Reise - Tagebuch #4

Ich hatte meine Oma gebeten, ob wir die Tante der Mutter unseres Vaters besuchen könnten. (Meine Oma musste fahren, da sie und ihr Mann auf dem Dorf wohnen, weit ab von der Stadt und der Bus ungefähr zwei Mal am Tag fährt – sonst hätte ich sie nicht mitgenommen).

Da die Beziehung so verworren ist, nenne ich sie immer ebenfalls Tante, obwohl ich keine Ahnung habe, wie ich genau mit ihr verwandt bin.

Die Eltern meines Vaters sind beide schon lange verstorben. Kennen gelernt habe ich sie nie und besagte „Tante“ und ihr Ehemann sind die Einzigen Verwandten von Papas Seite, die übrig geblieben sind.



Ich frage mich manchmal, was die Bäume, die die Hauptstraße im Dorf säumen mir erzählen würden, wenn sie sprechen könnten. Bäume, die schon die Staßen säumten, als mein Vater noch klein war, allerlei verrückte Dinge gemacht hat – unter anderen mit den Füßen zu oberst aus einem hohlen Baumstamm geragt hat.

Neben dem Haus meiner Tante steht das Haus, in dem mein Vater aufgewachsen ist. In dem er als Kind ein und aus gegangen ist, in dem er abends zu Bett gegangen ist und morgens mit seinem Ranzen auf dem Rücken das Haus verlassen hat.

Um den Zustand des Hauses hat sich kaum einer gekümmert in den vergangenen Jahren und der derzeitige Besitzer versucht im Moment verzweifelt es zu verkaufen. „Eigentlich kann man es nur abreißen und neu bauen“, sagt meine Tante. Ich würde davor so gerne hindurch gehen und diese Räume sehen, in denen er gelebt hat und aus denen ich so viele Geschichten kenne.



Es fühlt sich ein wenig an, als würde man eine Grenze zu viel übertreten. Zu tief in die Privatsphäre meines Vaters eindringen und Dinge wahrnehmen, die man nicht hätte erleben sollen.

Es fühlt sich in gewisser Hinsicht verboten an und dennoch bin ich wie ein Schwamm, der alles wissen und aufsaugen möchte, was es zu erzählen und zu erfahren gibt.



Nach dem Mittagessen holt meine Tante eine Kiste mit alten Fotos.

Sie selbst – mittlerweile Mitte 80 Jahre alt – ist auf einigen Bildern als Kind und als junge Frau zu sehen, es gibt Bilder von ihren Eltern und Großeltern, von ihrer Hochzeit und ihren eigenen Kindern. Es gibt Bilder von meinem Vater als Kind, seinem Bruder, der Hochzeit meines Vaters. Ich bin erstaunt, welch hübsches Pärchen er und meine Mutter damals waren, als noch keiner ahnte, wie diese Ehe eines Tages ihr Ende finden würde.

Es gibt auch Fotos von den Eltern meines Vaters - also meinen Großeltern. Meine Tante gibt mir ein paar davon mit. Ich bin dankbar nun auch einen Teil Vergangenheit bei mir tragen zu dürfen.



Ansonsten hätte ich gern auch mal ein wenig von meinem Studium und meinen Plänen nach dem Studium erzählt. Wenn ich meine Oma dabei habe ist es allerdings so, dass sie häufig wie ein Wasserfall quatscht und ältere Leute haben ja nun auch ihre Themen. Da geht es um Gesundheit (mit einer Medizinstudentin am Tisch sitzend scheint das ein besonders reizvolles Thema zu sein), um Reisen, um die heutige Jugend, die natürlich viel zu chaotisch und liberal ist.

Ich hatte überhaupt keine Gelegenheit einzuhaken und irgendwann langweilte es mich schon ein wenig und mein Gewissen meldete sich noch dazu.



Wenn man die Lauscherchen in den passenden Momenten aufstellt, gibt es allerdings auch immer wieder erstaunliche Dinge zu erfahren. Dass mein Vater mal in psychiatrischer Behandlung war, wusste ich überhaupt nicht. Wir haben nie darüber gesprochen, auch als er längst wusste, dass ich krank bin.

Auf die Frage „Sind in Ihrer Familie psychische Krankheiten bekannt?“, habe ich stets mit nein geantwortet.

Ich werde ihn nicht darauf ansprechen – es ist seine Sache, ob er mit mir darüber sprechen möchte, oder nicht – bisher wirkte er dem Thema gegenüber immer sehr verschlossen und ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass er auch nur im Ansatz verstehen kann, was mich bewegt.



Morgen früh wird nun erstmal gearbeitet. Morgen Nachmittag steht dann der nächste Besuch bei der Mutter meiner Halbgeschwister auf dem Programm, aber es tut gut zu wissen, dass ich morgen früh einfach mal vor mich hin werkeln kann.

Geschichten und Erinnerungen




Alles Liebe

Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen