Ein Jahrhundert auf der Stroke Unit
Aktuell haben wir eine 98 – jährige Dame auf unserer Station. Manchmal
ist sie ein kleines bisschen verwirrt, aber mit etwas Hilfe kommt sie zurecht.
Zu uns kam sie mit dem Verdacht auf einen Schlaganfall. Sie sei im
Bett in ihrem Erbrochenem gefunden worden, sei in einem verwirrten Zustand
gewesen und habe undeutlich gesprochen. Außerdem meinte man eine diskrete
Hemiparese entdeckt zu haben.
In den letzten Tagen haben wir viel gerätselt. War es ein
Schlaganfall? Im CT hat man nicht viel gesehen und ein MRT wollten wir ihr
nicht antun. Oder war es ein epileptischer Anfall? Bei älteren Leuten kommt das
bei strukturellen Veränderungen im Gehirn schon mal vor.
Der Hausarzt sollte aushelfen. Wir forderten sämtliche Vorbefunde an,
um vielleicht einen Hinweis darauf zu finden, was passiert sein könnte.
Und in einem der Briefe stand: Zustand nach Suizidversuch.
So langsam hatten wir einen Verdacht. Gestern hat die Kollegin in Ruhe
sehr lange mit der Patientin gesprochen. Zwar nehme sie ihre Medikamente
selbst, aber sie bestritt vehement einen Fehler bei der Einnahme gemacht zu
haben. Heute in der Oberarztvisite standen wir zusammen mit Pflegern und
Arzthelfern und dem zweiten Oberarzt mindestens zu acht in diesem Zimmer.
Der Oberarzt setzte sich zu ihr aufs Bett und fragte noch einmal, ob
bei der Medikamenteneinnahme nicht ein Fehler passiert sein könnte. Und
manchmal wirken Oberärzte Wunder auf die Patienten. Ja, sie habe unzählige
Tabletten eingenommen. Und der Plan sei es nicht gewesen, auf unserer Stroke
Unit wieder zu sich zu kommen.
Stille im Raum. Alle sehen sich an. Sie komme mit dem Verlust ihrer
Selbstständigkeit nicht zurecht. Sie existiere doch bloß noch, aber leben könne
man das nicht nennen. Gemessen an dem Zustand anderer Menschen in ihrem Alter –
vorausgesetzt, dass man überhaupt so alt wird – sind die Meisten in einem
bedeutend schlechteren Zustand. Aber es ist ihr subjektiver Eindruck.
Rein rechtlich gesehen besteht eine Eigengefährdung und wir müssen die
Patientin in die Psychiatrie einweisen. Aber eine 98 – jährige in die
Psychiatrie auf eine geschützte Station einzuweisen – das ist tatsächlich ihr
Untergang. Und dann stellt sich die Frage: Was möchte ein junger Assistenzarzt
mit Mitte zwanzig einer fast vier Mal so alten Frau erzählen? Oder auch ein
Oberarzt, der immerhin rund halb so alt ist. Einer Frau, die unfassbar viel
Lebenserfahrung und vielleicht auch Weisheit besitzt. Wenn man mal zurück
rechnet: Sie wurde kurz nach dem Ende des ersten Weltkriegs geboren, hat im
zweiten Weltkrieg ihren Ehemann verloren. Hat gesehen, wie unfassbar grausam
Menschen sein können. Sie hat die Nachkriegszeit miterlebt, Zeiten von so viel
Armut, wie wir sie uns gar nicht mehr vorstellen können.
Es fühlt sich fast anmaßend an, sich das Recht heraus zu nehmen, über
diese Frau zu entscheiden. Und dennoch machen wir Ärzte uns auch schuldig, wenn
wir es nicht tun.
Ich habe mal eine Famulatur in einer Gerontopsychiatrie gemacht. Dort
hatten wir auch eine fast hundert jährige Dame. Und so richtig wussten wir auch
nicht, was wir mit ihr machen sollten. Ich habe einen Nachmittag mal lange mit
ihr geredet und mir ihre Lebensgeschichte angehört. Es war ein Gewinn für beide
Seiten – sie hatte wahrscheinlich schon lange keinen so geduldigen Zuhörer mehr
und ich hatte selten die Gelegenheit so viel Geschichte aus erster Hand zu
erfahren. Ein paar Tage später ist sie
ihr Köfferchen hinter sich her ziehend ohne Gehstock von der Station gegangen.
Das ist eine Szene, die sich in meinem Kopf eingeprägt hat. Irgendwie habe ich
diese Frau bewundert.
Ich hoffe, wir finden eine Lösung für unsere Dame.
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