Tagebuch: 23. November 2017



Es ist früh am Morgen und Mondkind umrundet das Gebäude fünf Mal und steigt unzählige Male in den falschen Fahrstuhl. Sie hätte ein paar Meter weiter gehen müssen, dann wäre sie auch im richtigen Gebäudeteil heraus gekommen. Eine Kommilitonin kommt ihr am Ende entgegen und holt eine überaus gestresste Mondkind vom Flur ab und ein paar Minuten zu spät verschließt sie die Tür hinter sich, murmelt in Richtung des Dozenten eine Entschuldigung und setzt sich auf ihren Platz.
„Wir brauchen jemanden für das Rollenspiel.“ Jeder findet eine Aussage, warum er es gerade nicht machen kann und alle Augen ruhen auf ihr. Warum kann Mondkind es nicht machen? Weil es zu früh ist? Sie zu wenig geschlafen hat? Sie im Zusammenroll – und – Stachel – raus – Modus ist? Angst vor den Menschen hat? 
Vielleicht hätte sie einfach schwänzen sollen... *seufz*

„Wie soll ich denn jetzt ein Patientengespräch ohne Patient führen?“, fragt Mondkind und im Prinzip ist das ein „Ja“ zu der unausgesprochenen Forderung. „Naja, ich projiziere einfach ein paar Folien mit Befunden an die Wand und das ist dann unser Patient“, erwidert der Dozent. Spannend….
Und genauso chaotisch wie es sich anhört, läuft es dann auch und Mondkind ist einmal völlig gebadet, als sie wieder auf ihrem Platz sitzt.

Es folgt eine Stunde Pädiatrie und eine Stunde Pharmakologie und Mondkind wird gerade klar, dass es das letzte Mal ist, dass ihr der Pharma – Dozent gegenüber sitzt. Als Dozent mag Mondkind seine ruhige Art ganz gern. Zwar überzieht er quasi immer, weil für ihn alles wichtig ist und sich kurz zu fassen nicht so seine Stärke ist, aber für sie hat er Pharma zu einem Fach gemacht, dass sie ganz gern mag und das sich auch ganz gut lernen ließ durch die strukturierten Folien.

Wenig später sitzt sie mit zwei Kommilitonen in der Mittagspause in der Cafeteria. Thema ist – wie in letzter Zeit quasi nur noch – das Examen. Aber Mondkind wird auch immer wieder gefragt, wie das damals mit der Klinik war. Es scheint die Leute irgendwie zu interessieren und da Mondkind mit den beiden in den letzten Wochen ohnehin viel Zeit verbracht hat und für sich selbst beschlossen hat, dass sie sich nicht schämen muss für die Dinge die passiert sind und deshalb Menschen die sie kennt auch Antworten bekommen, wenn sie fragen, erzählt sie ein wenig.
„Aber wie war das denn damals – hast Du das vorher gewusst?“, wird sie gefragt. „Naja, so halb“, erwidert Mondkind. „Aber es ist dann halt schon irgendwie ziemlich heftig, wenn Du da in der Ambulanz sitzt und die beschließen, Dich jetzt nicht mehr gehen zu lassen. Auch nicht, zum Sachen packen…“  „Und dann warst Du zum nächsten Studienblock schon wieder in der Uni?“, fragt die Kommilitonin weiter. „Ja – von der Klinik aus“, antwortet Mondkind. „Wie jetzt…?“ – das verstehen die beiden gerade überhaupt nicht und deshalb erklärt Mondkind es noch etwas ausführlicher. „Das heißt, Du bist jeden Tag nach der Uni in die Psychiatrie gefahren?“, wird sie gefragt.
„Du hast aber echt etwas durch. Das war wirklich mutig“, sagt irgendwann eine der Beiden. „Und es ist beeindruckend, wie Du das hinbekommen hast die Uni und die Krankheit unter einen Hut zu bringen – so scheinbar ganz nebenbei…“

So scheinbar ganz nebenbei… manchmal weiß Mondkind selbst gerade nicht so genau, wo sie steht. Einerseits merkt sie, dass sie sich gerade ganz viel für andere Leute einsetzt und nebenbei noch bis Anfang der Woche beinahe jeden Tag im Labor gewesen ist und in der Uni war und nebenbei gelernt hat und dass sie es alles irgendwie hinbekommen hat. Es macht nicht jeder eine Doktorarbeit neben dem normalen Uni – Betrieb. Es besteht nicht jeder alle Klausuren im ersten Anlauf. Die waren nicht immer alle gut, aber sie waren immer bestanden.
Objektiv gesehen ist sie vielleicht gar nicht so schlecht.

Mondkind hat auch viele Praktika hinter sich und in vielen davon hat man ihr nichts angemerkt. Es ist ein Leben in Gegensätzlichkeiten, was es nach außen hin einfach gestaltet, aber es für sie selbst schwer macht. Jedes Mal beim Überstreifen des Kittels entsteht eine Diskrepanz zwischen ihrer Außenwelt und ihr. „Du wirst mal eine gute Ärztin und auf jeden Fall in der Regelzeit Deinen Facharzt hinlegen“. Das hat Mondkind oft gehört. Und wenn es gehen musste, ging alles irgendwie
Sie hat sogar einen Weg gefunden, mit suizidalen Patienten umzugehen. Sie hat gewartet, bis sie ihre Sätze zusammen gebastelt haben, ist mit ihnen zwischen ihren Zukunftsplänen auf der einen Seite und der Sehnsucht zu sterben auf der anderen Seite innerhalb von einem Satz hin und her gesprungen. Sie hat die Stille mit ihnen ausgehalten, einfach nur daneben gesessen. Sie hat ihnen erklärt, dass die Dinge im Leben auch immer veränderbar sind. Dass man jetzt noch gar nicht wissen kann, wo man in 10 Jahren ist. Dass vielleicht alles anders kommt, aber dass das doch okay ist, solange wie man es am Ende für sich selbst akzeptieren kann und an den Punkt kommt zu sagen, dass es zwar anders als geplant, aber okay ist. Und dass man aber in der Zukunft nur ankommen kann, wenn man die Zeit im Jetzt gerade übersteht und dass es okay ist, sich dabei helfen zu lassen, wenn man es gerade alleine nicht schafft und für sich tragen kann. Und dass es auch okay ist, wenn es dadurch ein wenig länger dauert, weil Lebensqualität immer noch das ist, was am Ende am meisten zählt.
Und irgendwie – ja, irgendwie hat sie es geschafft eine zu Beginn absolut unkooperative Patientin zu stationären Aufnahme zu bewegen, als sie selbst nur noch zwei Wochen davon entfernt war.

Und sobald Mondkind den Kittel auszieht merkt sie, wie sehr sie es anstrengt vorzugeben, mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Aber sie kann es eben. Und ist das nicht das, was am Ende zählt?
Ist es vielleicht nicht irgendwie egal, wie tief zwischendurch die Löcher sind, solange man im spannenden Moment wieder aufsteht? Ist das nicht alles okay, solange wie die Patienten nicht darunter leiden, wie es ihr geht?
Aber wie kann es sein, dass ihr zwischendurch immer noch der Sinn verloren geht? Dass sie eigentlich trotz allem nicht weiß, warum sie morgens aufsteht? Dass es irgendwie für sie keinen Plan von einer gangbaren Zukunft gibt? Nicht, weil es absolut gesehen keinen Plan gibt, sondern weil dieser Plan auch eher wieder am Außen orientiert ist. Was macht sie, wenn die Sache mit „ihrem“ Krankenhaus nicht klappt?

„Mondkind ich hatte vor im Dezember nach der Klausur zu backen. Hättest Du auch Lust? Soll ich Dir Bescheid sagen?“, reißt eine der beiden sie aus den Gedanken. „Ja gerne, ich würde mich wirklich freuen“, antwortet Mondkind.

Die nächsten beiden Stunden Seminar stehen auf dem Programm. Es geht um Vergiftungen. Einmal aus kinderärztlicher Sicht und ein Mal aus pharmakologischer Sicht. Sie findet es immer wieder beeindrucken, wie giftig Nikotin ist, wenn man die Zigarette nicht so konsumiert, wie das angedacht ist, sondern sie stattdessen isst oder sich daraus einen Tee kocht. Und auch der Klassiker ist natürlich wieder dabei: Paracetamol – Vergiftung. Das bringt man uns in beinahe jedem Studienblock näher – es scheint also entweder Lieblingsthema an meiner Uni zu sein oder es kommt öfter vor, als man das so denkt. In den Famulaturen ist es ihr bisher noch nicht begegnet.

Zum Schluss steht noch ein Seminar in der Gynäkologie auf dem Programm. Heute geht es um geburtshilfliche Maßnahmen. Ein Oberarzt führt die Studenten durch die Stationen und sie kann es nicht ändern, dass sie sich gedanklich jedes Mal wieder mit ihrem Erlebnis von damals konfrontiert sieht. Wie war das eigentlich nochmal genau? Welche Schritte sind damals genau abgelaufen?
Manchmal fragt sie sich ja schon, wie man nach dem Medizinstudium noch Kinder bekommen kann – auch ohne ein Erlebnis, wie sie es hatte. In der letzten Station geht es um Schulterdystokie. Und irgendwann der Oberarzt so: „Naja, und wenn dann irgendwann gar nichts mehr geht und das Kind in ganz akuter Gefahr ist, kann man auch noch die Symphyse sprengen – das ist aber schon ein sehr brutaler Eingriff mit vielen Kollateralschäden…“
Und nach einem Blick in die Runde fügt er hinzu: „Und jetzt wollen Sie alle keine Kinder mehr bekommen…“
Nee irgendwie nicht…

Alles Liebe
Mondkind

PS: Mir fallen langsam keine Titel mehr ein. Vielleicht nummeriere ich die Tage irgendwann einfach durch.

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