Gedankenchaos
Mondkind hat sich auf ihren Stuhl gesetzt, die Füße auf den Tisch
gelegt und den Laptop auf ihre Beine gestellt.
Das Wochenende war… unproduktiv. Trotz Plan. Sie war froh, wenn sie es
doch geschafft hat irgendetwas zu tun und zumindest hinter den ein oder anderen
Punkt einen rosa Haken setzen konnte.
Dienstag ist wieder mal ein Vortrag zu halten. Aber in weiser Voraussicht
hat Mondkind den schon vor Wochen fertig gemacht, sodass sie nur nochmal drüber
lesen und ein Tafelbild erstellen muss. Wenn kein Wunder mehr passiert, wird
sie das bis Dienstag nicht auswendig können, aber sie wird da ohnehin an einer
Art Rednerpult stehen. Dann liegt da eben ein Zettel drauf. Sie kann es nicht
ändern.
Was macht Mondkind, wenn ihre Akkus leer sind und sie doch nicht
schlafen kann?
Sie liest sich durch alte Schriftstücke. Durch alte Mails, lang zurück
liegende Tagebucheinträge, whatsApp – Nachrichten. Sie weiß, dass es ihr
meistens nicht gut tut, aber es gibt Stellen in ihrem Leben, die sie immer und
immer wieder durchlebt.
Sie hat viele Menschen zurück gelassen in den letzten Monaten.
Ist von einem Ort weg gegangen, an dem sich viele Menschen um sie
bemüht haben. Der Arzt und sie haben oft darüber debattiert, ob das moralisch
vertretbar ist, dass Mondkind dort auszieht und immer wieder wurde sie darin
bestärkt, es zu tun.
Aber so rückblickend…? Was sie manchmal vergessen hat ist, dass sie es
am Ende war, die die Entscheidungen getroffen hat und sie am Ende damit leben
muss. Auch wenn andere Menschen sie dahin geschubst haben.
Dass es Mondkind irgendwann alles zu viel werden würde, war abzusehen.
Ehrlich gesagt ist sie sehr überrascht, dass es überhaupt bis hierher
funktioniert hat. Dass sie irgendwann doch eingesehen hatte, dass sie sich im
Diesseits einrichten muss, obwohl sie nun allein ist, sie keiner mehr schützt
und keiner es mitbekommen würde, bevor es zu spät ist.
Und sie war auch überrascht, dass sie es so lange geschafft hat raus
zu gehen und Menschen zu treffen und sich irgendetwas um sich herum aufzubauen,
das sie ein bisschen trägt.
Das hätte sie nicht gedacht, damals, als alle Mondkind Druck gemacht
haben, ihr vorgeworfen haben, am Ende doch nichts ändern zu wollen und sie
Mondkind in den Mauern, die sie für schützend gehalten hat so sehr verletzt
haben, dass sie sich ein wenig bewegen musste.
Die alten Mails. Zwischen ihrer ersten Therapeutin und ihr. Eine
Beziehung, die am Anfang noch professionell wirken sollte, was die Therapeutin
ab und an damit unterstrichen hatte, dass sie tatsächlich mit einem Klemmbrett
vor Mondkind saß. Die Beziehung, die irgendwann immer mehr auf eine private
Ebene abrutschte. So weit, dass Mondkind zuerst ihren Hund und später ihrer
ganze Familie und ihren Freundeskreis kannte.
Am Ende hat Mondkind bei einer Freundin von ihr gewohnt und es war bis
zum Ende merkwürdig diese Person, die jahrelang als Einzige ihr Leben getragen
hat, ab und an unten durchs Haus wuseln zu hören.
Da Mondkind ja schon früher ein Problem mit der Produktivität hatte
und nicht ständig in die Nachbarstadt fahren konnte, haben sich die beiden oft
Mails geschrieben. Und Mondkind weiß, wie sie manchmal tagelang jedes Mal wenn
sie den Rechner hochgefahren hat, zuerst einen Blick in die Mails geworfen hat
in der Hoffnung, dort ein paar aufbauende Worte zu finden.
Damals gab es noch keine Ambulanz und kein Labor, die mittragen
konnten. Mondkind weiß nicht, ob es ihr je bewusst war, aber dieser Mensch hat
alles getragen. Mondkind hat ihr das nie direkt gesagt, weil sie Angst hatte,
dass es falsch rüber kommen könnte, aber sie war sich sicher ein Ende dieser
Beziehung nicht zu überleben.
Das ging ungefähr drei Jahre so. Bis dann die Ambulanz dazu kam. In
ihrem Tagebuch dreht sich in dieser Zeit sehr viel um das Warten auf Mails. Und
irgendwie sind drei Jahre eine unfassbar lange Zeit für so eine Wartestellung.
Und heute… - heute ist es ein eigenartig beklemmendes Gefühl diese
Mails von damals zu lesen. Worte, an denen so viel hing. Auf die sie oft so
lange warten musste.
Und noch viel beklemmender ist, dass ihre Wege sich mittlerweile so
gut wie getrennt haben. Man hört schon mal noch etwas von einander alle paar
Wochen oder Monate.
Es ist einfach erschreckend zu sehen wie etwas, das lange Zeit so
existentiell wichtig war, sich langsam aus dem Leben schleichen kann. Und ein
wenig… - ein wenig stellt sich rückblickend betrachtet die Frage, ob Mondkind
ihre Existenz da nicht auf einer Illusion aufgebaut hat.
Und das stellt dann auch irgendwie die Ambulanz in Frage. Denn die ist
ja noch viel unpersönlicher. Dort ist Mondkind eine Akte und es wird wohl kaum
einen geben, dem etwas an Mondkind persönlich liegt. Sie stellen ihre Fragen, die
sie stellen müssen. Sie nehmen Mondkind ständig das Versprechen ab dort beim
nächsten Termin wieder zu erscheinen und Mondkind glaubt sich daran halten zu
müssen, obwohl es zum Schluss wohl keinen interessiert.
Und auch im Labor herrschen am Ende nur Arbeitsbeziehungen. Wenn sie
das Labor verlässt, wird sie wohl keinen ihrer Kollegen dort je wieder sehen.
Mondkind baut ihr Leben doch im Grunde schon wieder auf Säulen auf,
die gar keine sind. Und wahrscheinlich wird sie das dann irgendwann feststellen
und sich fragen, was sie da eigentlich gemacht hat.
Wenn sie nicht mehr im Labor ist. Und die in der Ambulanz vielleicht
doch irgendwann auf die Idee kommen, dass Mondkind sich besser wen anders
sucht, weil es dort mit der Abrechnung ein wenig schwierig ist. Eigentlich
hätte Mondkind dort schon lange weg sein sollen, aber aus ihr nicht bekannten
Gründen durfte sie doch erstmal bleiben.
Vielleicht setzen wir hier mal einen Punkt. Mondkind kommt beim Denken
oft von Höckschen auf Stöckchen und ehe sie sich heute Abend noch völlig
eindreht… sollte sie sich vielleicht lieber mal Gedanken machen, worüber sie
morgen in der Ambulanz reden möchte.
Sie hatten ja schon ein Thema festgelegt am Ende der letzten Stunde
und wenn das alles etwas nützen soll, muss Mondkind sich schon noch ein paar Notizen machen…
Alles Liebe
Mondkind
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