Zurück in Rot

Manchmal beginnen Tage ja so richtig gut. Etwa dann, wenn eine noch total verschlafene Mondkind morgens die Kaffeemaschine einschaltet und vergisst, die Tasse darunter zu stellen. Und ihr dann irgendwann auffällt, dass sich das Plätschern heute Morgen etwas merkwürdig anhört.

Da das Putzen noch eine Weile gedauert hat, komme ich ein wenig abgehetzt auf der Neuro an. Ich parke meine Sachen auf der Epilepsie – Station, schlüpfe wieder in die roten Klamotten, die ich mir gestern Abend schon bereit gelegt hatte und rase runter auf die Stroke Unit. Wenigstens bin ich jetzt schon mal physisch anwesend. Da ich aber noch keine Patienten habe, muss ich auch niemanden scoren und kann die Zeit nutzen, um die Mail fertig zu schreiben, die ich eigentlich hatte am heimischen Schreibtisch beim ersten Kaffee des Tages schreiben wollen.

Frühbesprechung. Neben mir sitzt eine Kollegin aus dem zweiten Stock. „Mondkind – bist Du jetzt wieder auf der Stroke?“, fragt sie ganz verwirrt, als sie mich in rot sieht. „Jap, Personalknappheit…“, murmle ich nur, bevor der Chef das Wort erhebt. Mittwochs wird immer jeder nach schwierigen Fällen gefragt, die man eventuell in großer Runde besprechen muss. „Mondkind?“, fragt der Oberarzt der Stroke Unit und sieht mich an. „Was ein Esel…“, denke ich mir nur. Er weiß doch, dass meine Woche bisher ziemlich chaotisch war. „Naja… - also gerade habe ich nicht so richtig eigene Patienten, weil ich ja seit gestern Mittag wieder auf der Stroke bin. Ich habe dann im zweiten Stock noch alles fertig gemacht und muss jetzt erstmal wieder auf der Stroke Unit ankommen“, erkläre ich mich um eine diplomatische Antwort bemühend. „Wir haben die Station gestern durchgekehrt Mondkind, es gibt genug neue Patienten…“, ist seine Antwort

Arztzimmer. Alle tippen fröhlich vor sich hin. „Leute…“, werfe ich ein. „Ich brauche Patienten. Wer kann mir einen abgeben? Ich kann gleich in der Visite nicht nichts zu berichten haben…“
Ich bekomme einen Patienten von einem neuen Kollegen. Es ist kein sonderlich schwerer Fall. Ein Patient, der gestern mit einer passageren Durchblutungsstörung aufgenommen wurde. Heute Morgen lächelt er mich im Bett setzend an. Er war vor einem Jahr schon mal hier. Ich suche alle Befunde von damals zusammen – dann müssen wir nicht alle Untersuchungen wiederholen.
Auf der Visite übernehme ich den Visitenwagen und die Dokumentation – außer bei meinem eigenen Patienten. Alles Wichtige habe ich auswendig gelernt (das letzte Mal als ich hier war gab es ja Kritik, weil ich nicht alle Aspekte auswendig wusste) und bemühe mich, strukturiert zu erzählen und möglichst wenige Pausen zwischen den Informationen zu lassen, damit mir keiner dazwischen grätschen kann und es wieder heißt, ich sei schlecht vorbereitet. Das funktioniert sogar einigermaßen, auch wenn ich das so sonst eigentlich nicht mache.

Röntgenbesprechung. Während der Radiologe noch versucht, den PC funktionstüchtig zu machen, kommt mein Neuro – Oberdoc auf mich zu. „Mondkind – Du musst noch einen Vortrag halten. Das machen alle PJler hier…“, erklärt er. „Ich habe doch schon den Schwindelvortrag gehalten. Zählt das nicht?“, frage ich. „So halb… - also nein“, erklärt er. Nur weil es keine Powerpoint – Präsentation war oder wie? Immerhin habe ich den in weniger als 24 Stunden zusammengestellt und auswendig gelernt…. Das hätte er mir ja schon mal vor acht Wochen sagen können und nicht jetzt, wo quasi jedes Wochenende bis Weihnachten verplant ist. Der Radiologe ist fertig. „Ich komme nachher mal runter“, sage ich und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass mich das schon wieder nervt. Es ist nicht mal geklärt, wie das mit der Prüfung am Montag laufen soll und was das Thema ist (bis gestern Mittag hatte ich mich ja auf Epilepsie vorbereitet) und jetzt kommt er schon mit dem nächsten Ding um die Ecke…

Mittagessen. Mein Kollege von der Epilepsie – Station kommt auch dazu. „Mondkind, wann kommst Du wieder hoch? Ich habe so viele Aufnahmen – ich dekompensiere da völlig.“ „Ich kann mich nicht über den Chef hinweg setzen“, entgegne ich. „Aber ruf an, wenn es nicht geht – dann komme ich. Ich habe ohnehin wenig zu tun auf der Stroke Unit…“



Ein paar Aufklärungen und Nadeln später rufe ich den Neuro – Oberdoc an und frage, ob es gerade günstig ist. Ich darf mich auf den Weg in sein Büro machen.
„Also zum Einen die Prüfung“, beginne ich. „Das wird ja jetzt ein Problem. Ich kann ja nicht zwei Prüfungen über Schlaganfall machen, ich denke das möchte der ärztliche Direktor nicht…“ Ein paar Sekunden lang sieht mich der Oberdoc etwas verwirrt an. „Das hast Du Recht“, sagt er. Man merkt, dass ihm das Problem bis dato noch gar nicht bewusst war. „Ich könnte natürlich versuchen mir trotzdem einen Epilepsie – Patienten zu suchen und mit dem Kollegen von der Epilepsie – Station reden.“ Da er mir ohnehin jeden Tag in den Ohren liegt, wird das kein Problem. Nur ob er einen Patienten hat, das ist mal fraglich. Denn meistens versuchen wir vor dem Wochenende so viele Leute wie möglich zu entlassen und der Patient muss eben am Montag noch da sind. Ich werde schon etwas finden, meint er. Na der hat Nerven.
„Für den Vortrag kannst Du Dir etwas ausdenken. Entweder Du nimmst einen Patienten, den Du am Besten in die Frühbesprechung mitbringst, oder Du greifst irgendetwas Neues auf“, sagt er und drückt mir die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift der deutschen Gesellschaft für Neurologie in die Hand. Die Leitlinien der Neuropathie wurden aktualisiert. Allerdings sind die Neuritiden so komplex – da kann ich mich auch gleich einsargen.

„Wir bekommen eine neue PJlerin am Montag“, erklärt er mir. „Die führst Du dann bitte hier ein“, sagt er. „Ich habe doch selbst keine Ahnung“, gebe ich zurück. „Genau deshalb“, sagt er mit einem Lächeln. „Du machst einfach all das, was ich mit Dir am ersten Tag auch gemacht habe. Die Klinik zeigen, den Arbeitsplatz einrichten, Telefon und Schlüssel organisieren, Essensmarken holen und zum Essen kannst Du sie mitnehmen. Und Ansprechpartnerin für Fragen sein.“
„Ich glaube, wir tun sie erstmal auf die Schlaganfallstation“, schlägt er nach kurzer Pause vor. „Ähm… - wir haben gar nicht mehr so viele Plätze da unten“, erkläre ich. „Alle PC – Plätze sind besetzt und nächste Woche kommt noch eine Kollegin aus dem Urlaub zurück…“ „Ich dachte, wir haben da unten Personalknappheit?“, fragt er. Dazu sage ich jetzt gar nichts mehr…Hauptsache, denen fällt dann nicht wieder so eine Hauruck - Aktion ein...

Wir reden nochmal über das Thema Job in Bad Neustadt. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen Ende Dezember zu gehen und nicht wieder zu kommen. Dafür war die Zeit hier doch zu gut. Natürlich habe ich auch hier meine Tiefs – allerdings war es wahrscheinlich Illusion zu glauben, dass das einfach so aufhört. Es gibt in der Studienstadt einige, die das nicht verstehen und ich frage mich manchmal, ob das richtig ist, nur weil es sich gerade richtig anfühlt. Logisch argumentiert ist es vielleicht nicht die geschickteste Lösung.“ „Mondkind, das ist hier irgendwie schon so eine kleine eigene Welt. Die wenigsten aus dem Team kommen aus der Umgebung. Die meisten sind einfach her gekommen und hängen geblieben. Ich lebe in diesem kleinen Kosmos hier schon fast 15 Jahre und wie Du siehst, bin ich immer noch hier. Ich kann dich verstehen und nachvollziehen, was das hier für Dich bedeutet.“

„Allerdings ist der Zeitpunkt meines Kommens halt noch nicht so klar, weil ich das auch mit meinen Eltern nochmal besprechen müsste“, führe ich weiter aus. „Vielleicht würde es finanziell sogar aus eigener Kraft gehen, aber wenn die Kosten weiter laufen und ich nichts verdiene, stresst mich das halt schon.“
Er sagt, dass ich mir noch ein bis zwei Wochen Zeit nehmen darf, bis alles geklärt ist, ehe ich mit dem Oberarzt rede. „Sind Deine Eltern da so intolerant, was Deine Erkrankung angeht?“, fragt er „Ja sind sie“, sage ich und erkläre es noch ein wenig. „Ich glaube, das macht es halt immer so schwierig“, ende ich, „eigentlich soll Familie ein Stück Sicherheit vermitteln, aber bei mir ist es immer das Gegenteil. Und ich weiß, dass ich es immer alleine schaffen muss.“ „Und Freunde?“, fragt er. „Naja, vielleicht habe ich da auch ein falsches Verständnis von Freundschaft, aber für mich ist es eben so, dass Freundschaften immer ungebunden sind. Als ich damals „anders“ geworden bin – da waren plötzlich alle weg, ohne einmal nachzufragen. Und Familie – die bleibt halt. Obwohl meine Mutter und ich ein ganz schlechtes Verhältnis zu einander haben, aber ihre Erkrankung und wie sie damit umgeht, wird mich immer ein Stück interessieren müssen.“ „Du musst Dir eben eine eigene Familie suchen“, erklärt der Oberdoc. Und als ich ihn etwas schief ansehe (das hat man mir nämlich schon in der Psychiatrie erzählt ohne zu bedenken, dass ich eine Beziehung derzeit wahrscheinlich auch nicht aushalten würde), fügt er hinzu: „Damit meine ich nicht unbedingt, dass Du selbst Kinder haben musst. Sondern Menschen um Dich herum, die die Familie ersetzen können. Und ein Stück machst Du das ja schon. Du hast den Seelsorger und mich zum Beispiel.“ „Naja, aber das ist eine andere Ebene“, gebe ich zu bedenken, „Ich meine – manchmal denke ich mir auch: Mondkind, was erzählst Du da eigentlich? Ich meine streng genommen, sind Sie mein Chef… - es funktioniert halt irgendwie trotzdem.“ „Genau, es funktioniert sogar sehr gut“, sagt der Neuro – Oberdoc und lacht. Er wiederholt das Angebot, als Gesprächspartner zur Verfügung zu stehen. Ich glaube, ich habe das wirklich immer noch nicht verinnerlicht, dass ich ihn wirklich in Anspruch nehmen darf. Mir kommt das ja schon jetzt alles viel zu viel vor. Und vielleicht ist es einfach nicht so wichtig, was man gesellschaftlich betrachtet tun darf und was nicht, solange es für uns beide okay ist.

Nachdem er mich noch gelobt hat, dass ich so flexibel auf seine Order wieder auf die Stroke Unit zu kommen reagiert habe und nicht – wie er es etwas befürchtet hat – durch den Stress aus der Spur geraten bin, entlässt er mich.

Es ist schon nach 16 Uhr, als ich wieder auf der Epilepsie – Station stehe. Ich frage meinen Kollegen, ob er einen interessanten Epilepsie – Patienten für mich hat. „Ja, ich habe vielleicht jemanden, das kommt auf die Untersuchungsergebnisse an, die wir bis Freitag bekommen. Wenn die negativ sind, ist der Fall doch nicht interessant. Und den Rest entlasse ich leider vor Montag“, erklärt er. „Hol Dir einen Stuhl.“ Er schildert mir seine Verdachtsdiagnosen und die Untersuchungen, von denen ich am Anfang der Woche auch einige mitbekommen habe.
„Mondkind, ich habe noch ein paar interessante EEGs“, erklärt er. Im Lauf der Zeit mache ich es mir neben ihm bequem, lehne mich etwas auf meinem Stuhl zurück und lege die Beine auf die Wasserkästen neben seinem Tisch. Irgendwann schaue ich auf die Uhr. 18 Uhr ist schon durch… - aber es ist wirklich interessant und eventuell lerne ich langsam die ersten Zacken im EEG zu erkennen. Und da ich zu Hause ohnehin nicht viel zu tun habe (ich würde ja gern meine Prüfung vorbereiten, aber solange, wie das Thema nicht fest ist, ist das ziemlich sinnlos), ist es eigentlich ganz nett neben ihm zu sitzen und mir alles erklären zu lassen.

Irgendwann kommt aber doch wieder ein Patient in die Notaufnahme und er muss runter, weil er Dienst hat. „Am Dienstag habe ich so viele Aufnahmen“, stöhnt er, als er in den Kalender schaut. „Das wirst Du schon hinbekommen“, sage ich. „Ohne Dich glaube ich das nicht…“, erklärt er.
Wenn ich nicht wüsste, dass er eine Freundin hat, wäre ich mir nicht sicher, wie manche der Aussagen zu interpretieren sind.

Und jetzt bin ich totmüde für heute. Aber es war ein guter Tag.

Mondkind

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