Erinnerungen im Advent


Erstes Adventswochenende.
Fast automatisch nehme ich solche Zeiten zum Anlass, um ein wenig in alten Tagebucheinträgen zu stöbern. Bis 2011 habe ich alles auf Papier geschrieben. Ein Teil davon verstaubt gerade in einer Kiste unter vielen Unisachen in meinem Elternhaus und wartet darauf, von mir Ende des Jahres wieder abgeholt zu werden.
Einen Teil habe ich aber auch hier.
Und das habe ich  gefunden:

Mittwoch, 3. Dezember 2008
Liebes Tagebuch,
nun hat also die Weihnachtszeit wieder begonnen. Weihnachtslieder tönen im Radio, draußen glitzern tausende Lichter in den Vorgärten und zerstreuen die Dunkelheit und die Tage bis Heiligabend werden rückwärts gezählt.
Wir werden ständig nach Weihnachtswünschen gefragt, aber den größten Wunsch kann mir einfach keiner erfüllen.
[…]
Ich weiß nicht, was alles dazu beiträgt und wie sehr, aber in den letzten Tagen ging es mir irgendwie nicht gut. Ich fühle so viel Druck, so viel Spannung, aber auch so viel Verzweiflung und Sehnsucht in mir [Erstaunlich, dass ich das damals alles so klar differenzieren konnte… ].
Es ist viel zu tun in der Schule – der ganze Dezember ist voll von Klassenarbeiten und ich habe Angst, die nächste Mathe – Klassenarbeit nicht gut genug zu schaffen. Abends gehe ich irgendwann um Mitternacht ins Bett, manchmal auch noch später. Aber das ist auch gut so. Zeit darf ich im Moment nicht haben, sonst wird mir gleich wieder klar, wie sinnlos das hier alles ist.
Es braucht im Moment nicht viel, um mich explodieren zu lassen. Das hat für mich jedes Mal negative Konsequenzen – die Kinder haben sich immerhin nicht aufzuregen – aber ich finde es eigentlich gut, weil das dazu führt, dass sich in mir etwas abbaut. Klingt vielleicht schräg, ich weiß…
Und danach bin ich meistens einfach erschöpft. Aber auch das ist gut, weil ich irgendwie besser klar komme, wenn ich auch körperlich am Ende bin.

Ich muss ehrlich sagen – ich finde es ziemlich dämlich, dass das jetzt gerade in der Weihnachtszeit so extrem ist, wie es eben gerade ist. Denn irgendwie tut es mir auch ein bisschen leid eine Zeit, die früher die schönste Zeit im Jahr war, so im vorbei rauschen zu erleben. Zwar ist mir mittlerweile klar geworden, dass es auch früher wahrscheinlich nicht das war, was es zu sein schien, aber das hatte ich noch nicht durchschaut.

So… - meine Wenigkeit wird sich dann mal mit der Mathematik auseinander setzen. 




Ich bin jedes Mal ein bisschen sprachlos, wenn ich diese alten Tagebucheinträge lese.
Von psychischen Krankheiten hatte ich damals noch nicht den Funken einer Ahnung, von vielen Dingen wusste ich nicht, warum es so ist und was sie mit mir machen. Dieses Gefühl Zuschauer meines eigenen Lebens zu sein, hatte ich zum Beispiel schon sehr früh. Damals hat es mir zeitweilig sehr viel Angst gemacht, weil ich es einfach nicht einordnen konnte und es anderen Menschen scheinbar nicht so ging.

Schreiben war eben immer schon mein Ventil. Seitdem ich irgendetwas auf die Zeilen malen konnte, das zu Beginn nur mit viel Fantasie als ein Wort erkennbar war. Und es erstaunt mich immer wieder, wie früh ich schon einen Ausdruck für mich gefunden hatte.

Und manchmal… - manchmal frage ich mich, was ich meinem früheren Ich gern sagen würde.
In welche Schwierigkeiten mich dieser Weg noch bringen würde, wusste ich damals nicht. Irgendwie habe ich geglaubt, dass es mich zu einem glücklicheren Menschen machen würde, den Anforderungen gerecht zu werden. Wobei das nur bedeutete, dass es kommentarlos zur Kenntnis genommen wurde. Eigentlich ging es nur darum, die Abwertung zu verhindern.
Ich habe immer schon gehofft, dass es sich gibt. Dass es nur noch eine Frage von Wochen ist, bis die Farben zurück in das Leben kehren. Was hätte ich damals gemacht, wenn man mir gesagt hätte, dass es auch ein Jahrzehnt später nicht wirklich besser ist? Dass ich mich nur all die Jahre über weiter verloren habe, es nicht mitbekommen habe, wie die Gleichaltrigen ihren Weg ins Leben gefunden haben. Und sehr viel später innerhalb von Wochen das nachholen musste, wofür die anderen mehrere Jahre Zeit hatten. Und dass auch Psychiatrie und Therapie an der Sache nicht viel geändert haben. Lediglich dafür gesorgt haben, dass ich die Zeit überlebt habe.
Und was werde ich heute in 10 Jahren sagen, wenn ich auf diese Zeilen zurück blicke? Werde ich da überhaupt noch auf meinem Weg sein?
Was hätte ich damals gesagt, wenn mir jemand erklärt hätte, dass der Versuch das was von der Familie noch übrig war zusammen zu halten, scheitern wird. Und dass diese – vielleicht auch unbewusste Sehnsucht – und Suche nach Menschen, die stattdessen halten, zumindest in den nächsten zehn Jahren keinen Erfolg hat. Weil das entweder professionelle Helfer waren, bei denen mir im Hinterkopf immer bewusst ist, dass sie irgendwann einfach gehen können, weil ich die einzige bin, die an dieser Beziehung hängt oder weil es Menschen waren, die das nie hätten werden dürfen. Weil mein Kopf da irgendwann nicht mehr differenziert hat. Ich habe ehrlich gesagt für mich persönlich nie geschnallt, warum ich in der Schule ganz besonders an einem Lehrer hing. Irgendwann wussten meine Eltern das, weil meine Schwester es erzählt hatte und es gab immer Zoff deshalb. Ich glaube, das wurde eben – teils von mir selbst – auch immer falsch interpretiert. Ich war nicht verliebt in ihn, so viel viele das meinten – ich war nur auf der Suche nach einem Menschen, der mich nimmt, wie ich bin. Und irgendetwas wird er getan haben, das mich hat glauben lassen, dass er das sein könnte.

Diese seit über einem Jahrzehnt bestehende Sehnsucht hat mich viele Wege auf mich nehmen lassen. Nur am Ende habe ich leider nie gefunden, was ich gesucht habe. Wie schrieb ein Freund mir letztens in Bezug auf diesen Ort hier: „Es ist halt auch nur ein Arbeitsplatz […], wo Anforderungen gestellt werden. Es ist keine Ersatzfamilie.“
Ich habe ja hin und wieder die Ahnung und Angst, dass mich nur diese Suche an diesem Ort hat festhalten lassen und suche immer wieder rationale Gründe, die das auch anders erklären können.

Vielleicht habe ich irgendwie geglaubt, gehofft dieses Stück Familie hier zu finden. Es lohnt sich auch nicht mehr, sich dafür zu verurteilen. Wie das alles so gekommen ist, ist mehr als nachvollziehbar.

Mir wurde letztens vorgeworfen, mich zu sehr in die Opferrolle zu begeben. Und vielleicht mag das manchmal auch stimmen. Es ist halt einfach unfair, dass ich heute das ausbaden muss, das vor vielen Jahren schief gelaufen ist und für das ich nicht mal etwas kann. Man kann nicht jeden Tag kämpfen. Leider heißt „nicht kämpfen“ eben auch immer fallen.
Aber wenn man es sich so anschaut: Ich habe im Gegensatz zu meiner Schwester die Anorexie hinter mir gelassen, eben weil ich irgendwann nicht mehr wollte, dass jeder mir ansieht, dass etwas nicht stimmt. Ich habe versucht, mich von den Erwartungen der Familie zu lösen und mir eine eigene, kleine Welt zu schaffen. Irgendwie habe ich jede Krise hinter mir gelassen, mich auch von Sachen die blöd gelaufen sind, nicht unterkriegen lassen und bin weiter gelaufen. Immer wieder klopft die Sinnlosigkeit und gleich dahinter die lebensmüden Gedanken an die Tür, die umso stärker werden, wenn mir klar wird, dass ich auf die Frage, warum ich das alles mache, aktuell immer noch keine Antwort habe und auch nicht weiß, ob ich die in naher Zukunft finde.
Aber für irgendetwas wird es gut sein, denke ich mir. Und vielleicht schaue ich auch in zehn Jahren auf diese Zeilen zurück, vielleicht würde ich mich dann gern selbst in den Arm nehmen und mir verraten, wie lange ich noch gehen muss, bis das endlich aufhört und die Farben des Regenbogens wieder am Horizont erscheinen.
Es ist halt irgendwie dieses Defizit – Denken. Dieses „Die schafft doch alles irgendwie – der kann es doch gar nicht hin und wieder nicht gut gehen.“ Aber eigentlich ist es andersherum. Eigentlich ist es ein „Sie hat es trotzdem irgendwie geschafft. Sie ist so weit gegangen und der Rest wird auch irgendwie klappen. Und hin und wieder zu straucheln ist okay. Und vielleicht reichen wir dann einfach mal unsere Hand und machen das so, wie Papis das manchmal machen: Einen Fuß am Ufer, einen Fuß auf einem Stein im Bach und dann heben wir das Kind einfach mal drüber – damit es keine nassen Füße bekommt.“ Auf den letzteren Gedanken kommen leider nicht viele Menschen.
Aber wäre ich in der Opferrolle geblieben, wäre ich heute nicht dort, wo ich jetzt bin.

So… - und wie soll ich mit so viel Chaos im Kopf bitte lernen? Ich muss jetzt echt mal los ins Krankenhaus und mich mit dem Patienten beschäftigen. Ein bisschen neben der Kappe bin ich heute… ich habe festgestellt, dass mit einer Erhöhung des Promethazins der Kopf zwar Ruhe gibt, der Kreislauf aber gleich dazu. Es hat ewig gedauert, bis ich mal fünf Minuten stehen konnte, ohne weiß wie die Wand zu werden und zurück ins Bett zu taumeln.
Vermutlich könnte man das auch anders regeln. Wenn ich nicht jedes Mal in der Ambulanz hören würde: „Also Termine – nee, sowas haben wir in naher Zukunft nicht…“ Und man kann ja als fast fertige Ärztin lange wissen, was geeigneter wäre. Ohne Unterschrift wird es trotzdem nichts.

Und wie sang Roger Cicero das so schön:
Denn wenn es morgen schon zu Ende wär',
Ein Schritt zu viel im Stadtverkehr,
Dann leb ich vielleicht heute, nur 'n kleines bisschen mehr
Dann wiegt die Welt nicht ganz so schwer
Und jeder Atemzug ist so viel wert,
Dann leb ich vielleicht heute nur 'n kleines bisschen mehr


Versucht man’s. Ich möchte wirklich irgendwann mal zurück blicken können und sagen, dass ich zufrieden mit meinem Leben war. Es ist noch ein weiter Weg glaube ich. Ein sehr weiter. Und von manchen Jahren werde ich das wohl nicht sagen können.

Ich hoffe, es gibt zumindest einige Leser, die ein ruhiges, erstes Adventswochenende verbringen!

Mondkind



Bildquelle: Pixabay

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