Über das Fühlen in der Krankenhauskapelle
Von der Stroke Unit gibt es nicht viel zu berichten. Briefe schreiben
ist in der Neurologie das Hauptgeschäft überhaupt. Von 13:00 bis 16:30 Uhr saß
eine Kollegin heute an einem einzigen Brief.
Ich gehe mit auf die Visten und „darf“ mittlerweile schon dokumentieren.
Aber auch das wäre ja zu einfach, wenn es da nicht viele Hinweise gäbe, die man
dringlichst zu beachten hat.
Da ich mich auf der Stroke Unit wirklich deplaziert gefühlt habe, bin
ich dann runter in die Notaufnahme gegangen. Auch hier besteht die Tätigkeit
aber eher aus Zuschauen. Damit ich zumindest ein bisschen etwas machen kann,
durfte ich dann einen ambulanten Brief schreiben. Auch der wurde vom Neuro –
Oberdoc nochmal gänzlich umformuliert. Einige wirklich gelungene Textbausteine
hat er schon verwendet, aber dann an völlig anderer Stelle eingefügt.
Mal sehen, ob ich noch einen Einblick in die geheime Welt der Briefe
bekomme in den nächsten Wochen. Der Brief sei „solide“ gewesen, sagte der
Oberarzt.
Wir haben auch noch kurz miteinander gesprochen und er stellte fest,
dass ich mich wohl komplett unterfordert fühle, wenn man bedenkt, was ich in
der Kreisklinik alles gemacht habe. Ich habe zurück gegeben, dass ich mich eher
häufig deplatziert fühle, wenn alle im Stress sind und ich daneben sitze.
Unterfordert nicht unbedingt – einfach weil mich Neuro zwar interessiert, ich
es aber nicht so gut kann. Und irgendwie finde ich – das habe ich aber nicht
gesagt – dass sich da wirklich Ängste aufbauen, wenn man den ganzen Tag hört,
wie man die Dinge zu tun hat, aber selbst nicht an den Patienten gelassen wird.
Irgendwann wirkt das alles furchtbar kompliziert und überhaupt nicht mehr
schaffbar. Das ist eine Barriere, die es in der Kreisklinik nicht gegeben hat.
***
Kurz vor 17 Uhr. Mondkind hat in ein paar Minuten tatsächlich einen
Termin beim Krankenhausseelsorger. Hätte ihr das jemand vor ein paar Wochen
erzählt… - man muss sehr verzweifelt sein…
Mondkinds Magen spielt schon wieder verrückt – wie immer vor solchen
Terminen – und sie verflucht sich schon überhaupt etwas zum Mittag gegessen zu
haben.
Sie beschließt das Treppenhaus zu nehmen, mit dem sie bei der
Personalabteilung heraus kommt. Dann muss sie nur den Flur ganz nach vorne
laufen und kann dort hoffentlich ungesehen im Zimmer des Seelsorgers
verschwinden.
Zaghaftes Klopfen an der Bürotür. Und ein Blick nach rechts verrät
ihr, dass der Plan schief gegangen ist. Ein rot bekleidete Person –
ungünstigerweise ist es tatsächlich eine Ärztin der Stroke Unit und eine nicht
sehr sympathische dazu – kommt den Gang hinab gelaufen.
Nachdem ihr die Tür geöffnet wurde, schlüpft Mondkind schnell ins Büro
und hofft, dass man sie in Zivilkleidung nicht erkannt hat – auch weil man sie
dort wahrscheinlich nicht erwarten würde.
(Wir warten auf Rückfragen morgen…)
Der Seelsorger beschließt Mondkind mit in die Kapelle zu nehmen. Und
dann sitzen sich Mondkind und der Seelsorger über Eck gegenüber in einer
Kapelle.
Er fragt, was Mondkind den aktuell für Sorgen umtreiben und Mondkind
erwidert, dass es wohl mehrere Dinge sind. Zum einen hängt ihr wahrscheinlich
noch das Praktikum im Kreiskrankenhaus nach. Mondkind hat viel gelernt dort und
sie ist auch dankbar für die Zeit, aber man hat ihr eben auch viel zugemutet.
Mit schwerst kranken Patienten allein in der Notaufnahme – die Angst die
Patienten falsch oder zu spät zu behandeln und mitverantwortlich für deren Tod
zu sein, geht auf Dauer an die Substanz. Am Ende hat Mondkind selbst in der
Notaufnahme geweint und man war verwirrt dort, weil man so eine Mondkind nicht
kannte. Und dann war da auch noch die Palliativstation. Insgesamt einen Monat
war Mondkind am Ende dort oben und zwischen Notaufnahme und Palliativstation am
Tag mehrmals hin und her zu springen, ist eine nicht zu unterschätzende
Aufgabe. Das schwierigste ist wohl an der Palliativstation gewesen, dass da
keine Zeit war, sich auch emotional von den Patienten – gerade von denjenigen,
die lange auf Station gelegen haben – zu verabschieden. Zwei Stunden später war
die nächste Aufnahme und dann war das Zimmer wieder mit einem sterbenden
Patienten belegt, dem man genauso viel Aufmerksamkeit und Empathie schenken
sollte.
Und dann erzählt Mondkind noch die Geschichte mit der Neuro. Nicht die
Ganze – dann wären sie morgen noch dabei – aber so, dass deutlich wird, dass
die Neuro Mondkinds einziges Standbein war und dass ein Wegfallen der Idee
Neuro, große Teile des Weges in der Vergangenheit und Zukunft in Frage stellt.
Es wird schwierig – das stellt auch der Seelsorger fest. Mondkind hat
keine einfache Biographie und wurde in ein sehr enges Korsett gezwängt.
Er arbeitet anders als die Therapeutin. Es geht nicht so sehr um
kognitive und vernunftgesteuerte Ansätze, was langsam auch nichts mehr bringt,
weil bei Mondkind immer Gefühl gegen Verstand rennt. Es geht um das Fühlen im
Hier und jetzt .Er meint, dass es derzeit vielleicht nicht so klug ist, die
Horizontale zu sehen, sondern eher die Vertikale. Was ist jetzt? Wann fühlt
Mondkind mal etwas? Und wenn sie etwas fühlt – wie fühlt sich das an? Und wo
fühlt sie es in ihrem Körper?
Und was würde sie sich eigentlich wünschen, wenn sie jetzt drei
Wünsche frei hätte? Ein bisschen Normalität – oder auch das Wegfallen, der ganzen
psychischen Schwierigkeiten. Einfach, wie ihre Mitstudenten zu sein. Jetzt das
PJ machen und aber auch noch Dinge nebenher haben, die wichtig sind und das
Leben bereichern. Und sie würde sich jemanden wünschen, der mit ihr die Stille
aushält. Und ihr Chaos. Und vielleicht dürfte er sogar die Hand auf Mondkinds
Schulter legen. (Ohne dass Mondkind es erwähnt hätte, stellt der Seelsorger
fest, dass sie wahrscheinlich ziemlich arge Probleme mit Berührung hätte und
dass auch im Patientenkontakt nicht so einfach ist – da muss man Patienten eben
anfassen. Damit hat er ziemlich ins Schwarze getroffen.).
Und als letztes würde Mondkind sich Mut wünschen. Mut, den Weg so zu
gehen, wie er sich richtig anfühlt. Ohne, dass der Verstand sich mit unfassbar
vielen Ängsten wie „Du musste das Studium geradlinig durchziehen, sonst wirst
Du nie einen vernünftigen Job finden“ dazwischen schaltet.
Sie kommen darauf zu sprechen, was ein Freund an Mondkind schätzen
würde, wenn sie denn einen hätte. Mit der Frage drehen sie sich unfassbar lange
im Kreis. Denn Mondkind möchte nicht wegen ihrer Leistung geschätzt werden –
aber was gibt es denn da noch in Mondkind? Kann man irgendetwas an Mondkind
mögen?
„Es tut mir leid, aber das fällt mir gerade so schwer…“, sagt Mondkind
irgendwann. Das merke er und das sei eigentlich echt schade gibt ihr Gegenüber
zurück.
Mondkind bekommt eine „Hausaufgabe“ für die nächsten Tage. Sie soll
darauf achten, wo genau sie im Körper Dinge fühlt, wenn sie etwas fühlt. Bei
positiven und bei negativen Dingen. Und wie genau sich das anfühlt.
Schwierige Sache, aber sie wird darauf achten.
Am Ende möchte er mit Mondkind noch eine Entspannungsübung machen.
Aber so oft, wie sie auch von vorne los legen – es dauert schon mal Ewigkeiten,
bis Mondkind aus ihrer derzeit ständigen, leichten Hyperventilation raus ist
und einigermaßen vernünftig atmet. Irgendwann beschließt er dann, dass sie das
wohl heute nicht mehr hinbekommen. Und es aber auch nicht so schlimm ist.
„Wie wollen wir das denn jetzt weiter machen?“, fragt der Seelsorger. „Naja“,
gibt Mondkind zurück, „also das ist ja Ihre Zeit, die Sie hier investieren…“
Darum gehe es aber gerade nicht, wird Mondkind belehrt. Wenn es ihr hilft, kann
man das zunächst durchaus versuchen, wöchentlich hinzubekommen. Mondkind solle
auch nicht für ihn mitdenken – er achte schon selbst auf sich. Und erklärt, dass
Mondkind für ihn auch keine Belastung ist. „Ich sehe da einen Menschen, der in
ein ganz enges Korsett eingeschnürt ist. Und das Korsett ein bisschen zu
lockern und dem Menschen darin ein bisschen mehr Raum zu geben – das ist eine
schöne Aufgabe für mich, an der ich Freude habe. Und ich würde es Ihnen auch
sehr wünschen, ein bisschen mehr der Mensch zu werden, der Sie sind. Auch
gerade, weil ich Sie – auch wenn Sie es mir nicht glauben – schon von Beginn an
sympathisch finde.“
Sie machen einen Termin für nächsten Donnerstag. Und vielleicht sind
diese relativ eng gesteckten Anker für Mondkind gerade die Rettung. Vielleicht
kann sie sich jetzt tatsächlich irgendwie über die Zeit ziehen. Natürlich wird
es unmöglich sein, dass die Beiden in den nächsten Wochen viele Dinge komplett
aufarbeiten – er kennt Mondkinds Geschichte ja noch nicht so lang. Aber er hat
eine ganz andere Art zu arbeiten, die Mondkind vielleicht – wenn sie sich
darauf einlässt – wirklich voran bringen kann.
Und vielleicht entlastet das Mondkind wirklich davon, ständig in die Studienstadt fahren zu müssen.
Hin und wieder wird sie es dennoch tun.
Und neben ganz viel Schwere und Chaos in Mondkind, ist da noch etwas
anderes: Ein ganz kleines bisschen Zuversicht.
Mondkind
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