Formen der Weltanschauung
Oberarztvisite auf der Stroke unit.
Heute ist der Oberarzt statt um 10 Uhr erst halb 11 da. Und zwischen
10 und halb 11 flattern bei Mondkind noch allerhand Befunde auf den
Schreibtisch. Das MRT ruft an, von einer anderen Patientin bekommt sie das
Langzeit – EKG und von der Dritten noch den Ultraschallbefund.
Mondkind hat alles schnell in Stichworten auf ihrem Zettel vermerkt. Manchmal will es der Oberarzt nämlich plötzlich sehr genau wissen. Für jeden
ihrer Patienten hat Mondkind einen kleinen Zettel, auf dem sie jeden Tag mit
einer anderen Farbe vermerkt, was es Neues gibt.
Gerade ist es ruhig in der Notaufnahme, deshalb ist Mondkinds Oberarzt bei der Visite
auch dabei. Mondkind findet, dass sie ihre Sache ganz gut macht, gemessen an
der Hektik der letzten halben Stunde. Zu jedem Patienten kann sie schnell alles
erzählen und die Nachfragen beantworten. Mondkind ist schon ein bisschen froh,
dass ihr Oberarzt heute auch mal endlich mitbekommen hat, dass sie jetzt
wirklich drei Patienten hat und daran arbeitet, seinen Ansprüchen gerecht
zu werden.
Im Lauf der Visite nimmt er Mondkind zur Seite: „Mondkind, morgen
machst Du das bitte ohne Zettel…“ Die Kollegen haben auch Zettel dabei… Aber
offensichtlich geht es immer noch besser.
Der Tag ist sehr anstrengend. Wie viel Unruhe eine dauergenervte
Person in ein Team bringen kann, ist sehr erstaunlich. Mondkind überlegt, ob
sie hoch in ihr Büro zum Briefe schreiben geht, aber dann ist sie nicht zur
Stelle, wenn mit ihren Patienten etwas ist.
Gegen kurz nach 15 Uhr ist Mondkind erstmal fertig und beschließt,
dass es wohl nicht so schlimm sein wird, noch anderthalb Stunden in die
Notaufnahme zu gehen. So wirklich lohnt es sich nicht. Kurz nach halb 5 winkt
der Oberarzt Mondkind mit einem Kopfnicken zu sich. Mondkind hatte ihm
vorgeschlagen morgen mit ihm die Rotation zu besprechen, aber er möchte es
jetzt machen. „Ich habe nicht so viel Zeit“, erklärt Mondkind. Wie weh dieser
Satz von ihrer Seite aus tut. Innerhalb von fünf Minuten besprechen sie, dass
Mondkind noch eine Woche auf der Stroke Unit bleibt und dann in die
Akutneurologie geht. Noch eine Woche die Situation, für die sie so viel
gekämpft hat.
Aber vielleicht ist es auch gut, dass mal keine Zeit für
Privatgespräche ist. Mondkind hat das Gefühl, dass ihrem Oberarzt das langsam
auf den Zeiger geht. Und irgendwie kann sie das auch nachvollziehen. Er hat
alles was möglich war, irgendwie möglich gemacht und dennoch bekommt Mondkind
das nicht hin, einfach mal glücklich zu sein.
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Morgendlicher Blick auf den Campus |
17 Uhr. Mondkind ist mit dem Seelsorger verabredet und die beiden
gehen – wie immer – in die Kapelle. Und irgendwie wird allmählich klar, dass
Theologen eben doch anders denken. Deren Weltanschauung ist einfach eine andere. Keine schlechte - aber für Krankenhausmitarbeiter vielleicht doch mit Grenzen behaftet.
Thema ist – wie so oft – Kontakte. Mondkind muss hier ein paar
Kontakte knüpfen und bisher hat sie das nicht geschafft. Wobei das im Moment
der zweite Schritt vor dem ersten ist. Der erste Schritt wäre es erstmal
überhaupt in einen körperlichen Zustand zu kommen, der Mondkind es ermöglicht
mehr als die Arbeit zu schaffen. Im Moment kann man sie mit allem jagen und ihr
liebster Ort ist tatsächlich das Bett. Auch wenn sie darin häufig nicht
schläft.
Mondkind erklärt jedenfalls, dass das schwierig ist. Auf jeder
Abteilung ist sie nur sehr kurz – über ein berufliches Verhältnis hinaus ist da
nicht viel zu machen. Eine Kollegin hat sie, die nur wenige Jahre älter ist und
erst im April diesen Jahres mit der Arbeit begonnen hat. Sie hilft Mondkind
viel, weil sie wahrscheinlich auch noch weiß, dass man als PJler ein bisschen
auf dem Abstellgleis steht. Aber sie hat ein Baby zu Hause, ist gerade dabei
ein Haus zu kaufen und erklärt ständig, dass sie absolut keine Zeit mehr für
nichts hat. Mondkind glaubt es ihr auch, aber dann kann sie doch nicht daher
kommen und fragen, ob die Kollegin Zeit hat. Das ist nicht sehr taktvoll.
Dass Mondkind mit einem ihrer Oberärzte ganz gut zurecht kommt, weiß
der Seelsorger auch. Nicht die Dimensionen, die das tatsächlich hat, aber auch,
dass es mehr als „normal“ ist. Sie könne ja ihn und seine Frau mal bei sich zum
Essen einladen. Dass das einfach nicht geht, lässt er nicht gelten. Aber
irgendwo sind dem, was man innerhalb von Hierarchien machen kann, schon Grenzen
gesetzt. Mondkind würde gern auch privat Zeit mit ihm verbringen. Aber es geht
eben nicht und irgendwann wird Mondkind dahin kommen müssen, das zu
akzeptieren. Unter Theologen mag so etwas funktionieren; ich glaube für die ist
das Menschsein unabhängig von der Position wichtiger.
„Glauben Sie, dass es besser werden kann?“, fragt er Mondkind an
irgendeiner Stelle.
„Nein“, gibt Mondkind zurück. Sie war schon so oft an dem Punkt, an
dem sie glaubte, dass sie den nächsten großen Umbruch nicht mehr schaffen wird.
Und das war und ist sehr real. Im Prinzip ist es überhaupt erstaunlich, wie sie
so vehement vorwärts gehen kann, wenn sie doch weiß, wie das irgendwann endet.
Denn irgendwann wird der eine Umbruch kommen, der der eine zu viel ist. Davon
ist Mondkind sehr überzeugt. Es stellt sich nur die Frage, wann das sein wird.
Man kann die Täler voraus sehen. Eines wird kommen, wenn Mondkind die
Stroke Unit verlässt. Das nimmt ihr die Möglichkeit dieser kleinen Momente.
Dieser Anker, die sich immer ganz kurzfristig ergeben. Diese Stille in ihr.
Diese kurzen Umarmungen, in denen Mondkind für nur wenige Sekunden festgehalten
wird.
Und Ende des Jahres wird ein ganz großes Tal kommen. Wieder ein
Ortswechsel, wieder ein sehr großer Bruch in Mondkinds Umfeld. Weihnachten, was
sowieso immer schwer ist. Und irgendwann Ende des Jahres – eventuell zwischen
den Jahren – wird Mondkinds letzte Therapiestunde bei ihrer jetzigen
Therapeutin kommen. Und dass sie es nochmal verschiebt, glaubt Mondkind nicht.
Denn im Prinzip kommen die beiden wirklich nicht mehr voran. Sie ist als Anker
in diesem Sturm, dem Mondkind so oft ausgesetzt ist, wichtig. Ein Anker, der
mehr als drei Jahre geblieben ist, innerhalb derer mehrere Male alles
durcheinander geschmissen wurde. Sie ist so etwas wie Mondkinds
Lebensversicherung. Aber Mondkind weiß natürlich, dass das nicht Sinn und
Aufgabe von Therapie ist. Irgendwann im Februar sagte die Therapeutin mal: „Dann
übernehmen wir eben erstmal die Aufgabe, die eigentlich die Familie übernehmen
sollte.“ Und damit bedeutet das, dass sie im Januar mal wieder den stärksten
uns konstantesten Rückhalt verliert, den sie hatte.
Dagegen lässt sich kaum voraus sagen, wann es mal glückliche Momente
geben wird. Denn die sicheren Momente sind nicht selten sogar schwierig. Weil
sie so unfassbar viel Sehnsucht wecken.
Der Glauben dass es besser werden kann, ist über all die Jahre
irgendwo verloren gegangen.
Man müsse schon ein bisschen glauben, dass es besser werden wird, wird
Mondkind belehrt. Auch wenn die Erfahrung der letzten 10 Jahre dagegen spricht.
Und irgendwie könne man ja auch im Glauben eine Familie finden. Mondkind kann
das sogar nachvollziehen, was er da sagt. Aber wenn man wirklich nie mit dem
Glauben in Berührung gebracht wurde, ist es fast unmöglich, davon wirklich
überzeugt zu sein.
Es gibt eine Hausaufgabe. Die eben wegen der Grenzen der Hierarchie im
Krankenhaus schwer durchführbar sein wird. Einen neuen Termin haben die beiden
noch nicht. Ab dem ersten Oktober ändern sich auch in der kompletten Klinik die
Telefonnummern. Da muss man erst wieder Nachforschungen – möglichst unauffällig
– anstellen.
Aber es ist auch die Frage, ob es das so bringt.
Und Mondkind fragt sich so generell, wie es weiter gehen soll. Sie
überlegt noch, ob sie nächste Woche
irgendwie in die Studienstadt fährt. Überleben wird sie das schon, es ist nur
die Frage in welchem Zustand sie das Wochenende und die Woche danach verlebt –
wo sie auf einer neuen Station anfangen muss.
Und man muss sich fragen: Was soll es bringen? Außer, dass sie wieder
miteinander feststellen, wie unfassbar verzweifelt Mondkind eigentlich mit der
ganzen Situation ist und dass sie in einer Klinik eigentlich aktuell besser
aufgehoben wäre. Und wie immer wird dann die Frage kommen, ob Mondkind
garantieren kann, unversehrt beim nächsten Termin zu erscheinen. Und wie immer
wird Mondkind mit einem „ja“ antworten und darauf hoffen, dass es irgendwie
geht, weil es ja immer irgendwie geht. Auch wenn es sich absolut unmachbar
anfühlt. Und ein „nein“ ehrlicher wäre und sie endlich mal aus dieser Situation
raus bringen und vielleicht irgendwann mal wieder zur Ruhe kommen lassen würde.
Ich weiß es nicht… - manchmal wird eben doch klar, wie unfassbar
sinnlos das hier alles ist. Und das sämtliche Bestrebungen ja immer nur dazu
dienen, im Außen etwas wie Halt zu finden. Weil das einfach absolut überlebenswichtig
ist.
„And I’ve been falling most of my life“, singt Ronan Keating in einem
seiner Lieder. Eine Zeile, in der Mondkind sich bei jedem Hören wiederfindet.
Mondkind
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