Therapiestunde

Nachdem der Schock mit dem Labor zumindest ein bisschen verdaut ist, macht Mondkind sich auf den Weg Richtung PSZ.
Vielleicht sollte sie es tatsächlich so machen, wie einige Leute um sie herum es ihr empfohlen haben und sich eine neue Doktorarbeit suchen – vorzugsweise in der Neurologie.
Allerdings würde damit nicht nur ein Projekt abgebrochen werden, das Mondkind sehr am Herzen liegt und dessen Auswirkungen in der Klinik viel zu wenig beachtet werden. Sie hat auch Angst damit ihren Betreuer zu enttäuschen, der sich seinerzeit so sehr dafür eingesetzt hat, dass Mondkind die Doktorarbeit an dem Institut unter seiner Leitung machen kann. Vielleicht hat Mondkind sich auch nicht genug angestrengt, vielleicht gibt es eine Lösung, vielleicht muss sie sich an externen Universitäten schauen, wenn das Labor und dessen Equipment nicht das hergeben, das Mondkind für ihre Forschung braucht.

„Wie geht es Ihnen?“, wird Mondkind ein wenig später von ihrer Therapeutin begrüßt und aus ihren Gedanken gerissen. „Naja, im Moment ist es okay“, sagt Mondkind. „Ich bin ein wenig im Stress, aber das ist schon okay.“
Mondkind berichtet, dass sie sich entschieden hat, das Examen im Herbst zu machen und sich dadurch jetzt mit der Vorbereitung auseinander setzen muss. Zwar ist sie damit noch relativ früh dran, aber wenn man das irgendwie ein wenig „stressfreier“ dadurch gestalten kann, dass man so viel wie möglich vorbereitet, möchte Mondkind das tun.
„Da müssen Sie sich aber einen guten Plan zurecht legen“, merkt die Therapeutin an. „Naja – ehrlich gesagt habe ich noch nicht viel gedacht. Ich hätte mir für mich selbst so sehr gewünscht, dass ich es schaffe zu sagen, dass es okay ist das noch ein halbes Jahr zu schieben und ich dadurch nochmal einen Sommer haben kann, aber ich konnte es mit mir nicht vereinbaren. Und jetzt war es einfach an der Zeit zu sagen, dass es dann eben nicht geht.
Sie besteht darauf, dass Mondkind dann eben jetzt anfängt, sich Gedanken zu machen. Immerhin sei Examens – Zeit immer eine blöde Zeit im Leben und immer – auch für sonst gesunde Menschen – eine psychische Belastung.

Mondkind merkt an, dass sie zwei Zettel mitgebracht hat – einen mit den Hausaufgaben und noch einen mit einem anderen Thema, das ihr wichtig ist.
Die Therapeutin beschließt, erst die Hausaufgaben besprechen zu wollen.

Sie schwenken über auf die Hausaufgaben und Mondkind berichtet ihr von der Situation mit dem Schornsteinfeger und dem Hund und dem Geschirrspüler. Die Therapeutin findet die Situation nicht ganz so glücklich gewählt, da Mondkind durch die Zettel gar keine Chance hatte, mit ihrem Gegenüber zu kommunizieren. Das hatte Mondkind tatsächlich nicht bedacht.
Die beiden beschäftigen uns trotzdem eine gefühlte Ewigkeit damit und exerzieren anschließend durch, auf welche verschiedenen Arten man „nein“ sagen kann. Die Therapeutin hat die Angewohnheit alles drei Mal zu wiederholen und Mondkind fragt sich schon innerlich, ob sie ihr nicht sagen sollte, dass sie es jetzt verstanden hat, dass es immer am Besten ist nicht einfach „nein“ zu sagen, sondern auch die Gründe mitanzugeben, warum man das gerade nicht machen kann.

Ein Blick auf die Uhr sagt, dass die beiden schon fast eine Stunde beschäftigt sind und Mondkind ahnt bereits Böses. „Ist das ein neues Thema?“, fragt die Therapeutin und schaut auf den zweiten Zettel. „Naja... nicht so richtig... Es ist mir nur noch mal so... bewusst geworden...
„Ich lese das noch kurz durch und wir besprechen das beim nächsten Mal, okay?“ fragt sie. (Beim nächsten Mal ist bei ihr gleichzusetzen mit nie – dafür bin ich dort einfach zu selten und habe zu viele Baustellen). „Okay“, sagt sie.

Mondkind hat eine Gedankenspirale aufgegriffen, die ihr letzens durch den Kommentar eines Freundes auf einem Spaziergang gekommen ist. Sie beschreibt die Situation in dem Text nur, um den Gedanken einbauen zu können, denn präsent ist er an beinahe jeder Ecke.

„Ich klammere mich immer an irgendwelche Dinge in der Zukunft, finde Gründe warum es dann besser wird und glaube auch daran. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich herausstellt, dass das einfach gar nicht stimmt. Und manchmal glaube ich, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die Hoffnungslosigkeit doch irgendwann zu stark wird und all die Jahre umsonst In der Hoffnung auf ein besseres Leben verstrichen sind und ich mir selbst viel hätte ersparen können, hätte ich das nur eher eingesehen.“

Immer noch dasselbe Thema wie letzte Woche beim Psychiater. Nur, dass man bei ihm scheinbar das Wort aussprechen muss, damit er versteht, was den Patienten gerade beschäftigt. Aber Mondkind kann es nicht sagen... dieses Wort. Das hat sie noch nie gesagt, außer sie wurde in einem Seminar in der Uni dazu gezwungen sich mit dem Thema von suizidalen Patienten auseinander zu setzen und selbst da hatte sie das Gefühl, dass ihr ein Schild auf dem Kopf klebt. Sie schreibt darüber ja – aber sie sagt es nicht.
Und um es zu umschreiben, malt sie gedankliche Bilder von zerbrechlichen, blassen Gestalten in Kleidern, die barfuß an Klippen entlang tanzen und sich nicht daran stören, dass unter ihren Füßen die Steine weg brechen .
Sie schreibt von der Hoffnunglosigkeit, von Blumen am Wegrand, von Oasen und schwarzen Löchern.
Man muss eine gewisse Sensibilität für Mondkinds Schreibstil haben, um die gut versteckten und fein dosierten Andeutungen zu finden.

Die Therapeutin nimmt ihren silbernen Kuli un zeigt genau auf die Stelle, auf die der gesamte Text hinarbeit. „Ist das im Moment bei Ihnen Thema?“, fragt sie. „Ja“, antwortet Mondkind knapp. „Wie oft?“, fragt sie. „Eigentlich jeden Tag“, sagt Mondkind. „Im Moment ist es wirklich nicht so schön – obwohl es besser geworden ist, nachdem ich angefangen habe die Tage wieder von vorne nach hinten durchzuplanen. Da bleibt nicht mehr so viel Zeit.“ „Die Hoffnungslosigkeit ist ja auch so eine ganz zentrale Sache bei Depressionen“, sagt sie. „Was können Sie denn machen, um wieder Hoffnung zu bekommen?“, fragt sie. „Naja, das weiß ich ja eben nicht“, sagt Mondkind. „Im Moment fühle ich mich einfach so von den Umständen hin und her geschoben. Ich finde, ich kann daran gerade nichts machen.“
Stille.
„Und irgendwie steht man trotzdem jeden Morgen auf und tut was zu tun ist und zwingt sich nicht zu fragen warum.“
Stille. Das Fenster steht auf Kipp und Mondkind hört die Vögel draußen zwitschern. Welch Paradoxon. Macht schon Sinn, dass die meisten Menschen im Frühling in schwarzen Löchern verschwinden.
„Und warum stehen Sie dann jeden Morgen auf?“, fragt die Therapeutin und übertönt die Vögel. „Naja, darüber habe ich mit meinem Tagebuch schon vor vielen Jahren diskutiert“, erwidert Mondkind. „Sollte doch der – zugegebenermaßen meiner Meinung nach relativ unwahrscheinliche Fall eintreten, dass es sich doch irgendwann noch mal zum Guten wendet - dann möchte ich auch eine vernünftige Lebensgrundlage haben. Und es geht ja irgendwie. Dieses vor sich hin existieren.“
„Wo sind Sie jetzt in fünf Jahren?“, fragt die Therapeutin.
Ich bin in [Stadt] und arbeite dort in der Neuro“.
„Na das ist doch was“; sagt sie. „Nehmen Sie einen Zettel und schreiben Sie das mal alles auf. Vielleicht hilft das ja.“
Mal sehen, ob sie das am Wochenende einbauen kann – die Idee ist ganz gut
„Ist es okay, wenn ich Sie jetzt gehen lasse?“, fragt die Therapeutin. „Ja“, erwidert Mondkind .

Es hilft darüber zu reden. Zu wissen, dass da Menschen sind, die einem diese quälenden Gedanken nicht abnehmen können, aber die versuchen zu helfen, sie nicht übermächtig werden zu lassen. Es hilft, dass man trotzdem nicht als völlig geistesgestört wahrgenommen wird. „Es gehört zu Krankheit“, pflegt die Therapeutin dann immer zu sagen. Und, dass es okay ist. Dass fast jeder Depressive das kennt, auch wenn er nicht darüber spricht.


***
Es ist irgendwie nicht die Woche der Bahn. Schon wieder ein Ausfall zu verzeichnen.
Und das, wo ich heute Abend noch ein Kapitel zu Ende machen und ein halbes Neues zusammen fassen muss.
Aber zumindest bleibt zwischen all den Menschen, die sich am Freitagabend nach ihrem Sofa sehen ein wenig Zeit, um die wesentlichen Punkte der Stunde aufzuschreiben.

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