Freundschaften und Stühle rücken
Die Sozialkontakte lichten sich. Langsam, aber stetig. Es ist nicht
mehr weit, bis Mondkind auf dem Stand von vor der Klinik ist. Dass es Zeiten
gegeben hat, in denen sie sich abends mit den Kommilitonen am Fluss getroffen
hat und dann erst weit nach Mitternacht zurück nach Hause kam, scheint heute
fast unvorstellbar zu sein. Es war tatsächlich ein komischer Zustand gewesen,
in dem Mondkind dann mitten in der Nacht im Bett lag. Kaum fassbar, schwer zu
beschreiben, aber dennoch irgendwie gut.
„Dir alles Gute für Deine Zukunft. Von Herzen.“ Worte von einem
Freund. Den sie vor zwei Tagen noch mehrere Male versucht hat anzurufen, aber
wie so oft hat das Netz hier gesponnen, sodass ihr Anruf gar nicht erst raus
ging. So oft hat sie diese Worte schon gehört. So oft war es ein Zustand der
kurzzeitigen Lähmung, ehe das Alltagsgeschäft weiter geht. Manchmal fragt sie
sich: Für welche Zukunft? Und ist ihm wohl klar, dass er auch ein Stück ihrer
Zukunft mitnimmt?
Mondkind hat das schon ein Mal erlebt. Damals wesentlich schneller. Am
Anfang der Krankheit. Als es irgendwie nicht mehr möglich war, nach Außen hin
den Perfektionismus vorzuspielen und daran innerlich zu zerbrechen. Und irgendwie
hat sie diese Erfahrung immer davon abgehalten, neue Kontakte zu knüpfen. Denn
Menschen, die einem wichtig geworden sind, lässt man nur schwer gehen. Aber man
kann eben auch keinen festhalten.
Und vielleicht ist das auch etwas, das man lernen muss. Einen Menschen
zu verlieren heißt nicht, dass die ganze dahinter liegende Zeit wertlos wird.
Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht, gerade im letzten Sommer. So viele
Gespräche geführt. Und auch wenn die Dinge blöd enden ist das etwas, das immer
bleiben wird. Die Erinnerung. Und auch das ist wertvoll.
Nur auf dem Weg zum Krankenhaus per whatsApp (man sollte es dringend
abschaffen, weil es immer wieder dafür missbraucht wird, vernünftiger
Kommunikation aus dem Weg zu gehen), hätte es nicht ein müssen. Bloß gut war
Mondkind etwas früher da und konnte sich kurz sammeln, ehe sie mit einem
schwungvollen „Guten Morgen“ mit der ersten Blutabnahme beginnen musste.
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Am Nachmittag ist Mondkind mit Briefe schreiben beschäftigt und hat es
deshalb einigermaßen selbst in der Hand, wann sie geht. Genau um 16 Uhr
wird ein Stroke Angel angemeldet. Wäre sie in der Notaufnahme, wäre sie nicht
pünktlich raus gekommen.
Mondkind steht wieder auf dem Flur der Personalabteilung. Sie muss
noch ein paar Minuten warten; der Seelsorger ist noch nicht da. Und natürlich
muss ihr wieder eine Ärztin von der Stroke Unit über den Weg laufen.
Mittlerweile hat Mondkind auch herausgefunden, dass das Treppenhaus, das in die
Personalabteilung führt von der Stroke Unit leichter zu erreichen ist und der
ein oder andere Arzt deshalb hindurch läuft, wenn er eigentlich ganz woanders
hin muss. „Mondkind, was machst Du denn hier?“ „Ich… - muss noch etwas
organisieren“, sagt Mondkind. Kann ja in der Personalabteilung durchaus sein…
aber glaubhaft war das nicht.
Kapelle.
Besprechung der Hausaufgaben. Darin ging darum, ob Mondkind etwas
fühlt und wenn ja – wo sie das fühlt. Mondkind hat diese Woche viel darauf
geachtet, aber viel mehr als die Grundschwere und die im Hintergrund immer
lauernde Hoffnungs- und Sinnlosigkeit, die manchmal für Anspannung sorgt und
dafür, dass ihr Magen sich permanent zusammen krampft, hat sie nicht
wahrgenommen. Selbst Angst fühlt sie oft nicht mehr. Sie hat Herzrasen und ihre
Hände zittern. Sie weiß, dass sie Angst hat, aber sie fühlt es nicht mehr.
Es geht um das Gewissen und darum, dass Mondkind ein gewissenhafter
Mensch ist (und das auch ein soziales Gefühl sei) und alles was sie tut immer
wieder vor dem Aspekt der Gewissenhaftigkeit hinterfragt. „Sie sind ja nun sehr
vorsichtig mit anderen Menschen… - haben Sie eigentlich sich selbst gegenüber
auch ein schlechtes Gewissen…“ „Naja… - nein…“ „Aber sie hintergehen sich doch
permanent selbst.“ „Naja, aber das ist etwas anderes.“ Obwohl Mondkind ihm Recht
geben muss.
Der Seelsorger sieht es auch so, dass Mondkind das nicht ewig so
machen kann und vielleicht doch noch mal in eine Klinik müsste. Aber
Psychosomatik, sagt er. Nicht Psychiatrie. „Das funktioniert aber nicht“,
entgegnet Mondkind. „Ich kann die Entscheidung aktuell nicht treffen.“ Nur auf
das Warum weiß sie nicht wirklich eine Antwort. Wegen der Neuro, wegen der
Reaktion ihrer Eltern und weil ihr selbst dann der Sinn wegbrechen würde. Denn
wer ist sie ohne Uni? Obwohl letzteres ja gewollt wäre.
„Meinen Sie, Sie können das mal durchspielen…?“, fragt er. Mondkind
versteht nicht genau, worauf er hinaus will. „Nehmen Sie sich mal einen Stuhl
und stellen Sie den in die Mitte des Raums.“ Mondkind kommt sich etwas dämlich
vor, lässt sich aber darauf ein. Und dann soll sie einige der Menschen und
Dinge, die ihr Leben aktuell wesentlich beeinflussen drum herum gruppieren. Und
sich am Ende auf ihren eigenen Stuhl setzen und sagen, ob sie etwas fühlt.
Das mag sich albern anhören, hat aber eine krasse Wirkung. Das hat noch
keiner mit ihr gemacht und wenn man sich ein bisschen darauf einlässt, ist das
tatsächlich eine intensive Erfahrung. Und dann geht es darum, wie sich ihr
Verhältnis zu den einzelnen Personen und Dingen verändern müsste, um eine
Entscheidung für sich selbst treffen zu können.
Als erstes stellt Mondkind den Neuro – Stuhl von der Position hinter
ihr auf die Position neben sich. Sie möchte sich mit ihrem Job identifizieren
und ihn möglichst gern machen, aber ohne sich davon gejagt zu fühlen. Und die
Neuro für einen Augenblick nicht im Rücken zu haben, ist unglaublich befreiend.
Sie exerzieren das noch mit allen anderen Stühlen durch und manchmal
ist Mondkind echt an dem Punkt zu sagen: „Nee sorry, das wird mir gerade zu
viel.“
„Wie geht es Ihnen jetzt?“, fragt der Seelsorger am Ende. „Naja… - zum
einen ist es halt ganz schwierig sich mit dieser Situation so auseinander zu
setzen und mal etwas anderes zu tun, als auf der kognitiven Ebene nur zu reden.“
„Hat mit Ihnen noch nie jemand etwas zu Thema Gefühle gemacht?“, wurde sie heute
verwundert gefragt. "Auf der anderen Seite habe ich gerade wirklich einen Funken
Hoffnung, dass ein neuer Ansatz es bringt." Aber es wird eine Weile dauern, bis
sich das bemerkbar macht. Und bis dahin wird es auch viel Wut und Trauer geben
müssen, das hat er ihr gesagt. Aber er glaubt, dass da noch ganz viel in
Mondkind steckt und dass sie eine super gute Ärztin werden kann, wenn sie sich
nicht selbst im Weg steht.
Sie hat eine Hausaufgabe (wird sehr schwer….) und nächste Woche geht
es weiter.
Ehrlich gesagt weiß ich noch nicht, ob ich den Termin Anfang Oktober
mit meiner Therapeutin in der Studienstadt machen soll. Ich bin halt schon
immer eher auf der Denk – Ebene und bei ihr zerdenken wir alles immer
vernunftgesteuert. Es gibt auch viele Dinge, die noch zu besprechen sind und
gerade das Oberarzt – Thema kann ich in der Neuro einfach nicht bringen.
Andererseits wird mich die Tour in dem Zustand halt extrem viele Nerven kosten.
Morgen früh muss ich einen Vortrag über Schwindel halten. Jetzt vor
der versammelten Mannschaft in der Frühbesprechung… also… - was mache ich jetzt
mit meiner Matschbirne… ? Vielleicht stehe ich auch einfach morgen sehr früh
auf…
Mondkind
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