Oberarzt und mir. Ich glaube, er hat mir mindestens drei Mal zum Examen gratuliert, hat sich glaube ich mehr gefreut als irgendwer anders und irgendwie hat er mir über die Tage bewusst gemacht, dass ich da doch einen riesigen Meilenstein geschafft hatte.

Allmählich packte ich nach und nach meine Sachen zusammen – mit vielen, vielen Zweifeln. Hätte ich gewusst, wie sich am Ende alles fügen würde, hätte ich mir nicht halb so viele Sorgen gemacht – aber das wusste ich nicht. 

Der Umzug war ein Kraftakt. Mein ganzes Hab und Gut wurde in zwei Autos verstaut. Damit es passt, hat mein Vater einiger der Kisten wieder ausgepackt – und ehrlich gesagt war ich gar nicht begeistert davon, dass mein Besitz so inspiziert werden konnte.
Altbekannte Straßen. Ein komisches Gefühl. So vertraut irgendwie. Als sei man nie so richtig weg gewesen. Mein Vater fuhr sofort wieder, meine Schwester einige Tage später und dann stand ich da – in meiner recht luxuriösen PJler – Wohnung und wartete den ersten Tag ab. 

Erster PJ – Tag in der Inneren. Es war chaotisch. Überhaupt nicht, wie ich mir das vorgestellt hatte. Alle waren im Stress. Der Chef war nicht da, ich wurde schnell einer Oberärztin zugeschoben, die mich erst mal ausfragte, was ich denn alles schon gemacht hätte - was nicht sonderlich viel war. Noch nie Stationsarbeit gemacht, noch nie in der Notaufnahme gearbeitet, noch nie Rettungsdienst gefahren. Wie sollte ich dem Krankenhaus irgendetwas nutzen? Sie hat mich dann erstmal einer Ärztin zugeordnet, die mich mit der Aussage „Mondkind mach mal Kurvenvisite“ im Schwesternzimmer zurück gelassen hat. „Was zum Geier ist eine Kurvenvisite?“, fragte ich mich und blätterte planlos durch die Akten. Als sie wiederkam hatte ich was getan…? Nichts.
Zweiter Auftrag. „Mondkind, geh mal ins Zimmer 218 und mach Visite.“ Erstmal zuschauen zu dürfen, wäre ja schon nett gewesen. Und bei dem Gegacker, das hinter mir los ging war mir auch klar, dass da irgendwo ein Haken sein musste. Und da war auch einer. Ein Gewaltiger. Eine Patientin, die ich überhaupt nicht kannte, die mir erklärte, dass alle Medikamente nichts brächten und die sich darüber echauffierte, dass wir sie nicht ins Thoraxzentrum verlegen. Ich versprach das mit den Kollegen abzusprechen und habe – nachdem ich eine ¾ Stunde später endlich aus dem Zimmer war – erstmal eins auf den Deckel bekommen für die Nachfrage, ob wir die Patientin auf ihren Wunsch hin verlegen können. Was ich nicht wusste war, dass die Patientin quasi Dauergast war. Allein in diesem Jahr hatte sie schon über 20 Aufenthalte hinter sich – es war mehr ein soziales Problem, als irgendetwas anderes.
Wenn das jetzt wochenlang so weiter gehen würde… - so hatte ich mir das nicht gedacht.

Tags darauf war ich das erste Mal in der Neuro. An der Rezeption vorbei, die Treppen hinab, den gelben Pfeilen mit der Aufschrift Notaufnahme folgen und kurz davor rechts in den Diagnostikflur abbiegen. Und da stand er dann… - „mein“ Neuro – Oberarzt. Nach so langer Zeit wurde erstmal eine Umarmung fällig.
Wir haben über das PJ geredet und er hat mir erklärt, das sei wie Fahrschule. Am Anfang mache man alles mit dem Fahrlehrer zusammen, sodass er immer sofort korrigierend eingreifen kann und nach und nach zieht sich der Fahrlehrer immer mehr zurück, lässt einen allein über die Landstraße und gegen Ende das erste Mal alleine auf die Autobahn fahren.
An diesem Abend war ich das erste Mal der Überzeugung, dass es sich alles gelohnt hatte. Und dass es werden würde.

Dieses „Fahrschulkonzept“ hatten die Kollegen der Kreisklinik noch nicht verinnerlicht. Am zweiten Tag hatte man mich in die Notaufnahme gestellt, nicht selten hatte ich noch den Pieper dazu und sollte mich um halb sterbende Omas mit einer Lungenentzündung oder Herzinsuffizienz kümmern, die nach Luft japsend und mit schlechter Sättigung zu uns rein geschoben wurden.
Zum Glück war die Oberärztin, auf die ich am ersten Tag getroffen war, sehr begeistert, nachdem ich einem Patienten mit Schwindel und einigen Ergebnissen aus einer Vordiagnostik einen Morbus Meniere diagnostizierte und sich das als richtig heraus stellte, sodass sie mir erlaubte anzurufen, wann immer etwas ist. Auch die anderen Kollegen stellten sich als ziemlich nett heraus und diejenige, die mich am ersten Tag so hatte ins Messer laufen lassen, war die letzten zwei Wochen da – die Kündigung war schon längst eingereicht. Das erklärte einiges. Ich war froh, als sie ging.

Nach und nach lebte ich mich auf der Inneren ein und bastelte mir einen geregelten Tagesablauf. Zu spät kam ich fast immer aus dem Krankenhaus, aber die warmen Sommerabende genoss ich zumeist im Park. Irgendwann wechselte ich von der Notaufnahme auf die Station. „Nur“ Stationsarbeit blieb aber nicht lange meine Tätigkeit, denn mit Krankenstand und Kündigungen konnte die Notaufnahme kaum noch bewältigt werden. Und nachdem ich auch noch einen Einblick auf die Palliativstation gewonnen hatte, half ich dort auch regelmäßig aus.
Es war ein bisschen wie eine Sucht. Ich wusste, dass die mich da völlig überfordern, auch wenn ich das lange Zeit nicht gespürt habe, aber ich habe auch viel Anerkennung für das bekommen, was ich getan habe. Und ich habe bemerkt, dass ich die Arbeit leisten kann - das war ja immer meine Angst. Dass Studieren noch geht, ich im Krankenhausalltag aber nicht mehr zurecht komme.
Irgendwann platzte die Notaufnahme aus den Nähten. Die Palliativstation war emotional anstrengend - da halfen auch die „Dienstags – Gespräche“ im "Wohnzimmer" mit allen Ärzten, Pflegern und Therapeuten nur wenig. Unsere halbe Normalstation war voller Krebskranker, die starben wie die Fliegen. Und ich war in allen drei Nadelöhren gleichzeitig beschäftigt; mein Telefon stand nicht mehr still.
Und nein, ich wusste nicht immer genau, was ich da tue. Gar nicht mal immer unbedingt fachlich - da hat man mir ein Nachfragen oft auch nicht krumm genommen. Aber wo ist im System was zu hinterlegen, wo melde ich welche Untersuchung an, damit die dann auch stattfinden? Und immer wenn etwas nicht geklappt hat: War es mein Fehler? Habe ich irgendetwas übersehen, zu spät gesehen, bin ich dafür verantwortlich, dass es dem Patienten jetzt schlecht geht, hätte ich ihm prophylaktisch eine Antibiose geben müssen, stirbt der jetzt heute Nacht auf der Intensivstation?
Langsam aber sicher rutschte ich ab. Über zwei Wochen lang habe ich jede Woche bestimmt drei Mal mit der Therapeutin telefoniert – was sie wohl irgendwann dazu animiert hatte, einen möglichen Klinikaufenthalt einzufädeln, ohne dass sie mir davon berichtete. Es war das Gesamtpakt, das mich immer mehr überfordert hat. Die Arbeit in der Kreisklinik, die Aussicht auf die Neuro, die nach den letzten Jahren viel aufzuwiegen hatte. 

Telefon und Diktiergerät - Grundausstattung auf der Inneren

Ich liebe den Park so, so sehr!


Blick über den Campus

Ich weiß bis heute nicht, wie ein einzelner Mensch so viel Glück haben kann. Genau im richtigen Moment, als mir klar wurde, dass die Therapeutin mir nicht mehr reicht, ich dem Neuro – Oberarzt schlecht zwei Wochen vor der Neuro erzählen kann, dass es alles nicht mehr geht, hat mich der Seelsorger eines Tages im Arztzimmer angesprochen.
Ich kannte ihn schon aus unseren „Dienstags – Gesprächen“ von der Palliativstation und hielt ihn schon vorher für einen sehr sympathischen Menschen. Ich war wie ein Vulkan. All die Überforderung, all die Sorgen der letzten Wochen sprudelten aus mir heraus. Er schlug mir vor, dass wir beide uns nochmal in Ruhe zusammen setzen könnten. Ich solle auf ihn zukommen. Nachdem ich das zwei Nächte überschlafen hatte und ihn nach einem Termin fragte, stellte sich heraus, dass er erstmal eine Woche im Urlaub ist – also so wie immer, wenn man ganz dringend Hilfe braucht. 




In der Zwischenzeit war mir klar geworden, dass ich das eigentlich organisieren können müsste, zwei Wochen in die Klinik zu gehen in der Hoffnung, dass es danach etwas besser geht und ich das PJ irgendwie retten kann. Aber ich müsste es natürlich in der Neuro absprechen. Also habe ich dem Oberarzt der Neuro Bescheid gesagt, dass wir ganz dringend miteinander reden müssen – und am späten Nachmittag saß ich auf dem grünen Stuhl in seinem Büro, er übereck.
Wie erklärt man jemandem, dass es einfach nicht mehr geht? Dass man zwar noch da sitzt, aber dass man nicht mehr weiß, wie man noch einen einzigen Tag überstehen soll? Und wie kann das eine Woche vor der Neuro passieren? Ich war unfassbar verzweifelt.
„Mondkind, gib uns die erste Woche“, hat er nach einer langen Pause vorgeschlagen. „Du darfst alles machen. Du darfst hier zitternd und hyperventilierend bei mir im Büro sitzen, weinen oder mal eher gehen – aber gib uns die erste Woche, wenn Du das irgendwie aushältst. Und nächsten Freitag setzen wir uns nochmal zusammen und wenn es dann immer noch nicht geht – dann darfst Du fahren…“
Ich war nicht begeistert davon, aber ich wusste auch irgendwo, dass er Recht hatte. Ein Teil der Krise rührte sicher von der Angst her, dass meine idealisierte Neuro nicht so werden würde, wie ich mir das erhofft hatte – und weglaufen würde das nicht besser machen.

Start auf der Neuro. Es war wieder eine Umstellung. Entschleunigung. In der ersten Woche sollte ich Zuschauer sein, was nach meinem Einsatz in der Inneren so gar nicht meine Sache war. „Mondkind, ich kann mir vorstellen, dass es Dir damit gerade nicht gut geht, weil Du vollkommen unterfordert bist“, schlussfolgerte der Neuro – Oberdoc irgendwann.
Während ich auf der Inneren mit Arbeit einfach zugeschüttet wurde, musste ich mich auf der Neuro aktiv darum bemühen, überhaupt welche zu bekommen. Es war ungewohnt und ich hatte Angst, dass man mir keine Arbeit gibt, weil man mich für inkompetent hält - mit Unterforderung hatte das nicht viel zu tun.
In der zweiten Woche hat der Neuro – Oberdoc dann meine Doppler – Sonographie – Kenntnisse aufgefrischt und ich war auch öfter in der Notaufnahme. Allerdings jeden Tag mit einem anderen Kollegen und das war auch nicht so meins. Außerdem wollte der Neuro – Oberdoc, dass ich mehr Stationsarbeit mache.
Man war zufrieden mit dem was ich da tue und ich wusste gar nicht genau warum – weil ich gefühlt nichts gemacht habe. Aber mit der Zeit kam ich auf der Stroke – Unit an. Ehe nach fünf Wochen der erste Wechsel auf die periphere Station folgte. 


Ergebnisse des "privaten Sonokurses"

Auch hier hieß es, dass ich eigene Patienten betreuen sollte – allerdings habe ich auch hier wochenlang darum gekämpft, dass man mir endlich eigene Patienten gibt. Als das dann aber endlich klappte, habe ich selbst gemerkt, dass ich eine Menge auf dem Kasten hatte.

Anfang November folgte dann endlich – nachdem es mir wochenlang angekündigt wurde und ich sehr viel Angst davor hatte – die erste eigene Lumbalpunktion. Vorzugeben zu wissen was man tut, bei völliger Ahnungslosigkeit. Normalerweise bin ich, was ärztliches Handwerk anbelangt, nicht sonderlich begabt, aber das klappte wirklich gut. Es war eine riesige Erleichterung. Abgesehen von der Intensivstation wird es auf der Neuro nicht mehr invasiver. Auch die folgenden Punktionen verliefen erfolgreich und ich hatte schon bald den Ruf als „Lumbalpunktions – Königin.“ Aber wer jetzt glaubt, dass Lumbalpunktion wie im Lehrbuch läuft… - Fehlannahme. Theoretisch muss es da zwei Mal einen Widerstandverlust geben. Bei verschlissenen Wirbelsäulen merkt man davon nicht viel. Aber zumindest lernte ich irgendwann zu unterscheiden, ob ich gerade in einem Band oder auf dem Knochen festhänge, was schon mal nicht schlecht ist.

Alle paar Wochen - auf der Inneren mehr und in der Neuro weniger - gab es Fahrten in die Studienstadt. Meistens war viel zu tun. Im Labor vorbei, die Freunde sehen und ein Termin bei der Therapeutin - und all das nach einer schlaflosen Nacht im Bus. Diese "Ausflüge" in die "alte Heimat" waren ein zweischneidiges Schwert. Ich mochte es, all die Menschen wieder zu sehen, aber es war auch ein Pendeln zwischen den Welten. Meistens ist mir erst hier aufgefallen, wie sehr ich die Studienstadt doch auch vermisse. Die Altstadt mit dem Fluss, der sie durchzieht, hat etwas. Unmittelbar nach dem Klinikaufenthalt, als es mit der Freizeitgestaltung mal etwas besser klappte, war ich oft am Fluss gewesen und das sind auch einige gute Erinnerungen - auch wenn das Studium im Gesamten sonst sicherlich nicht zu den Sternstunden gehört. Immer wieder fragte ich mich, ob ich wirklich schon wieder von vorne anfangen will. Und ob ich in der Ferne wohl irgendwann Anschluss finden werde - auch außerhalb der Klinik.
Meistens war ich sonntags verwirrt, wenn ich wieder in meiner Wohnung im Dorf stand. Während es in der einen Welt mittlerweile ein Privatleben gibt, gibt es in der anderen Welt ein Arbeitsumfeld, das ich mir besser nicht wünschen könnte. Wenn man bedenkt, dass ich nach 30 Tagen Famulatur meistens die Nase voll vom Krankenhaus hatte, war das ein kleines Wunder, dass ich im PJ nicht das Bedürfnis hatte, dass es endlich vorbei ist.
Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, dann war ich einerseits enttäuscht, wenn ich wegen der Prüfungen in der Neuro nicht in die Studienstadt konnte, aber andererseits ersparte mir das auch eine Menge Kopfchaos.



Was mich auf der Neuro zu Beginn auch gestresst hat war, dass Mittagessen gehen ein fester Bestandteil auf dem Tagesplan ist und eine gute Gelegenheit darstellt, um ein bisschen Socialising zu betreiben. Wer unter den Assistenten nicht essen geht, war fast ein bisschen ein Außenseiter.
Zwar war die Anorexie bei mir eigentlich kurz nach dem Auszug aus dem Elternhaus Geschichte, aber das hieß nicht, dass essen mich nicht immer stresste. Zwar war ich im Normalgewicht, aber das Mittagessen ließ ich so gut wie immer ausfallen. Allerdings muss ich sagen, dass sich auch mit Mittagessen kaum etwas an meinem Gewicht getan hat. Auch wenn ich es selbst abends häufig nicht lassen konnte, mich in meiner Küche auszutoben.
Ich friere nicht mehr so viel - das ist mir angenehm aufgefallen. Ich glaube, die letzten Monate haben mein Verhältnis gegenüber dem Essen beinahe komplett normalisiert. Ich mache mir echt keine Gedanken mehr darüber.
Ich hoffe das bleibt so. Trotz Chirurgie, trotz der Tatsache, dass man aus allen Ecken hört, dass es an der Uni keine geregelten Pausenzeiten gibt. Trotz, dass wieder eine stressige Examenszeit ansteht. Und dass ich quasi keine Küche mehr habe, darf man auch nicht vergessen. In der Studentenbude gibt es keine vernünftige Arbeitsplatte, bis das Wasser im Kochtopf kocht, ist man davor verhungert und den Luxus eines Ofens gibt es auch nicht. Und ich habe schon in den letzten Tagen festgestellt, dass es in der "Küche" einfach überhaupt keinen Sapß mehr macht.

Mit der Zeit bemerkte ich, dass die Neuro wirklich mein Fachgebiet wird. Ich mag dieses zusammenpuzzeln von Einzelteilen, das differentialdiagnostische Denken. Ich mag es, dass man viel eigenes Hirn braucht, um die Patienten richtig zu betreuen. Und ich finde die Krankheitsbilder so faszinierend. Die Neurologie scheint für mich fast ein bisschen eine eigene Welt zu sein. Die Menschen wollen Vorhersehbarkeit, Kausalzusammenhänge. Wenn X passiert, musst Du Y tun. Kommt ein Mensch mit Gallenkoliken, nimmst Du ihm die Gallenblase raus, dann geht es ihm wieder gut. Medizin funktioniert, wie eine große Maschinerie. Die Krankenhäuser wollen Gewinne machen, die Krankenkassen wenig zahlen, die Menschen wenig Ausfall. Dem kann sich auch die Neurologie nicht entziehen. Aber das Gehirn funktioniert so nicht. Das Gehirn hat eigene Pläne. Motorische Ausfälle mögen noch sehr vorhersehbar sein, aber wie die Psyche reagiert – das ist zum Teil sehr individuell. Und am Ende gibt es auch immer wieder kleine Wunder. Wie der Mann, der im hyperglykämischen Koma lag – wochenlang. Der Oberarzt mahnte immer zur Geduld – das Gehirn brauche Zeit. Und plötzlich ging es ganz schnell – innerhalb von ein paar Tagen saß er morgens im Bett und hat uns einen Schwenk aus seinem Leben erzählt.
Neurologie ist sehr individuell, es sind keine Prozesse, sondern der Mensch, der in den Mittelpunkt gerückt werden muss und damit birgt jeder Fall neue Aspekte und neue Dinge, die bedacht werden müssen.

Der Neuro – Oberdoc hat mich zum Lernen animiert durch die mündlichen Prüfungen, die absolviert werden mussten. Ich habe in der Zeit zwei große Ordner erstellt, habe thematisch Lernzettel zu den großen Themen wie Schlaganfall, Parkinson, multiple Sklerose, Epilepsie und Polyneuropathien erstellt. Auch durch den Schwindel – der auch immer Schwindel beim Lernen erzeugt – schlug ich mich durch, genauso wie durch verschiedene Tremorformen oder die Meningeosis neplastica und sonstige eher exotische Dinge. Ich glaube, ich habe mich fachlich viel weiter entwickelt in der Zeit und je mehr ich die Dinge verstehe, desto mehr fasziniert mich dieses Fach. Auch am Fallbuch habe ich mit der Zeit wirklich Gefallen gefunden.
Auch wenn das mit den mündlichen Prüfungen sehr ätzend war und ich durch die erste Prüfung des Medizinstudiums gefallen bin – im Nachhinein hat es mich doch weiter gebracht – nicht nur fachlich. Der Neuro – Oberdoc hat mich gelehrt, dass vom Versagen nicht die Welt untergeht, dass ich als Person nicht weniger wert bin. Und vielleicht hilft es mir auch ein wenig fürs mündliche Examen.




Nachdem ich mit 18 Jahren in der Abizeit noch viel zu sehr unter dem Einfluss meiner Mutter stand und mich gegen ihre Ideen überhaupt nicht wehren konnte, war dieses Medizinstudium keine eigene Entscheidung. Lange habe ich damit sehr gehadert und es so gesehen, dass ich die nächsten sechs Jahre wohl auch eher mit dem Schreibtisch verheiratet sein werde. Aber jetzt, wo ich mir meine eigene Nische gesucht und meinen eigenen beruflichen Lebensentwurf gebastelt habe, kann ich mich auch auf die Faszination der Medizin einlassen und meine Tage mit der Neuro verbringen ohne das unter einem Zwang tun zu müssen.

Die psychische Situation beruhigte sich zwischenzeitlich etwas – was für mich ziemlich entspannend war. Mit dem Seelsorger traf ich mich ein Mal in der Woche in der Kapelle und wenn sonst etwas war, konnte ich tagsüber immer den Neuro – Oberdoc anrufen und er hat sich bemüht, für mich eine Ecke Zeit zu finden. Das war eine ganz andere Form von Lebensqualität – kein Hangeln mehr von Termin zu Termin und dazwischen irgendwie überleben, weil der Kopf nach spätestens vier Tagen wieder im Chaos ist und man die verbleibende Zeit bis zum Termin irgendwie überbrücken muss, ohne einzuknicken.
Mit dem Seelsorger bin ich ein ganzes Stück weiter gekommen. Durch seine gestalttherapeutischen Elemente – was ich immer als „Stühlerücken“ bezeichnet habe - ist mir vieles klar geworden. Es ist nicht nur so, dass sich einige Einstellungen geändert haben, ich die Situation jetzt vielleicht hin und wieder auch mit etwas Abstand betrachten und dadurch anders bewerten kann. Es ist auch so, dass ich mich nicht mehr so sehr verurteile für das, was passiert ist und es mir nicht mehr so peinlich ist. Über die Zeit hat er mir klar gemacht, dass ich die letzten Jahre sehr viel geleistet habe, mich aus vielen Abhängigkeiten gelöst habe, mutig neue Wege beschritten habe – häufig trotz der Tatsache, dass mir klar war, dass mich keiner halten kann, wenn ich falle. Dass ich heute trotz allem mit einem fast fertigen Studium da stehe, dass ich einen Weg vor mir sehe, der der meine ist – das ist nicht selbstverständlich. (Auch wenn meine Familie ihren Weg schon wieder in den meinen integrieren möchte. Einerseits ist grundsätzlich alles falsch was ich mache, andererseits zieht man mir aber immer hinterher, was hin und wieder den Verdacht aufkeimen lässt, dass man eventuell nur etwas neidisch ist auf etwas, das man dem angepassten, stillen Mauerblümchen nicht unbedingt zugetraut hätte...)

Obwohl der Seelsorger hin und wieder viel über den Glauben geredet hat und ich damit nicht viel anfangen konnte, weil ich nie am Religionsunterricht hatte teilnehmen dürfen, geschweige denn, dass ich eine Kirche von innen gesehen habe, hat es mich doch irgendwie fasziniert. Ich meine sogar nachvollziehen zu können, dass man im Glauben einen Halt finden kann.
Glauben sei eigentlich etwas für mich, hatte er mal gesagt. Es sind eigentlich immer dieselben großen Fragen, die die Menschen leiten. Manche mögen darüber nie nachdenken, andere denken darüber nach und verzweifeln, weil sie keine Antwort finden und wieder andere finden ihre Antworten und ihren Halt in der Unsicherheit, die diese Fragen erzeugt, im Glauben.
Ich weiß ja nicht, wo ich da anfangen soll, aber ehrlich gesagt beschäftigt es mich und irgendwie würde ich doch gern mal tiefer hineinschnuppern und herausfinden, ob das etwas für mich ist. 



Es gab Wochen, in denen ich sicher war. „Sie versprechen mir, dass Sie anrufen, wenn etwas ist…“, forderte der Seelsorger irgendwann. Und obwohl mich so etwas immer stresst, war ich auch dankbar. „Mondkind, wir können hier ehrlich über alles reden. Auch über die dunklen Ecken, in denen ich Dich da manchmal verliere. Denn manchmal nimmt allein das Reden darüber, den Schrecken…“, erklärte der Neuro – Oberdoc ungefähr zur selben Zeit.
Der Spagat zwischen einem Menschen, der mir so viel bedeutet und einem Chef, der der Oberarzt auch ist, ist nicht immer einfach. „Manchmal frage ich mich schon, was wir hier machen“, sagte ich  mal, „ich meine… - Sie sind mein Chef… - aber irgendwie funktioniert es ja.“ „Genau, es funktioniert sogar sehr gut“, hatte er entgegnet und versichert, dass das so für ihn in Ordnung ist.

Der Neuro - Oberarzt hat es in beeindruckender Weise geschafft, mich als Menschen mit allen Eigenschaften zu akzeptieren, mich zu fördern und zu fordern und gleichzeitig ein Verbündeter und ein „Ersatzpapa“ zu sein, wie er das irgendwann selbst mal formulierte.
Zwischen fachliche Erörterungen streute er manchmal einfach so die Frage: „Wie klappt es gerade mit den Medikamenten?“ oder „Wie schläfst Du gerade?“, oder „Wie sieht es mit Suizidgedanken aus?“. Ich hatte immer Angst ihn damit zu überfordern, oder dass es unpassend ist, aber ich war dankbar, dass das irgendwen interessiert, wie es mir geht und empfand die Fragerei nicht als unangebracht oder grenzüberschreitend. Es war schön, bei einem Menschen mal so komplett und uneingeschränkt ehrlich sein zu können. Und zu erfahren, dass er mich trotzdem an dieser Klinik haben möchte. Dass er auch alles versucht, um es mir so einfach wie möglich zu machen. Dass ich noch einen eigenen Büroplatz bekommen habe, einen ruhigen Raum, wenn ich ihn brauchte. Dass er manchmal Vorschläge hinsichtlich der Medikation angebracht hat und dass er mir bezüglich der Bewerbung und dem Startzeitpunkt den Rücken frei gehalten hat. Denn ich kann eben auch etwas – fachlich meine ich jetzt. Und wenn man es schafft, diesem rebellierenden Teil etwas Aufmerksamkeit zu widmen und es nicht verurteilt und einsperrt, damit es noch rebellischer und unkontrollierbarer wird, dann klappt das auch.
Es mag alles ungewöhnlich sein, aber für uns ist es okay und richtig so.

Ende des Jahres. Nachdem es mit dem Tag der offenen Tür und der Frage nach der Bewerbung nochmal turbulent war, hieß es Taschen packen. Traurigkeit. Aber auch Dankbarkeit. Unfassbar viel Dankbarkeit. Ich neige manchmal dazu, das zu vergessen. Weil es eben auch weh tut.
Und dennoch macht mir genau dieser Schmerz klar, dass es entgegen vieler Zweifler für mich die richtige Entscheidung sein wird, dorthin zu gehen. Vorläufig jedenfalls. Es redet ja keiner von „für immer.“ Ich möchte eine sehr gute Neurologin werden. Und ich hoffe, dass ich auch das dort werden kann. Aber der Oberarzt berichtete, dass die Klinik auch schon viele gute Fachärzte hervor gebracht habe – und ein bisschen liegt es auch immer an einem selbst. Die Ausbildung präsentiert einem keiner auf dem Silbertablett. Da muss man sich schon ein bisschen selbst drum kümmern. 




Die beiden Hauptakteure dieses Jahr und die beiden Menschen ohne die vieles anders gekommen wäre, musste ich jetzt erstmal hinter mir lassen. Wobei ich mir aktuell überlege, ob ich nicht nochmal versuche den Seelsorger anzurufen, oder ihm zu schreiben. Irgendwie hat mich sein schneller Abgang aus der Neuro beunruhigt und ich würde gern wissen, wie es ihm geht – einfach, weil er für mich ein wichtiger Mensch geworden ist. Aber ich weiß nicht, ob es unpassend ist.
Jedenfalls werde ich daran sicher noch ein paar Wochen zu knacken haben, es wird noch eine Weile weh tun, aber sie haben mich auch sehr viel weiter gebracht auf meinem Weg, sind maßgeblich für die Perspektive verantwortlich, die ich heute habe. Ich hoffe, ich habe meine Dankbarkeit dafür ausreichend zum Ausdruck gebracht. 



Ich glaube, seitdem ich mich aus dem Elternhaus befreit habe, für mich und meinen Weg, meine Träume und Ziele gekämpft habe, ist vieles turbulenter geworden. In meinem Elternhaus war alles ein Einheitsbrei. Solange, wie ich nach der Pfeife meiner Eltern tanze, konnte ich auch Unterstützung erwarten – verließ ich diese Pfade, war es damit vorbei.
Für den eigenen Weg kämpfen, bedeutete gleichzeitig entweder keine Unterstützung zu haben oder sich welche zu suchen. Und auch wenn man die gefunden hat, heißt das nicht, dass es leicht wird, weil es mir schwer fällt zu vertrauen, dass Menschen bleiben.
Auch wenn dieses Jahr so seine Tiefs hatte, wenn viel Zeit dem Examen gewidmet werden musste und auch, wenn es dieses Jahr Wochen gab, in denen die Suizidalität so sehr im Vordergrund stand, dass es streckenweise ein Hangeln von Tag zu Tag war, dessen einziges Ziel das Überleben war, so gab es doch auch wunderschöne Momente. Die manchmal genauso wehgetan haben, aber die eben auch so wärmend und so erhebend waren, dass sie dieses Jahr wirklich zu einem der Besten seit langer, langer Zeit gemacht haben.

Jetzt sitze ich heute hier. Ich kann es noch nicht so ganz glauben, zurück zu sein. Ein bisschen bin ich beeindruckt von den letzten 12 Monaten. Und richte den Blick vorsichtig auf nächstes Jahr. Auch das wird viele Weichen stellen.
Allerdings startet es erstmal ganz unspektakulär. Zunächst stehen 12 Wochen Chirurgie auf dem Plan. Da ich absolut nichts erwarte, wird es vielleicht besser, als ich mir das denke. Es stresst mich ein bisschen, dass ich möglichst keinen einzigen Tag fehlen darf – ob nun wegen Grippe oder psychischer Entgleisung, ist dabei völlig unerheblich.
Ich werde schon versuchen ab Januar meine Scripte vorzubereiten und mitzulernen – wie sehr das klappt, wird davon abhängen, wie ich in der Chirurgie beansprucht werde. Aber spätestens nach diesen 12 Wochen startet Lernzeit 2.0. Vielleicht wird mir ja auch ein halbwegs interessantes viertes Fach zugelost. Es steckt auch viel Druck dahinter.
Auch eine spannende, weil folgenreiche Frage ist, wie es mit der Therapie weiter geht. Der Neuro – Oberarzt sagte, dass ein Therapeutenwechsel jetzt – auf den letzten Metern – schon bitter wäre und man für derartige Veränderungen in der Examenszeit wenige Kapazitäten hat. Abgesehen davon, würde ich mit einem neuen Therapeuten in den wenigen verbleibenden Monaten wohl kaum warm werden. Da hat er Recht – einfordern kann ich es allerdings nicht. Seit beinahe einem Jahr erklärt die Therapeutin, dass sie mich abgeben wird. Und dennoch hoffe ich, dass wir den Weg bis zum Examen noch gemeinsam gehen.
Nach dem Examen steht die Klinik auf dem Programm. Für mich ist das im Moment die Motivation bis dahin durchzuhalten und der Lichtblick, dass ich noch mal die Chance bekomme einige Dinge für mich zu überdenken und zu bearbeiten, bevor ich ins Arbeitsleben starte und ein ständiger Chaoskopf die Qualität der Arbeit nur behindert. Ich hoffe auch, dass ich die Sache mit der Suizidalität dann besser im Griff habe und nicht ausnahmslos jede Krise am Tiefpunkt damit endet. Und vor allen Dingen hoffe ich, dass ich die Chance bekomme, den Plan durchzuziehen. Dass die Familie sich nicht wieder irgendwelchen Mist einfallen lässt, dass die in der Klinik im spannenden Moment noch wissen, dass der Psychiatrie - Oberarzt gesagt hat, dass ich ihm einfach schreiben soll, wenn ich weiß, wann ich fertig bin und sie mich dann nehmen. Denn auch dort neigt man ein wenig dazu zu denken: „Naja, die packt doch alles irgendwie – was zum Geier will die eigentlich…?“
So gut wie jeder weiß, dass ich – wenn ich zurück komme an den Ort, an dem ich mein PJ bisher absolviert habe – gegen Herbst auf der Matte stehe. Ein bisschen stresst es mich, denn ich fürchte, dass auch das Vertrauen des Neuro – Oberarztes in mich empfindlich gestört werden würde, wenn ich schon wieder durch eine mündliche Prüfung falle und dann nicht zum geplanten Zeitpunkt da wäre. Es sollte also klappen.
Und dann bin ich gespannt, wie ich das Wohnproblem lösen werde. Und ob meine Schwester  eventuell vor mir da ist, da sie dort ja jetzt auch wieder arbeiten möchte. Was ehrlich gesagt die Sache mit der Klinik wieder ein bisschen auf wackelige Füße stellen würde. Denn wie soll ich erklären, dass meine Schwester drei Monate früher dort ist und in diesem kleinen Dorf sicher gesehen und zunächst auch mit mir verwechselt wird? Und wer weiß, ob sie dann nicht Klartext redet und die Neuros schneller alle wissen, dass ich in der Psychiatrie abhänge, als ich mich umschauen kann. Aktuell hält meine Schwester sich allerdings sehr bedeckt. Ich gehe davon aus, dass sie etwas vom Chef gehört hat - jedenfalls habe ich in den Tagen vor Weihnachten laufend Gejammer gehört, dass sie nichts gehört hat, was jetzt verebbt ist. Meine Fragen diesbezüglich irgnoriert sie - was ich vor dem Hintergrund, dass sie meine Connections genutzt hat, um in meine kleine Welt dort unten einzudringen, schon wenig sozial finde. Am Ende werde ich es vielleicht erst heraus finden, wenn sie mich im Sommer vor vollendete Tatsachen stellt. Und bis dahin kann ich nur sagen: "I hope, that it was not only just a dream..."Und damit jetzt keine Missverständnisse entstehen: Ich wünsche mir, dass sie glücklich wird. Nur hat man als Zwilling glaube ich nach über 20 Jahren mal das Recht, ein eigenes Umfeld zu haben - insbesondere, wenn man so lange für eine eigene Zukunft kämpfen musste.

Ich hoffe, dass das nächste Jahr für mich auch gut wird. Dass alles so klappt, wie ich mir das erhoffe. Ich in 12 Monaten vielleicht mal in ruhigeren Fahrwassern angekommen bin. Weiß, wo ich die nächsten Jahre arbeiten und wohnen werde. Und ich hoffe, dass der Neuro – Oberdoc Recht hat und ich zur Ruhe komme und psychisch stabiler werde. Kein Hangeln mehr von Punkt zu Punkt. Sondern einfach leben.

In der Hoffnung, dass dieses Bild nicht ein Kapitel für immer schließt...


Mondkind

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