Bezugspersonen
Er sitzt auf dem blauen Hocker,
sie kniet daneben. Vor den beiden der Kopierer. Mondkind muss ihren
Sozialversicherungsausweis kopieren; er irgendeinen anderen Ausweis.
„Also Mondkind, ich möchte das
papiersparend machen. Meinst Du ich kann den Kopierer irgendwie überzeugen, das
nebeneinander zu drucken?“
„Naja, ich würde vorschlagen, Sie
kopieren den Ausweis einfach ein Mal, schieben ihn ein Stück zur Seite, legen
das vom Kopierer ausgespuckte Blatt wieder in das Papierfach und kopieren
nochmal…“
Er hält das für eine gute Idee –
obwohl Mondkind das eigentlich immer so macht.
Es ist nur die Frage, wie rum das
Blatt wieder ins Papierfach muss.
Er drückt auf Kopieren, hebt
seinen Zeigefinger und zwei Augenpaare starren auf den Kopierer.
Vorsichtig zieht er das Blatt aus
dem Kopierer, als könne er noch nicht ganz glauben, dass es geklappt hat. Aber
das hat es.
„Wahnsinn – zwei Mediziner können
mit einem Kopierer umgehen.“
Mondkind lacht und für den Moment
ist es wirklich echt. Für den Moment hat die Schwere mal Pause. Für den Moment
rast ihr Herz nicht in ihrer Brust, zieht sich ihr Magen nicht zusammen,
zittern ihre Finger nicht, spannen ihre Halsmuskeln sich nicht an.
Für den Moment ist alles okay.
Einen Moment nur.
„Ein schönes Wochenende Mondkind“,
sagt er, während der den Kopierraum abschließt.
„Ihnen auch ein schönes
Wochenende. Bis Montag.“
So eine kleine Situation.
Scheinbar so unbedeutend. Und für Mondkind so viel. Beides gleichzeitig. Die
Ruhe für den Moment und der Schmerz, der direkt darauf erbarmungslos zuschlägt.
Montag... Der Oberarzt hat ihr
erklärt, dass sie ihre Sache gut macht, aber er nächste Woche einfach mehr
erwartet. „Ich weiß, das ist schwer für Dich, weil man sich da einen Weg
durchsuchen muss, in dem man immer wieder zeigt, dass man etwas tun will und
gleichzeitig niemanden nervt…“ Er hat es erfasst. Das ist schon bei einem
Patienten schwierig. „Nächste Woche hast Du zwei Patienten. Oder vielleicht
sogar drei… - oder vier…“ „Okay“, sagt Mondkind dazu nur, während sich ein
latentes Ohnmachtsgefühl breit macht. Was soll sie auch sagen? „Und es ist
wichtig, dass Du auf der Stroke Unit gut bist. Der zweite Oberarzt dort fällt
nämlich die Entscheidungen bezüglich der Einstellung…“
„Und dann noch die nächste Woche
Stroke Unit und dann musst Du auch mal da runter und auf die anderen Stationen.
Ich weiß nicht, wie die anderen Oberärzte das dann handhaben…“
Das heißt, dass sie das, wofür
sie so lange gekämpft hat, nur noch eine Woche hat. Dass sie etwas, das sie
erst ganz kurz gewonnen hat, auch schon wieder verliert.
Es wird so deutlich, was fehlt.
Was all die Jahre gefehlt hat. Bezugspersonen. Menschen, die einen einfach
nehmen, wie man eben ist. Mit den guten Seiten. Den gesunden. Und auch mit den
angeschlagenen Seiten. Die ein offenes Ohr haben. Tolerant sind. Mondkind in
keine Schablone pressen. Bei manchen ist das die Familie.
Und irgendwann hat sie so verzweifelt gesucht, dass ihr
Gehirn jeglichen Verstand ausgeschalten hat. Und blöderweise einen Menschen
gefunden hat, der das nie hätte werden dürfen.
Mondkind hat gelebt für diese
Momente. Fast zwei Jahre lang. Einfach, um das nochmal erleben zu dürfen. Dass
all die Schwere, die sonst immer da ist, verschwindet.
Indem dieser Mensch und der Ort
hier als der Platz, an dem sie ihr PJ machen wollte, unmittelbar miteinander
gekoppelt waren, hat er einen großen Teil dazu beigetragen, dass sie sich
durchs Studium gezogen hat. Damit verbunden jeden Morgen die Beine aus dem Bett
geschwungen hat. Die unmöglichsten Situationen gemeistert hat. Selbst in
Zeiten, in denen sie nicht mal sicher ein Dach über dem Kopf hatte, hat sie die
Uni durchgezogen. Irgendwann nochmal hier ankommen. Das einfach nochmal erleben
zu dürfen. Das war das Endziel.
Mondkind passiert den größten
Streckenposten, den es je gegeben hat. Der doch auch mit mehr Schmerz verbunden
ist, als sie das gehofft hatte. Und was bleibt jetzt noch?
Der Oberarzt kennt seine Rolle
nicht. Die wird er auch nie erfahren. Das ginge viel zu weit hinaus über das,
was Mondkind einem Vorgesetzten sagen kann. Aber er weiß, dass dieser Ort für
Mondkind wichtig ist. „Wir haben doch schon ein neues Ziel. Das Ende des
Studiums. Und dann kannst Du überlegen, was Du machst…“ Vor allen Dingen „wir“. Für Mondkind ist
es nicht so, dass ihr danach die Welt offen steht. Denn das, was ihr fehlt, kann
ihr auch nicht die Möglichkeit in Norwegen mit ihrem Job zu beginnen, geben.
Viel eher wird ihr bis nach dem Studium keiner sagen können, ob sie nochmal
hierher kommt. Und auch dann kann Mondkind ganz woanders eingesetzt sein –
insbesondere, wo mit dem Neubau die Neuro geteilt wird. Und vielleicht ist das
dann auch gar nicht so gut, sich alle Nase lang mal über den Weg zu laufen.
Vielleicht ist das hier eine Situation, die es nur noch ein Mal geben kann.
Nämlich genau jetzt.
So manches Mal fragt Mondkind
sich, ob sie das überhaupt noch erleben wird. Die Zeit nach dem Studium. Denn
langsam merkt sie, dass sie unberechenbarer wird. Dass ihre Gedanken
chaotischer werden, die Schwere so übermächtig und sie einfach nur möchte, dass
das aufhört so zu sein. Dass es mehr Zeiten gibt, in denen es sie nicht
auseinander reißt, in denen niemand in ihr schreit, in denen sie nicht das
Gefühl hat, erdrückt zu werden.
Und die Entscheidung nach dem
Studium die Klinik einzuschieben, wird sie selbst nie treffen können.
Eigentlich wollte sie versuchen,
heute Abend noch einkaufen zu gehen. Morgen muss sie nämlich noch in die
Drogerie und Schuhe kaufen (an ihren Krankenhausschuhen sind die Sohlen
durchgebrochen). Das heißt – da ihr Kühlschrank wirklich absolut leer ist und
ein Mal fahren vielleicht nicht reicht – dass sie vier Mal los müsste.
Aber es regnet in Strömen und auf
dem Heimweg war sie trotz Schirm komplett durchweicht. Jetzt mit dem Fahrrad
loszuziehen, ist absolut unmöglich.
Ich kann mir ja jetzt mal einen
Plan machen, wie ich das morgen schaffen will…
Mondkind
P.S. Den Vortrag habe ich dann
größtenteils heute in den ganz frühen Morgenstunden ausgearbeitet, weil ich
gestern wirklich nicht mehr fähig war. Aber es hat gut geklappt; ich habe viel
Lob gehört. Und in dem Fall ist das dann ja gar nicht so schlecht, dass es alle
mitbekommen haben.
Bildquelle: Pixabay
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