Über den Sinn und Unsinn von Wegpunkten



Mondkind hat ihren Wegpunkt passiert.

Heute Morgen hat sie noch gelernt und irgendwie erscheint es ihr gar nicht so schlecht als Motivator das Labor vor sich zu sehen. Je schneller sie ist und je mehr Lernpunkte sie bis 11:30 Uhr abgehakt haben würde, desto beruhigter würde sie ins Labor fahren können. Vielleicht ist das der Grund, warum sie schon halbwegs motiviert um kurz nach 7 Uhr am Schreibtisch sitzt.

Und jedes Mal, wenn sie ihre Schlüsselkarte vor die Tür gehalten, das vertraute Klicken gehört und sie anschließend geöffnet hat, huscht ihr ein Lächeln über das Gesicht.
Und jedes Mal steht der MTA von seinem Stuhl auf und begrüßt sie mit einer Umarmung. Es ist ein Ritual, von dem Mondkind nicht müde wird.
Drei Stunden hat sie Zeit und sie schafft es fast einen gesamten Schnitt zu bearbeiten. Klingt wenig, ist aber doch ganz okay. Es liegt aber auch daran, dass es diesmal wirklich nicht so viele Gefäße gibt. Sie selbst findet es allerdings immer noch beeindruckend, wie aus dem Umriss des Präparats nach einigen Stunden eine Landkarte entstanden ist.
(Ich mache mal ein Foto davon, damit man sich vorstellen kann, was ich da überhaupt mache).

Und dann macht sie sich um kurz vor 16 Uhr auf die Socken, um ihren Wegpunkt zu passieren.
Sie hat heute zwei große Themen im Gepäck.
Allerdings ist die Therapeutin ein wenig spät dran und erklärt auch direkt zu Beginn, dass sie 15 Minuten früher aufhören müssen. Das ist ärgerlich, aber Mondkind weiß, dass für sie auch schon ordentlich hin und her geschoben wurde – da gehört es wohl dazu, dass man auch selbst ab und an mal etwas von seiner Zeit abgeben muss. Im Endeffekt bleiben den beiden heute nur knapp 30 Minuten.
Mondkind muss sich in Zukunft besser überlegen, wie sie anfängt. Sie wird nach ihrem Wochenende gefragt und sie berichtet, dass die Akkus wirklich leer waren. Sie will nicht sagen, dass es ziemlich schlecht gelaufen ist, denn irgendwie läuft es ja immer ziemlich schlecht und das kann ja nicht sein. Irgendwann muss es doch auch mal okay sein. Deshalb gerät sie mit ihrer Erzählung ein wenig ins Schleudern. Sie weiß gar nicht, warum sie es noch anfügt, aber sie berichtet auch kein Tagebuch geschrieben zu haben (was für sie immer heißt, dass wirklich wenig Energie da war).
Jedenfalls… - Tagebuch. Neben dem Examen quasi Zweitlieblingsthema ihrer Therapeutin.
Im Prinzip möchte sie nicht, dass Mondkind so viel Tagebuch schreibt. Sie sagt, dass man dabei zu sehr in die Grübelschleifen gerät, dass man immer noch einen negativen Punkt findet, den man noch anhängen kann und dann wird das alles wirklich kontraproduktiv. Aber Mondkind empfindet das gar nicht so. Wenn sie Themen in ihren Texten durchdacht hat, dann kann sie die gedanklich los lassen. Sie muss ja nicht mehr fürchten die Überlegungen wieder zu vergessen – die sind dann verschriftlicht und dort können sie erst mal liegen bleiben und sie kann sich wieder anderen Dingen zuwenden. (Deshalb verschriftlicht sie auch fast jede Therapiestunde und versieht die Einträge in ihrem Tagebuch mit einem Symbol, um sie mit der Suchfunktion wieder zu finden. So ist sie sicher, Erkenntnisse und Gedankenanstöße zu behalten und kann wieder in Ruhe lernen und sich zu gegebener Zeit Gedanken darüber machen). So richtig anfreunden kann ihre Therapeutin sich mit der Argumentation nicht. Und Mondkind umgekehrt nicht mit ihrer.
Dass Mondkind die Einträge teilweise immer und immer wieder durchliest, lässt sie mal unter den Tisch fallen. Und ja – das ist nicht immer positiv. Es kann aber positiv sein, wenn sie die Richtigen raus sucht.
Und abgesehen davon – je älter sie werden, desto wertvoller werden die irgendwie. Mondkind ist jedenfalls dankbar nachlesen zu können, was sie vor 10 Jahren gedacht hat. Es gibt ihr auch irgendwie die Gewissheit, dass ihr Hirn sie nicht völlig trügt.

Mondkind ärgert es, dass dafür schon die Hälfte der Zeit drauf gegangen ist. Obwohl sie einen Zettel im Gepäck hat, muss sie jetzt ihre Themen mündlich zusammenfassen und sich auch für Eines entscheiden, weil für Zettel lesen die Zeit nicht mehr reicht. Sie überlegt, ob sie das Labor – Thema nehmen soll, aber ihrer Therapeutin jetzt zu erklären inwiefern das Labor wieder eine Art „zu Hause“ für sie geworden ist, ist ihr jetzt ein wenig zu umständlich. Dazu muss man ja wieder den Begriff „zu Hause“ erstmal definieren und abgesehen davon weiß Mondkind aus Erfahrung, dass Außenstehende solche Überlegungen nur schwer nachvollziehen können.

Es gibt auch im Prinzip noch ein anderes Thema, das ihr noch ein wenig mehr unter den Nägeln brennt, indirekt aber auch irgendwo die Ambulanz in Frage stellt; deshalb ist Mondkind sich auch hier unsicher, beschließt es dann aber doch zu erzählen. (Das ist der Vorteil an Zetteln. Was einmal buchstäblich auf dem Tisch liegt, kann nicht aus Angst doch wieder von Mondkind weg gelassen werden. Das ist auch eigentlich der einzige Sinn der Zettel).
Ihre Wegpunkte unterteilen ihren Weg irgendwie in erträgliche Etappen. Sie sind der Grund, warum Mondkind überhaupt noch weiter gehen kann. Und dennoch gibt es eine Frage, die Mondkind sich nach dem Passieren eines jeden Wegpunktes stellt: Was ist das Ziel?
Es kann doch nicht der Sinn sein, Mondkind am Leben zu erhalten. Sie irgendwie durch die Jahre zu schleifen und manchmal fragt Mondkind sich selbst, wie sie das schon so lange Zeit gemacht hat. Und wenn das nicht der Sinn ist – was ist dann das Ziel, an der sie dieser Weg, der von den Wegpunkten gesäumt ist, eines Tages bringen soll? Und wie sieht ihre Welt aus, wenn dieses Ziel erreicht ist?

Wie kann sie das für sich definieren, wenn sie gar nicht weiß, wer sie mal war, wie sich Normalität anfühlt und was das überhaupt ist? Wobei Normalität immer so ein schwammiger Begriff ist. Vielleicht sollte sie fragen: Wie fühlt sich ein lebenswertes Leben an?
Wie kann man etwas suchen, von dem man keine Vorstellung hat, wie es überhaupt aussehen soll?
Das ging doch schon mit der Aussage „suchen Sie sich ein Hobby“ los. Wie soll sie etwas finden, wenn sie so sehr gefangen in sich selbst ist, wenn da so viel Streit in ihrem Kopf ist, dass irgendeine mögliche Empfindung dahinter überhaupt nicht ankommt?
Die Klinik mag dafür Ansätze geliefert haben. In diesen wenigen Tagen, an die sie sich gern erinnert. Als der Druck weniger war, weil die Uni noch nicht wieder da war. Das war teilweise ganz komisch, ihre Umgebung so intensiv wahrzunehmen und ein Teil davon zu sein. Nicht so entrückt. Nicht so sehr gefangen in sich selbst. War vielleicht das ein Stück dieses Lebensgefühls, das sie sucht?

Sie hat überhaupt keine Ahnung, wo sie hin möchte, weil es die in der Klinik viel zitierte „Zeit vor der Krankheit“ bei ihr überhaupt nicht gab - jedenfalls nicht, solange sie sich aktiv daran erinnern kann.
Sie war immer irgendwie anders – immer ein bisschen „entrückt“ in ihrer eigenen Welt. Sie mag auch bei vielen Dingen körperlich dabei gewesen sein, ohne sie wirklich erlebt zu haben.
Sie hatte auch immer andere Themen. Beinahe solange es Aufzeichnungen gibt, stellt sie den Sinn nicht nur phasenweise, sondern quasi durchgängig in Frage und dann kommt die Überlegung dazu, ob sie das überhaupt noch möchte. Wobei sie weiß, dass es die schon viel eher gab, sie sich aber nicht traute darüber zu schreiben. Da war kein Platz mehr für normale „Teenager – Dinge“.
Sie hat die Zukunft nie geplant, weil es die für sie nicht gab.

Es ist ein Leben, das sie hauptsächlich im „Mainstream“ der Gesellschaft gelebt hat. Sie hat immer das getan, was man von ihr verlangt hat, ohne das in Frage zu stellen. Es war auch der einzige Weg, Anerkennung zu bekommen. Die gab es nicht für kreatives Schreiben, für die jungen schwierigen Pferde, auf denen Mondkind doch gelernt hat zu reiten und nicht dafür, dass sie angefangen hat, sich selbst das Klavier spielen beizubringen.
Die gab es ausschließlich für Noten. Schulnoten waren der Dreh- und Angelpunkt in der Familie. Akzeptanz bei guten Noten, Ignoranz oder böse Worte oder auch beides bei schlechten Noten.
Und ganz im Ernst: Welches Kind möchte nicht im tiefsten Inneren seinen Eltern gefallen und Anerkennung bekommen für das, was es tut?

Die Therapeutin nickt immer mal, während Mondkind erzählt und merkt an, dass es die Zeit vor der Krankheit bei ihr scheinbar wirklich nicht gab – darüber hatten die beiden auch schon diskutiert. Sie versteht Mondkinds Standpunkt.
Mondkind kommt mit der Frage eben absolut nicht weiter.
Die Therapeutin will wissen, was denn anders war in diesen paar Tagen, in denen Mondkind sich ein bisschen mehr wie ein Teil dieser Welt gefühlt hat.
Hauptsächlich war es wohl weniger Stress. Weniger „Du musst“. Weniger fünf Dinge gleichzeitig, denen sie gerecht werden muss. Aber so richtig weiß Mondkind es nicht. Es war einfach eine völlig andere Zeit. Sie war ja komplett draußen aus dem „normalen“ Leben. Es war alles anders. Es mag auch dazu beigetragen haben, dass sie in Gesellschaft war und dass sie ein Gefühl von Sicherheit hatte. Da war immer jemand. Dinge, die sie für sich selbst nicht lösen konnte, musste sie nicht ewig mit sich herum schleppen. Druck konnte sie in Gesprächen letzten Endes ein wenig von sich selbst herunter nehmen. Es gab auch regelte Pausenzeiten – die sich zum Beispiel allein aus den Mahlzeiten ergaben. Das bekommt Mondkind ja gar nicht hin.

„Sie müssen irgendwie den Druck da raus kriegen“, erklärt ihre Therapeutin.
Nur das wie… - mit dem „wie“ wissen sie beide nicht recht weiter. Sie könnte weniger ins Labor gehen, würde sich damit aber das nehmen, das ihr im Moment noch Kraft gibt. An Examen und Klausur kann sie erstmal nichts ändern. Aktuell hat sie ihr Sozialleben sehr stark eingeschränkt, aber das sei auch keine Lösung, sagt die Therapeutin. „Da müssen wir dran bleiben“, erklärt sie.

Letzten Endes bleiben die beiden dort stehen, weil die Zeit mittlerweile weit fortgeschritten ist.
„Ich habe im Moment einfach irgendwie das Gefühl, dass ich wirklich ein bisschen abrutsche“, schließt Mondkind. Sie ist ja nicht doof – sie merkt ja selbst, dass ihr die Errungenschaften der Klinik gerade durch die Finger rinnen.
„Ja, die Sorge habe ich im Moment auch“, sagt ihre Therapeutin.

„Melden Sie sich, wenn etwas ist“, erklärt sie, gibt Mondkind die Hand und entlässt sie.
Mondkind ist immer ein wenig unklar, was im Fall der Fälle zu machen ist. Ob sie in der Ambulanz anrufen soll, die ja den Plan ihrer Therapeutin nicht kennen. Ob sie eine Mail schreiben soll (das findet sie aber meist auch nicht so passend)… die Unsicherheit hindert sie auch – wenn es nicht gerade ums Überleben geht – meistens daran das zu tun.
Und sie weiß, dass sie das auch nicht tun wird, auch wenn allein der Gedanke Sicherheit vermittelt. Sie hat mitbekommen, dass denen in der Ambulanz im Moment das Personal abgezogen wurde und sie weiß, dass sie mit ihrem Zweiwochenabstand schon ganz gut dran ist – auch wenn es für sie viel ist. Im Dezember wird das wohl wieder anders werden. Und sie weiß auch, dass sie die Klausur schreiben muss, egal was passiert.

Eiskalter Wind weht ihr ins Gesicht, als sie auf dem Weg zu ihrem Fahrrad ist.
Der erste Schritt auf dem Weg zu einem neuen Wegpunkt. Wer weiß, was in zwei Wochen wieder los ist, aber sonst möchte Mondkind das Thema nochmal ansprechen – und sich bis dahin noch ein paar Gedanken darüber gemacht haben. Denn irgendwie kann Überleben allein wirklich nicht der Sinn sein.

Heute Abend muss sie noch ein bisschen Gynäkologie lernen und ihren Vortrag machen.
Morgen darf sie den im Labor zur Probe halten. Da sollte das schon halbwegs hinhauen…

Und vielleicht sollte sie mal darüber nachdenken, wie sie Druck raus nehmen kann. Erster Schritt wäre vielleicht, Lernpläne nicht zu ergänzen, wenn sie fertig ist. Wenn hinter allen Punkten rosa Haken sind, sollte sie vielleicht einfach frei haben.

Alles Liebe
Mondkind

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