Patientensuche und Kapellengespräch


Auf der Station ist die letzten beiden Tage nicht mehr viel passiert. Ich habe meine drei Patienten und die sind alle wohlauf. Eine Dame ist ein bisschen anstrengend – nahezu jede Stunde wechselt sie zwischen der Ablehnung der nötigen Untersuchungen und der Zustimmung. Ich habe schon eine ganze Reihe an Aufklärungsbögen mit ihr durchgearbeitet, an deren Ende wechselnd die Kästchen mit „Ablehnung“ und „Zustimmung“ unterschrieben sind. Aber ich versuche es ihr nachzusehen. Bis jetzt war sie ziemlich fit, hatte mit Krankenhäusern und körperlichen Einschränkungen wenig am Hut und ist jetzt sicher ein Stück weit überfordert.
Ich fühle mich jedenfalls viel sicherer und selbstbewusster als zu dem Zeitpunkt, als ich die Station das letzte Mal verlassen habe.

Gestern haben wir noch ein Perfusions – CT in unserer Klinik gemacht. Es ist eine spezielle Untersuchung, die bei uns recht selten durchgeführt wird. Deswegen hat der Neuro – Oberdoc auch in Windeseile alle möglichen Assistenzärzte und mich angerufen und dann standen wir da im Radiologie – Raum wie die Hühner auf der Stange, während der Radiologe erklärt hat, warum das Gehirn gerade in einem Farbspektrum zwischen dunkelblau über lila, grün und gelb bis hin zu rot dargestellt wird.

Heute war ich bis in den späten Nachmittag noch mit der Suche nach einer Patientin für meine mündliche Prüfung beschäftigt. Wenn der Oberdoc möchte, dass ich eine Prüfung mache, könnte er da schon etwas aktiver werden. Letztendlich habe ich eine Patientin mit erstmaligen epileptischen Anfall. Das Warum ist aber noch gänzlich ungeklärt. Es steht eine Meningeosis Carcinomatosa im Raum. Der mögliche Primarius, den man im Röntgen gemeint hatte zu sehen, ließ sich im CT allerdings nicht mehr darstellen. Das heißt trotzdem nicht, dass es vom Tisch ist. Im Gehirn stellt sich dann ein Meningeom dar und eine Läsion, von der man nicht genau sagen kann, was es ist. Ob es eine klassische „ringförmig kontrastmittel aufnehmende Läsion“ und dann doch am ehesten eine Metastase wäre oder eine Pacchioni – Granulation, die letztlich gar kein pathologischer Befund wäre, da wollten sich die Radiologen nicht festlegen. Und wegen erhöhter Muskelenzyme kommt auch noch eine Myositis in Frage. Hier ist auch die Frage nach der Ursache – auch das könnte im Rahmen eines Tumorgeschehens sein. Allerdings passt dazu nicht, dass die unklar erhöhten Entzündungsparameter durch eine Antibiose gesunken sind.
Naja… - ich muss mich jetzt also mit vier Themen beschäftigen. Mein Plan ist es, morgen die Lernzettel zu schreiben, morgen Abend in die Klinik zu laufen, die auszudrucken und am Sonntag zu lernen.

Und wie ich am Montag die Prüfung machen, die PJ – lerin unter meine Fittiche nehmen und meine Patienten betreuen soll, weiß ich nicht. Es war sicher nicht böse gemeint, aber mich mit: „Mondkind, wir sind hier nicht unterbesetzt – wir brauchen Dich nicht“ ins Wochenende  zuentlassen, war schon eher nicht so schön…
Ich bin gespannt auf das Chaos der kommenden Woche…

Im Anschluss musste ich nur noch dem Kollegen im Büro irgendwie erklären, dass ich schon wieder in Zivil unterwegs, aber noch eine Stunde im Haus bin und deshalb alle Sachen im Büro lasse.
Und dann mache ich mich auf den Weg zur Kapelle.

Lernzettel... 📖📌

„Wie geht es Ihnen?“, ist die erste Frage.
„Das PJ läuft im Moment super. Fast so, wie ich mir das am Anfang gedacht hatte. Zu mir persönlich: Irgendwie weiß ich das selbst nicht genau… - es war eine komische Woche.“
War sie wirklich. Ich komme überhaupt nicht mehr zur Ruhe. Die Gedanken springen in meinem Kopf hin und her und ich muss mich bemühen sie zu Ende zu denken. Dazwischen ploppt immer mal die Panik auf. Die mahnende Stimme, die die Tage langsam rückwärts zählt. Bis die Seile alle wieder durchgeschnitten werden und ich absolut nichts dagegen tun kann, wieder zu fallen.
Und ich will das nicht fühlen müssen. Diese Abgründe. Diese existentiellen Ängste. Und deswegen versuche ich mich zu beschäftigen. Ich glaube, das ist gar keine bewusste Entscheidung. Alles in mir sucht nach Ablenkung. Die Gedanken bleiben nie lange an einem Punkt, die Füße wippen unruhig hin und her, während ich auf meinem Stuhl sitze.
„Sie wissen aber schon, dass das keine gute Lösung ist. Wir sollten also auf das schauen, das Sie da gerade versuchen zu vermeiden“, erklärt er.
Was da ist, möchte er wissen. Hinter der Unruhe. „Angst glaube ich“, sage ich. „Wovor?“, fragt er. „Naja vor dem, was hier im Lauf des Dezembers passieren wird…“, erkläre ich. Was sich denn da ändert, will er wissen. Und ich erzähle gefühlt zum hundertsten Mal, dass mir alles wegbrechen wird. Und dass die Situation dann wieder mal dekompensiert. Und ich mir viel kaputt machen könnte, wenn ich nicht aufpasse. So schlimm wird es schon nicht werden, sagt er. Irgendwie habe ich mich nicht auf dieses Gespräch vorbereitet. Denn auch hierfür konnte ich die Gedanken irgendwie nicht zu Ende denken. Ob ich das, was ich da fühle, wirklich sagen möchte und kann. Denn eigentlich ist es ganz einfach. Es ist die Angst, auf die Frage „Ist da jemand?“ keine Antwort mehr zu haben. Die Angst, dass ich das, was jetzt trägt,verliere. Diesen Anteil „Ersatzpapa“, den ich gerade habe, abgeben zu müssen. Es ist die Angst, vor diesen ganzen Abgründen in mir, vor dem Schmerz. Es ist die Angst, nicht mehr zu wissen wohin mit mir und dem ganzen Druck, die Angst vor den Suizidgedanken, die Angst davor, dass ich vorher nicht noch wie im Tran doch irgendwen anrufe, ohne darüber nachzudenken. Weil diese starke Seite in mir, die jeden Tag einen Fuß vor der anderen setzt, doch auch leben will. Und weil der Kopf weiß, dass jede Krise überlebt werden kann, während das Gefühl da anderer Auffassung ist.
Aber ich kann ihm schlecht sagen, dass ich den Weggang von diesem Ort und den damit verbundenen Seilen, die mich gerade am Fallen hindern, mit einer solchen Dramatik in Verbindung bringe. Er soll sich keine Sorgen machen.
Und deswegen ist das Gespräch ein bisschen zäh heute. Weil ich weiß, was da ist, aber mich nicht traue, es auszusprechen.
Was da noch sei, will er wissen. „Traurigkeit wahrscheinlich“, sage ich und schon während ich das ausspreche fühle ich die Schwere. Die darf dort sein, sagt er. Nach allem, was in den letzten Jahren emotional passiert ist. „Von dem Gedanken einer Familie sollten sie sich irgendwann verabschieden…“, erklärt er. „Jedenfalls von dieser Familie“, fügt er hinzu. Man könne sich ja selbst eine suchen. Er sehe sich zum Beispiel gerade als ein bisschen Ersatz. Und dann könne man sich ja auch in viel größeren Dingen verankern. Da gäbe es zum Beispiel Mutter Erde oder den Vater im Himmel – das könne auch Geborgenheit vermitteln. Ich traue es mich jetzt nicht zu sagen, dass mir die Weite des Raums nicht selten sogar Angst macht und ich das überhaupt gar nicht mit Geborgenheit verbinde.
„Sie sollten versuchen, diese Traurigkeit zu fühlen“, sagt er. Und auch hier habe ich Angst, dass mich das überrollt und ich damit nicht zurecht komme. Das werde nicht passieren, sagt er. Dafür sei ich zu stark.

Und was das Konglomerat vom Familienfest Weihnachten und meiner Rückreise in die Studienstadt anbelangt schlägt er vor, dass ich mir doch überlegen soll, Weihnachten einfach ein paar Dienste zu machen. Und ehrlich gesagt ist mir die Vorstellung sogar fast am Liebsten, aber ich glaube, da kann ich mich auf etwas gefasst machen. „Ich helfe Ihnen auch, wenn Sie hier bleiben“, sagt er. Ich traue mich nicht zu fragen, was er damit meint.

„Ich denke hinter der Traurigkeit kommt auch noch die Wut“, erklärt er irgendwann. „Ja, das sagen Viele“, entgegne ich. „Aber ich bin einfach nicht wütend. Ich suche für alles immer eine Entschuldigung. Ich denke mir immer, dass jeder Mensch sein Handeln doch sicher kritisch hinterfragt und einem anderen auf gar keinen Fall etwas Schlechtes möchte…“ Er sieht mich von der Seite an. „Und was wollte Ihre Mutter jetzt Gutes für Sie?“ fragt er. „Naja, Sie wollte auch nur das Beste für Ihre Töchter. Dass sie mal einen guten Beruf haben. Erfolgreich sind. Da kam halt nur Jura oder Medizin in Frage. Für sie war das glaube ich der einzige Weg, um glücklich zu sein. Für mich steht heute eher das Menschsein im Mittelpunkt. Erfolg ist sicher nicht unwesentlich. Aber ich würde mir viel mehr als das etwas wünschen, das ich für mich als „zu Hause“ bezeichnen kann. Und die Fähigkeit den Menschen, die meine Freunde sind, bedingungslos zu vertrauen, sodass hieraus vielleicht wirklich eine „Ersatzfamilie“ resultieren kann. Ich würde mir viel mehr von diesen zwischenmenschlichen Erfahrungen wünschen, die wirklich prägen.“

Ich glaube, wir wissen irgendwann beide nicht mehr, was wir noch sagen sollen. Ich möchte jetzt ehrlich gesagt aus diesem diffusen Gefühl, dass da etwas im Busch ist, kein Fass aufmachen. Ich habe auch keine Lust, durch diese Stunde in die Krise rein zu rutschen. Aber ich habe Angst, dass sie losgeht, bevor ich nächste Woche wieder bei ihm bin. 

Mondkind

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