Auf dem Weg
Manchmal frage ich mich, wie ein einziger Mensch so
viel Glück haben kann.
„Du hast keine einfache Biographie Mondkind“, sagt
der Neuro – Oberdoc. „Aber bisher hast Du es doch immer irgendwie hinbekommen.
Und es ist mir eine Ehre und von Dir ein großes Geschenk, dass Du mich da so
ins Vertrauen ziehst und mich nicht nur an Deiner beruflichen, sondern auch an
Deiner privaten Entwicklung teilhaben lässt.“
Na wenn er das so sieht… - ich wiederrum finde,
dass es ein großes Geschenk ist, jemanden wie ihn als PJ – Verantwortlichen zu
haben. Einen Mentor, der sich nicht nur um die beruflichen Dinge kümmert,
sondern auch eine menschliche Verantwortung für seine Schützlinge sieht.
Irgendwie schaffe ich es mir hier langsam mitten
auf dem Land ein Netz aufzubauen, mit dem es selbst ohne – und vielleicht
gerade ohne – psychiatrische Versorgung läuft.
Ich sehe nicht mehr aus, wie dieses zerbrechliche
Wesen, das man schützen muss. Die Zeiten der Anorexie sind vorbei. Wenn ich da
meine Schwester so sehe: Ich weiß nicht, warum sie niemand darauf anspricht. Ich
wurde damals von so vielen Leuten darauf angesprochen und gefragt, ob man mir
helfen kann. Und nachdem ich das eine Weile abgeblockt habe, habe ich mich
irgendwann darauf eingelassen. Es war der Anfang von einer sehr harten Zeit,
die am Ende viele Veränderungen nach sich gezogen hat und immer wieder den ein
oder anderen Sumpf bereitgehalten hat. Aber am Ende hat dieser Weg mich dorthin
gebracht, wo ich heute bin.
Jetzt weiß ich natürlich nicht, ob sie die Leute
auch ansprechen, aber sie das abblockt.
Ich weiß nicht mehr, wie das mit dem Neuro –
Oberdoc alles angefangen hat. Irgendwann habe ich ihm mal gesagt, dass ich das
eigentlich gar nicht verstehe, warum sich jemand für eine PJlerin so viel Mühe
gibt. Seine Antwort war: „Weil Du Dir das durch Deine sympathische Art und
Deine Kompetenz erarbeitet hast. Du musst das nicht hinterfragen – akzeptiere es
einfach.“
Und wie hat das mit dem Seelsorger eigentlich
angefangen… ? Er hat festgestellt, dass ich müde aussehe. Und ich habe erklärt,
dass ich gerade viel an den Hacken habe. Ich wollte das auch nicht weiter
ausführen – ich muss nicht jedem meine Biographie auf die Nase binden. Aber er
hat weiter gefragt. Und ich habe das dann auch nicht weiter abgeblockt, weil es
mir in dem Moment einfach gut getan hat, darüber zu reden.
Ist es vielleicht die Professionalität, mit der ich
meine Arbeit mache, in Verbindung mit einer gewissen Menschlichkeit? Nein, ich
bin kein Überflieger, keine perfekte Medizinstudentin. Nicht komplett überzeugt
von dem, was ich da mache, sondern – wahrscheinlich ist es in der Phase der
Ausbildung auch normal – noch etwas desorientiert und unsicher.
Ich verstehe ehrlich gesagt einfach nicht, warum
die Menschen sich mit meinem Chaos beschäftigen. Das mit der Sympathie habe ich
jetzt schon öfter gehört… - dabei finde ich mich selbst immer zu still, um
sympathisch sein zu können.
Ist es vielleicht auch eine gewisse Neugier
meinerseits, Wege einfach zu gehen und zu warten, was passiert? Nein, das ist
keine alltägliche Beziehung zwischen Oberarzt und Studentin, die wir da haben.
Zu privat, um noch professionell zu sein, aber dennoch professionell genug, um
bestimmte Grenzen nicht zu überschreiten. Ist es vielleicht der Mut, nicht
daraus auszubrechen, sondern das weiter so zu führen, auszuhalten und zu
schauen, wohin es mich bringt?
Vielleicht ist es auch eine gewisse Offenheit für
bestimmte Dinge? Mit einem Seelsorger, der Pfarrer ist, in einer Kapelle zu
sitzen, ist für mich schon sehr ungewöhnlich, da ich ja – wie bereits erwähnt –
mit Religion nicht viel am Hut habe. Ja, das hätte auch ein ziemlich
unangenehmer Termin werden können, aber ich wollte es ausprobieren.Und am Ende war das eine sehr richtige Entscheidung.
Und jetzt fühlt es sich trotz der Schwere und
Verzweiflung an, als sei ich auf irgendeinem Weg. Mit dem Neuro – Oberdoc kann
ich an meiner Angst im Krankenhaus und an den Selbstzweifeln arbeiten, dass ich
eventuell nicht gut genug bin. Nächste Woche darf ich die Patienten unter
seiner Anleitung betreuen. Ich darf mich nur nicht damit verrückt machen, dass
ich alles hundert prozentig richtig machen muss. Eigentlich gibt er mir die
Chance, mutig einen Weg einzuschlagen. Wenn es richtig ist, dann ist es sehr
gut. Wenn es falsch ist, ist er aber der Letzte, der mir den Kopf abreißt.
Vielleicht kann ich unter seiner Anleitung noch eine ganze Menge Neuro lernen.
Und mit dem Seelsorger arbeite ich an der Sache mit
den Gefühlen. Ich finde den Ansatz gar nicht so blöd, den er fährt. Erst
versuchen, wieder eine Resonanz in mir selbst zu finden, wieder fühlen zu „lernen“
(insbesondere positive Gefühle zu spüren) und dann Dinge suchen, die diese
Gefühle hervor rufen.Er kommt genau andersherum, als die Klinik damals. Und irgendwie finde ich den Ansatz sogar sinnvoller. Denn wie soll ich Tätigkeiten finden, die mir Freude machen, wenn ich das eben im Moment überhaupt nicht fühlen kann?
Ich habe einfach den Eindruck, dass da zwei Leute
sind, die sich Gedanken machen und wissen, was sie da tun. Und ich möchte
wirklich versuchen, mich auf diese beiden Sachen einzulassen. Also nächste
Woche mal keine Hyperventilation auf der Stroke unit, weil das einfach
vollkommen unnötig ist, sich da so verrückt zu machen. Und versuchen, die
Hausaufgaben des Seelsorgers zu machen und mich auch nächste Woche auf das, was
er da mit mir treibt einzulassen. Als er gefragt hat, wie das weiter gehen
soll, habe ich schon kurz überlegt, ob das überhaupt weiter gehen soll. Weil es
einfach unangenehm war. So eindrücklich darauf hingewiesen zu werden, was hinter
der Fassade nicht funktioniert und sich damit auseinander setzen zu müssen, ist
nicht einfach. Aber das ist einfach eine Chance, die er mir da gibt.
Und so generell kann man die Situation hier gerade
als Chance sehen. Ja, die Neuro war immer das Endziel. Und immer der Punkt, ab
dem es besser werden soll. Im Nachhinein betrachtet, konnte das nicht
funktionieren. Und dennoch kann ich jetzt hinterfragen, was ich mich da
eigentlich vorgestellt habe und wie man tatsächlich dahin kommen kann. Und ich
muss den Weg gerade nicht alleine gehen.
Und wer weiß, wie ich hier Ende Dezember gehe.
Ziemlich angeschlagen wahrscheinlich (der Oberdoc und ich sind uns einig, dass
man die nächste heftige Krise voraus sehen kann, weil sie der nächste Verlust
des Außens sein wird. Es ist halt die Frage, ob ich in der Studienstadt wieder
meine Anker finde, die meinen Weg in Etappen aufteilen).
Aber vielleicht bin ich auch ein Stück voran
gekommen. Vielleicht etwas selbstsicherer. Vielleicht mit dem Wissen, dass es
an mir ist zuzulassen, auch mal positive Resonanz in mir zu fühlen. Und mich
vielleicht auch streckenweise darauf einzulassen. Und dass es neben all den
Verlusten auch immer noch positive Dinge geben wird. Ich muss sie nur sehen.
Ich weiß es nicht… - wenn es nächste Woche gut
weiter geht auf der Stroke Unit und ich nicht das Gefühl habe komplett
überflüssig und störend dort zu sein – vielleicht ist das Tal dann jetzt doch
endlich mal überwunden. Vielleicht geht es bergauf…
Mondkind
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