Glück



„Also normalerweise passiert uns das nicht…“

Diesen Satz bekommen wir immer wieder zu hören, wenn wir uns bei unserem Studienblockkoordinator über ausgefallene Seminare beschweren.

Und im Moment fällt viel aus. Zwei Feiertage kommen wohl so plötzlich daher, dass es schier unmöglich ist im Vorhinein zu planen, wer von den Dozenten nun in der Woche im Urlaub ist und wer nicht.



Schon am Montag hatte das zur Folge, dass mit konstanter Regelmäßigkeit jede zweite Vorlesung ausgefallen ist. Bis das dann allerdings klar ist, verstreicht auch wieder Zeit, sodass es sich dann nicht mehr lohnt, ins Labor zu fahren. Also waren wir am Montag gleich mehrmals Kaffee trinken…



Ein Seminar, das am Montag ausgefallen war, hatte man „geschickt“ so auf den heutigen Morgen gelegt, dass es irgendwie den ganzen Tag mehr oder weniger unbrauchbar machte, weil zwischendurch zu wenig Zeit sein würde, um etwas anständiges zu tun.



Da ich für den Winter noch eine neue Decke und ein Kissen benötige, damit ich in den kalten Nächten nicht friere, kam es mir gelegen, dass es die gerade im Angebot gab. Unser MTA hatte mich letzten Freitag darauf hingewiesen, nachdem ich ihm in der Mittagspause erzählt hatte, dass mir die Nächte langsam zu kalt für meine Sommerdecke werden. Nur bitte wann würde ich heute noch Zeit haben, dorthin zu fahren?

In anderthalb Stunden wird das eben echt knapp.



Um 10 Uhr stand ich vor dem Seminarraum und sogar der Dozent war da (die Virologen sind bisher wirklich sehr zuverlässig), nur leider war die Veranstaltung nicht im Kalender der Sekretärin der Pädiatrie eingetragen, in deren Räumlichkeiten das Seminar stattfinden sollte. Deshalb war der Raum schon von Technikern in Beschlag genommen worden, die das komplette Computersystem lahm gelegt hatten und auf die Art eine Präsentation unmöglich machten. Einen Ausweichort hatte die Sekretärin auch nicht zu bieten. Alle anderen Seminarräume seien besetzt.

Deswegen wurde das Seminar dann zum zweiten Mal verschoben – auf morgen… dann aber direkt in der Virologie und nicht bei den Pädiatern. Das ist mal eine weise Entscheidung…



„Das war aber ein kurzes Seminar“, begrüßt mich der MTA, als ich wieder im Labor aufschlage und meine Tasche in die Ecke stelle. Meinen Laptop hatte ich im Labor gelassen und da es nun noch fast zwei Stunden bis zur nächsten Veranstaltung waren, war nun mein Plan es in der Zeit doch zu versuchen, einkaufen zu gehen.

„Dann kümmere ich mich jetzt um das Bettzeug“, sage ich. „Dazu muss ich nur mal eben eine Verbindung suchen, weil das mit dem Fahrrad ja schwierig wird“, erkläre ich und klappe nebenbei schon den PC auf. „Ja, mit dem Fahrrad ist das eine blöde Idee“, bestärkt er mich. Und nach kurzem Nachdenken: „Oder sollen wir das jetzt machen? Dann fahren wir schnell mit dem Auto?“



Für einen kurzen Moment bin ich echt ein bisschen überfordert. Das ist ein super liebes Angebot, aber kann ich es verantworten, dass mein MTA während der Arbeitszeit mit mir Bettzeug kaufen geht? Am Ende bekommt er noch Ärger wegen mir.

„Das ist wirklich ein nettes Angebot“, beginne ich… „Ich habe doch hier eh gerade nichts zu tun“, wirft er ein. Wahrscheinlich weiß er, was ich gerade denke. „Und dann ist das eben meine etwas verlängerte Mittagspause…“



Er meldet sich noch bei seiner Kollegin ab und kurze Zeit später sind wir auf dem Weg zu seinem Auto. Für mich fühlt sich das immer noch merkwürdig an.



Sein Fahrstil ist ein wenig wild, aber wir sind ja zum Glück nicht lange unterwegs.

„Dann laden wir das jetzt noch bei Dir zu Hause ab“, erklärt er. „Weißt Du, wie wir dahin kommen, sonst schmeiße ich das Navi an.“

„Naja… - mit dem Auto war ich ja bisher selten da und meine Fahrradstrecke können wir nicht nehmen.“ Es ist mir ein wenig unangenehm, dass er wegen mir jetzt auch noch das Navi aktivieren muss.



Kurze Zeit später parken wir vor dem Studentenwohnheim. Als ich heute Morgen los gefahren bin, habe ich nicht damit gerechnet, dass wenige Stunden später der MTA in meinem Zimmer steht. Auf Besuch bin ich jetzt nicht eingestellt gewesen – von daher sah es schon mal ordentlicher bei mir aus…



Die Gelegenheit nutzt unser MTA gleich und schaut sich um, wie ich denn jetzt hier so wohne. „Ihr habt aber ein großes Bad“, kommentiert er. „Ja das stimmt“, sage ich „Das was wir an Küche zu wenig haben, steckt im Bad…“.

Ich bin froh heute Morgen nach dem Brote schmieren zumindest noch schnell abgewaschen zu haben.



40 Minuten nachdem wir los gefahren sind, stehen wir wieder aus dem Parkplatz.

Ich bedanke mich bei ihm und manchmal… - manchmal fehlen mir einfach die Worte. Ich bin ihm so unfassbar dankbar, dass ich das eigentlich gar nicht ausdrücken kann.

„Wenn man das alles so zusammen nimmt“, beginne ich, „wüsste ich manchmal echt nicht, was ich ohne Dich machen würde. Ich hätte viel mehr Theater mit dem Fahrrad gehabt, ich hätte für das Drucken der Scripte wahrscheinlich ein kleines Vermögen bezahlt und heute nach der Uni hätte ich mich wahrscheinlich auch nicht mehr aufraffen können…“

„Du weißt doch – wenn es irgendetwas gibt das ich tun kann, damit es für Dich ein bisschen einfacher wird, mache ich das gern“, erwidert er. „Und ich weiß doch, dass das sonst für Dich wieder schwierig geworden wäre…“



Als ich wieder vor meinem Mikroskop sitze und er zwei Räume weiter an seinem PC, steigen mir doch ein paar Tränen in die Augen.

Das meine ich ganz ernst: Ohne ihn wäre Vieles in der vergangenen Zeit viel schwieriger geworden. Und damit meine ich nicht nur die materiellen Dinge – es tut auch so gut, wenn ich weiß, dass ich morgens als Erstes ins Labor fahre. Hinter diesen Türen, durch die nur wenige Leute mithilfe einer Schlüsselkarte Zugang haben, liegt eine ganz eigene Welt.



Und das ist Glück – für mich jedenfalls. Dieser kurze Augenblick, in dem ich begreife, dass da draußen Menschen sind, denen ich wichtig bin. So hat er es zwar noch nie gesagt, aber das darf man wohl daraus schließen, wenn er mich durch die Gegend fährt oder mein Fahrrad repariert. Das würde er ja sonst nicht machen.

Und irgendwie bewegt mich das. Dieses Wissen, dass ich vielleicht doch irgendwo fehlen würde.

Glück ist etwas Kurzweiliges – irgendwann geht es zurück in den Alltag. Aber dort und in diesem Moment habe ich es ganz intensiv gefühlt.



Einige Zeit später muss ich dann los zum nächsten Seminar. „Heute schaffe ich es nicht mehr, aber ich bin morgen wieder da“, erkläre ich ihm.

„Dann bis morgen“, sagt er und nimmt mich noch mal ganz fest in den Arm. 

Alles Liebe
Mondkind


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