Chancen


Gestern war der letzte Tag in diesem PJ – Tertial. Eigentlich wollte ich dazu noch einen Blogpost machen – ich hoffe, ich finde morgen Ruhe und Zeit dazu. Derzeit stehen leider immer noch andere Dinge im Vordergrund.
Und aktuell warte ich auf die Wäsche. Ernsthaft – vom ersten eigenen Gehalt kaufe ich mir eine Waschmaschine.

Ich versuche seit gestern Abend einen Blogpost zu verfassen, habe unzählige Seiten geschrieben und sie alle wieder verworfen. Ich bekomme keinen roten Faden in die Gedanken. Deshalb bleibt es jetzt bei ein bisschen Chaos. Ein paar Gegensätze, die aufeinander prallen, ein paar Sprünge in den Gedanken, eine Reihenfolge, die nicht chronologisch ist.

***

Freitagnachmittag. Ich sitze im Nebenbüro. Zwei der drei Kollegen, denen das Büro gehört sind im Urlaub, die Dritte ist frei nach Dienst. Es dürfte also ruhig werden. Mal wieder die Nummer der Ambulanz ins Handy tippen. Ewig warten, bis ich auf den grünen Hörer drücke. Kann ich das meiner Therapeutin langsam noch antun… ?
Aber sie sagt gar nichts dazu. Stellt nur fest, dass die Woche wohl sehr schwierig war.

Es geht darum, dass ich es es jetzt erstmal versuche auf der Neuro – das ist aus dem Gespräch mit dem Neuro – Oberdoc ja deutlich geworden.
„Also Frau Mondkind – das Angebot steht aber von unserer Seite. Ob Sie sich das heute, nächste Woche oder erst in ein paar Wochen überlegen: Sie können jederzeit kommen und der Oberarzt nimmt Sie jederzeit auf seiner Station auf. Es kann halt sein, dass es ein paar Tage dauert bis ein Bett frei wird, dann müssen Sie eben zunächst auf einer anderen Station schlafen und kommen dann tagsüber rüber…“
Mir steigen die Tränen in die Augen. Wie gern ich einfach „ja“ sagen würde. Wie gern ich es hätte, dass das alles hier mal für ein paar Tage vorbei ist. Und einfacher können die mir das nicht mehr machen. Der Oberarzt und die Therapeutin kommen mir entgegen, wo sie nur können und ich schaffe es einfach nicht, mich darauf einzulassen und darauf zu vertrauen, dass der Rest sich fügt.

„Frau Mondkind, es muss auch nicht erst eskalieren, damit Sie berechtigt sind, sich Hilfe zu organisieren. Da hat am Ende keiner etwas von. Und wenn Sie erstmal da unten im Krankenhaus oder in der Psychiatrie sind, wird es wirklich schwer, Sie hoch zu holen…“
Ich gebe zu bedenken, dass ich eine Eskalation auch nicht erleben möchte, aber dass „vorher“ eben schwer ist. Ich fürchte manchmal, dass es tatsächlich erst eskalieren muss. Denn es bin ja zum einen ich selbst, die sich immer wieder antreibt, aber auch aus allen anderen Ecken hört man immer wieder: „Aber Mondkind, versuche es doch nochmal…
„Vielleicht ist das auch alles gar nicht so schlimm…“, sage ich.
„Und deshalb geben wir uns so viel Mühe… - Frau Mondkind, Sie sahen letzte Woche wirklich nicht gut aus.“
(Wobei ich mich aber noch erinnern kann, dass ich Anfang Mai von der Therapeutin auch gehört habe: „Frau Mondkind, Sie können nicht bei jeder Krise in die Klinik…“ Die Grenze scheint ein schmaler Grad zu sein. Damals hat man es wohl noch nicht als nötig erachtet; jetzt im Gegensatz dazu schon…)

Sie redet weiter. Sie möchte das nochmal mit dem Oberarzt abklären, ob das wirklich möglich ist, mich nach 14 Tagen definitiv zu entlassen, auch wenn ich eigentlich noch nicht so weit bin. Weil mein Ziel erstmal ist, das PJ überhaupt vernünftig weiter machen zu können. Sie möchte ihm die ellenlange Mail, die ich der Therapeutin letztens geschrieben habe, in der ich mich über die Bedeutung der Neuro für mich ausgelassen habe, weiter leiten. Eigentlich war es eher nicht für seine Augen bestimmt. Und es ist mir sehr unangenehm, dass er jetzt doch mitbekommt, dass es nicht so läuft, wie ich ihm das vor ein paar Wochen geschildert habe. Es war einfach so ein schönes Ende eines so langen Weges. Und zumindest einer hätte gedacht, dass ich hin und wieder doch mal irgendetwas auf die Reihe bekomme.
„Sie können auch gerne selbst nochmal mit dem Oberarzt sprechen, bevor Sie dann in die Klinik gehen…“ „Und wie soll ich das machen… - ich kann ihn doch nicht einfach anrufen…?“ „Natürlich können Sie das….“

Wie geht es weiter? Ich weiß es nicht. Wirklich nicht.
Manchmal denke ich mir, dass es sich vielleicht in ein paar Wochen wieder einrenkt und ich eventuell wieder dahin komme, wo ich im Sommer mal war. Auf der Parkbank liegen und Musikhören – unglaublich, dass es das mal gegeben hat.
Ist es jetzt – quasi am Anfang der Neuro – wirklich richtig, den ganzen Plan zu gefährden? Und warum stelle ich die Neuro jetzt so in Frage? Ist es wirklich so, dass ich langsam einsehe, dass die Neuro auch „nur“ die Neuro ist und all das, was ich da so lange undefiniert als Ziel am Horizont gesehen habe, am Ende nicht mehr als eine Illusion ist? Ist es sinnvoll an etwas zu hängen, das am Ende „nur“ ein Job sein wird?

Ist es vielleicht auch die Angst um verpasste Chancen. Auf allen Seiten.
Auf der einen Seite steht die Neuro. Wenn ich mich gut anstelle und mich gut ins Team integriere – vielleicht darf ich wieder kommen. Und ist das hier nicht – selbst wenn ich die Neuro auf einen unberechtigt hohen Sockel gestellt habe – trotzdem ein guter Platz zum Arbeiten?
Und auf der anderen Seite steht nun mal die „Krankheit“. Ich habe mir das nicht ausgesucht. Dieses Grau auf den Tagen und dass das Lebensgefühl, das ich hier mal hatte, wieder verschwunden ist. Man kann keine Kapitel des Lebens überspringen; so funktioniert das nicht. Leugnen, dass manche Dinge einen begleiten, auch wenn man das gern anders hätte. Und man wird nicht jedes Kapitel des Lebens schön finden. Es wird Kapitel geben, in denen man Chancen, die man gern gehabt hätte, verpasst. Und andersherum wird es Kapitel geben, von denen man nicht möchte, dass sie enden. Nur… - man muss weiter gehen. Alle diese Kapitel bedingen einander. Manchmal tut sich am tiefsten Punkt ein Licht auf, das die Sonne des nächsten Kapitels wird. Und vielleicht kann man am Ende dennoch sagen: „Es war gut so, wie es war.“



Ein Gedanke, den es auch immer wieder gibt: Ich kann den Gedanken mit der Klinik noch ewig vor mir her schieben. Es gibt immer einen Grund, warum es gerade nicht passt. Jetzt ist es der Fortgang des PJs auf der Neuro; die Angst, eine Chance zu verpassen, wenn die auf der Neuro mitbekommen, dass etwas nicht stimmt. Wenn ich Ende des Jahres zurück gehe, sind es noch 3,5 Monate PJ, dann die mündliche Prüfung und dann ist das Studium vorbei. Möchte ich dann – ausgelöst durch einen Klinikaufenthalt – das Ende des Studiums noch mal schieben? Und danach… - wartet der Job. Die Idee sich bis nach dem Studium durchzuschlagen und das Thema dann nochmal anzugehen, ist ehrlich gesagt auch nicht so geschickt. Denn irgendwo von muss man leben. Es gibt dann keinen Unterhalt mehr, ohne das Semesterticket fallen Vergünstigungen für Studenten weg. Vielleicht könnte ich auch nicht mehr auf einer Station meines sehr geschätzten Oberarztes unterkommen, denn die Behandlung auf einer Privatstation sei wohl ein Privileg, das man bei Studenten begründet einrichten könne. Es geht nicht unbedingt um die Privatstation an sich – dieses Klientel ist manchmal auch sehr speziell – sondern eher darum, dass mir viel daran liegt, ihn als meinen behandelnden Arzt zu haben. Obwohl es natürlich auch von Vorteil ist, wenn man nicht nur einen Psychologen für - über den Daumen gepeilt - 50 Patienten hat.
Auch mit Wohnraum wird es schwierig. Ich muss dann ja aus dem Studentenwohnheim raus.
Und wenn zwischen Abschluss und Bewerbung ein paar Monate liegen, wird vielleicht gefragt, wie und wo ich die verbracht habe. Es wird aber sicher keiner fragen, warum das Studium ein Semester länger gedauert hat. Und dann kann man immer noch etwas von Doktorarbeit erzählen.
Und wenn man es überlegt – je länger ich das alles vor mir her schiebe, desto mehr besteht auch die Möglichkeit, dass es irgendwann wirklich eskaliert. Ich würde das gern zumindest einigermaßen bewusst entscheiden, was ich da mache. Nicht so komplett notfallmäßig und dann lande ich irgendwo, wo ich gar nicht hin möchte. Aber je länger ich das vor mir her schiebe und desto mehr Krisen es gibt, desto mehr gleitet das aus meiner Hand.

Und ganz zuletzt lehrt einen auch die Palliativstation, sich anders mit dem Leben auseinander zu setzen. Wenn man knapp über 30 – jährige auf der Station liegen hat, die in den nächsten Wochen versterben werden, dann fängt man sich an Gedanken zu machen.
Quasi schon seit Schulzeiten wird einem immer wieder deutlich gemacht: Es gilt keine Zeit zu verlieren. Die psychischen Schwierigkeiten bestehen schon so lange und schon nach dem Abi hatte ich die Idee erstmal gesund zu werden und dann weiter zu machen. Damals waren es noch meine Eltern, die mir Druck gemacht haben. Irgendwann war ich es dann selbst mit der Neuro.
Seit Jahren bin ich im Prinzip in „Wartestellung“ darauf, dass sich endlich mal eine Lücke auftut, die ich nutzen kann, um gesund zu werden. Und die Lücke wird wohl nie auftauchen, wenn ich sie nicht bewusst einrichte.  Seit Jahren renne ich undefinierten Zielen am Horizont hinterher, die immer reichlich wenig mit meiner eigenen Person zu tun haben.
Sollte es mir nicht mehr wert sein, mich selbst an die erste Stelle zu setzen? Sollte es mir nicht mehr wert sein, wieder glücklich zu werden? Das Leben zu fühlen, statt irgendwie mit mittlerweile drei Psychopharmaka zu versuchen, sich durch den Alltag zu schlagen, worauf man sicher nicht stolz sein kann.
Und dann können ja die Ziele kommen. Es ist nicht verkehrt  hier zu versuchen, einen Job zu bekommen. Wenn es passt – warum nicht? Aber ich bin in der glücklichen Position, dass Ärztemangel herrscht. Wenn ich noch ein wenig länger brauche, bis ich anfange, ist das entweder okay für die Leute dort, oder eben nicht. Aber dann finde ich etwas anderes. Ich bin ja auch völlig ungebunden – da ist ja nicht mal ein Freund, auf den ich Rücksicht nehmen müsste. „Wenn Sie ein paar gute Adressen brauchen – ich kann Ihnen gern welche nennen“, hatte der Psychiatrie – Oberdoc mir mal angeboten. Ich habe ihn nie danach gefragt, weil das für mich nie in Frage kam.

Es sind – wenn ich das genau betrachte – gerade die großen Fragen des Lebens, die sich hier nach und nach auftun. Wie viel ist mir was im Leben wert? Wo möchte ich hin? Was sind für mich stimmige Ziele und wie kann ich die in ihrer Relevanz für mich ordnen? Die Neuro von ihrem Sockel zu stoßen, bringt viele Freiheiten, aber noch viel mehr Unsicherheiten mit sich.

Ich werde nächste Woche mal versuchen an die Nummer von dem Seelsorger zu kommen. Keine Ahnung, ob man so etwas mit so einem Menschen besprechen kann. Vielleicht auch mal, um das für sich selbst zu sortieren. Mit dem Neuro – Oberdoc kann ich jetzt schlecht darüber reden, dass ich die Neuro in Frage stelle.
Allerdings muss ich schauen, wie ich das terminlich mache. Ich würde den Neuro – Oberdoc nur ungern darüber unterrichten, was ich da vorhabe.  Und ich hoffe, dass wir das einigermaßen zeitnah hinbekommen – am Besten diese Woche.

Ich komme immer mehr zu dem Schluss, dass die beste Zeit „gesund“ (bzw. zu lernen, die Sache besser im Griff zu haben) zu werden, jetzt ist. Vor Ende des Studiums. Aber ich glaube, ich bin noch nicht bereit, diese Entscheidung zu treffen, in der Konsequenz den Weg zu gehen, Chancen zu verpassen, aber dafür etwas für mich zu tun. Ich bin es nicht gewohnt, dass ich selbst mir wichtig bin.
Und ich hoffe, dass ich das irgendwann nicht nur durchdenke. Sondern mich auch entscheide, diesen Weg zu gehen. In dem Wissen, dass es immer wieder Licht geben wird. Und am Ende vielleicht alles gut so ist, wie es ist.

Mondkind

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