Begegnungen auf der Kinderstation
Heute war mein letzter Tag in der Pädiatrie und es
entwickelte sich zum turbulentesten Tag der vergangenen zwei Wochen .
Dabei fing eigentlich alles ganz gemütlich an. Wir hatten am
Morgen nur sieben Patienten auf der Kinder- und Frühgeborenenstation zusammen.
Bei der Übergabe haben wir uns ein wenig Zeit gelassen und
dann ging es in den Keller des Hauses zur Röntgenbesprechung.
Und ab dem Weg dorthin, war die Ruhe mit dem Klingeln des
Telefons einer der Assistenzärztinnen vorbei. „Ja aber dann muss die doch in
die Psychiatrie“, sagte sie irgendwann der Person am anderen Ende der Leitung
und ab dem Moment klebten die Ohren an ihren Lippen.
Was war passiert? Ein junges Mädchen hatte sich in suizidaler
Absicht selbst verletzt und war dann von einem RTW aufgesammelt worden. Denen
in der Leitstelle war offensichtlich nicht klar, dass wir zwar eine Psychiatrie
haben, aber Kinder und Jugendliche dort nicht behandelt werden. Deswegen
landete das Mädchen bei uns in der Notaufnahme und die dortigen Ärzte riefen
bei uns auf Station an.
Zu viert liefen wir in die Notaufnahme und fanden dort am
Tisch sitzend eine verstörte Patientin vor, die nicht aussah, als würde sie mit
uns kooperieren wollen. Offensichtlich hatte sie mittlerweile zumindest eine
Versorgung ihrer Wunden zugelassen – uns hatten die Ärzte gemeldet, dass das
wohl auch nicht möglich sei. Es dauerte eine Weile, bis wir sie überreden
konnten mit uns erst mal hoch auf die Station zu kommen.
Eigentlich wollte sie nur gehen. Sie wollte keine ärztliche
Behandlung und auch nicht – auf gar keinen Fall – in die Psychiatrie und es war
so schwierig dieser unvermeidbaren Folge eines Suizidversuchs im Gespräch
auszuweichen und jede Lücke an Kooperationsbereitschaft auszunutzen, die sie
aber nur näher an die Psychiatrie brachte, ohne dass ihr der Zusammenhang in
dem Moment so klar war.
Bei uns setzen wir sie erst mal in die Ambulanz und
richteten eine Sitzwache ein, die ich zeitweise übernahm. Sie erzählte mir von
ihrer Liebe zur Musik, vom Schreiben, was für uns beide eine gemeinsame
Gesprächsbasis war, denn auch ich schreibe viel, nur bediene ich ein andere
Genre. Sie erzählte mir von dem Pferd, das sie regelmäßig reitet, von
Zukunftsplänen, von einer zerrütteten Familie.
Zeitweise wirkte sie trotz ihrer Verschlossenheit und dem
Schmerz in ihren Augen wie ein ganz normales junges Mädchen und im nächsten
Satz ging es wieder um den Tod, davon, dass es ihr Recht sei zu sterben, wenn
sie das so wolle.
In die Psychiatrie wolle sie nicht, dabei blieb sie und die
Polizei war schon auf dem Weg zu uns, als wir noch einmal mit Engelszungen auf
sie einredeten und ihr klar machten, dass sie jetzt ohnehin erstmal von einem
Fachkollegen gesehen werden muss, auf welche Art auch immer sie dahin kommt.
Und dass sie Chancen aus eine baldige Entlassung wesentlich
höher stehen, wenn sie freiwillig dort ist.
Und irgendwann rang sie sich doch zu einem „Ja“ durch – das war
dann aber schon rund drei Stunden, nachdem wir mit unserem Dienst begonnen
hatten.
Ich war so unendlich erleichtert. Ich kenne sie kaum und
durch ihre Sprunghaftigkeit war es schwierig eine Sympathie zu ihr aufzubauen
und irgendwo konnte ich sie doch verstehen. Man hat ein Leben, das irgendwie
auch zeitweilig funktioniert und man hat so viel Angst, diesen letzten Zipfel
Normalität loszulassen. Und gleichzeitig schreit alles in einem nach Hilfe und
irgendwie hat man auch keine Lust mehr, weil diese Normalität, von der man
nicht weiß, wie lange man sie noch halten kann, am Ende vielleicht doch
untergeht.
Am liebsten hätte ich gesagt: „Vielleicht können Sie mich
gleich mitnehmen“, aber das geht natürlich in dieser Konstellation, in der ich
mitwirke im ärztlichen Dienst, nicht.
Es war gar nicht viel Zeit zum Verschnaufen, denn während
die Patientin mit den Kollegen von der Rettung die Station verließ, kam schon
der nächste Notfall. Ein Kind, das in der Praxis zusammengebrochen war und
absolut fertig mit der Welt und kreidebleich bei uns ankam und selbst zu
schwach war, um sich gegen die Blutabnahme zu wehren. Das ist zwar für den
Moment ganz angenehm, beunruhigt aber auch immer etwas.
Und als sie fertig war kam die nächste Einweisung mit
Verdacht auf Blinddarmentzündung, die ich aufnehmen durfte. Die Anamnese zu
erfragen war gar nicht so einfach, da das Kind in den letzten beiden Tagen beim
Hausarzt und in zwei verschiedenen Krankenhäusern war.
Die Aufnahme ist aber in den letzten beiden Wochen im Grunde
zur Routine für mich geworden und das hat dann auch sehr gut funktioniert.
Mittlerweile war schon früher Nachmittag und wir hatten
nicht mal Visite gemacht - erstmal ging das ganze Team aber Scones essen, die
ich heute mitgebracht hatte, da es mein letzter Tag war.
Es ist faszinierend. Immer wenn man das macht gibt es ein
paar Leute, die noch nie im Leben Scones gegessen haben. Heute traf das unseren
Oberarzt und er war hin und weg. So etwas freut mich dann wirklich.
***
Auf dem Heimweg schlüpfte ich zurück in meine Realität.
Auf dem Heimweg schlüpfte ich zurück in meine Realität.
Wenn ich in die Arztrolle schlüpfe, dann bin ich oft auch anders.
Ich merke, dass auch viel dabei Schauspielerei ist und ich wundere mich
manchmal, wie gut das in dem Moment klappt.
Wie redet man mit einer suizidalen Jugendlichen, wenn es
gestern noch zur Debatte stand, ob ich nicht selbst notfallmäßig in die Klinik
fahre und ich die ganze Woche über verzweifelt versucht habe, im PSZ einen Termin
zu bekommen? Aber in dem Moment geht es nur um den Patienten und dann erklärst
Du, dass jedes Individuum wichtig ist und dass sich einfach so viel ändern kann
und man noch so viel erleben kann, was man jetzt noch gar nicht ahnt. „Die
Dinge sind doch auch immer veränderbar“, bediene ich mich an einem der
Standardsätze eines Arztes, den ich bei einer Famulatur kennen gelernt habe.
Und Du versuchst das einfach nur mit diesem Menschen, den Du im Grunde gar
nicht kennst auszuhalten, einfach nur da zu sein, daneben zu sitzen, auch mal
zu Schweigen für den Moment.
Du wartest, bis sie etwas sagt, hörst die gestammelten Sätze
an, wartest, bis sie weiter reden kann. „Es ist alles okay“, hörst Du Dich
sagen. „Lass Dir Zeit.“ Du versuchst alles richtig zu machen, in dem Moment die
Person zu sein, die Du Dir selbst in Krisen wünschen würdest.
Mein Handy klingelt. Meine
Freundin ruft an. Die, über die ich gestern schrieb. Was in den nächsten 10
Minuten und 8 Sekunden folgt ist eine Person, die ich so noch nie erlebt habe.
Sie brüllt ins Telefon, jedenfalls muss ich es ein Stück weg von meinem Ohr
halten, obwohl es laut im Bus ist.
Es geht um gestern Abend, darum,
dass sie nicht wusste, ob ich heute Morgen noch lebe, dass es die beschissenste
Idee seit langem war für das Praktikum zurück in mein Elternhaus zu gehen, dass
sie die Nacht nicht geschlafen habe und ich irgendwie weg von den Menschen
gehe, die mich mögen.
„Glaubst Du ich habe besonders
gut geschlafen nach den Ankündigungen gestern?“, hätte ich am liebsten zurück
gefragt, aber für so etwas bin ich natürlich zu schüchtern und dann bleibt mit
nur das ja sagen übrig.
In Teilen kann ich sie verstehen,
auch wenn es bei mir immer empfindlich auf die Stimmung drückt, wenn Menschen
so laut werden.
Und trotzdem glaube ich, dass
dieses Praktikum genau dort für mich richtig war. Ich hatte so viele schöne
Begegnungen und kannte auch noch viele Menschen von damals. Ich habe viel
erlebt und durfte echt viel machen. Das hat mir so viel mehr gebracht, als wenn
ich das Praktikum an der Uni gemacht hätte.
Wie geht es jetzt weiter für
mich?
Ich weiß es noch nicht. Erstmal
gilt es das Wochenende zu überleben. Alles ziehen am mir. Meine Schwester
möchte, dass ich ihr bleibe und droht sonst mit Essverweigerung. Mein Papa
möchte, dass ich zurück an meinen Wohnort gehe, ebenso meine Freundin und meine
Vermieterin.
Keine Ahnung, wie sich das alles
entwickeln wird. Balancieren zwischen den Welten ist angesagt. Keine einfache
Aufgabe.
Alles Liebe
Mondkind
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