Schnipsel


Worte sind nur noch eine Aneinanderreihung von wahllosen Buchstaben. Die Sätze ergeben keinen Sinn. Einen Befund lesen wird eine Herausforderung. Wir haben heute auf der Station so gut wie nichts zu tun und ich könnte auf der Nachbarstation fragen, ob ich helfen kann. Aber ich lasse es einfach. Das kann nur schief gehen.
Was ist hier los?

„Also wegen des Termins am Freitag, das wird schwierig, weil ich Montag eine mündliche Prüfung habe…“, höre ich mich erklären. Eigentlich bin ich mir nicht sicher, was ich ihr überhaupt sagen will. Der Therapeutin, am anderen Ende der Leitung. In wenigen Sätzen erkläre ich, was passiert ist. „Es tut mir wirklich leid, dass  im Moment jeder zweite Termin nicht stattfinden kann. So bin ich sonst nicht…“ „Nein Frau Mondkind, wenn Sie Montag eine Prüfung haben, dann können Sie am Wochenende auf keinen Fall herkommen – das halte ich auch für eine sehr schlechte Idee…“
„Mondkind, Dir ist aber schon klar, dass Du Dir gerade Deine Boje, bis zu der Du nur noch hättest schwimmen müssen, aus dem Weg räumst. Und in dem Zustand in dem Du gerade bist, hättest Du diesen Termin gebraucht…“, raunt es aus dem Off.
Aber was zum Geier soll ich machen? Uni stand schon immer an erster Stelle. Und dann muss sie erst recht dort stehen, wenn es um die Neuro geht.
„Dann wird das wohl vor Weihnachten nichts mehr“, stellt die Therapeutin fest. „Wohl nicht…“, sage ich ganz leise. Ich glaube, wir haben beide keine Lust darauf, dass das am Telefon eskaliert.

„Was macht denn die Myasthenie – Patientin?“, frage ich.
„Naja, wir wissen ja noch gar nicht, ob sie das wirklich hat. Der Tensilon – Test war fraglich positiv, im EMG haben wir kein Dekrement gesehen und die Antikörper werden bis Montag nicht da sein…“, antwortet die Kollegin.
„Naja, aber das gibt es doch, dass man kein Dekrement sieht…“, gebe ich zurück. „Und 15 % der Myasthenien sind seronegativ…“
„Das kann ja alles sein Mondkind, aber damit lieferst Du dem ärztlichen Direktor eine Steilvorlage. Wenn Du keine Diagnose hast und seine Möglichkeiten zu fragen irgendwie eingrenzen kannst, wird es das nächste Desaster. Ich würde es nicht machen – Du hast keine Gelegenheit mehr für Experimente. Das muss jetzt eine sehr gute Prüfung werden. Ich weiß, dass der Oberarzt die Patientin vorgeschlagen hat, aber sprich nochmal mit ihm. Erkläre ihm das alles so; das zeigt auch, dass Du Dich gebildet hast und dann überlegt Euch etwas…“
„Das sollte ja auch mein Vortrags – Thema werden. Dann habe ich dafür eben auch noch nichts. Und da gibt es in der „aktuellen Neurologie“ vom April ein paar gute Artikel drin. Es würde halt gut passen…“

„Hast Du schon etwas zu Parkinson gemacht?“
„Nein, ich finde einen Parkinson – Fall irgendwie nicht so gut. Wenn der mich die atypischen Parkinson – Syndrome abfragt, habe ich ein echtes Problem. Irgendwie ist das für mich immer alles so schwer fassbar…“

„Was hat denn der Neuro – Oberarzt dazu gesagt? Er wusste doch, dass Du in die Studienstadt wolltest.“
„Naja, er hat gesagt, ich soll trotzdem fahren. Aber ich weiß genau, dass ich mich Montag zu unsicher fühlen werde…“
„Und dann ist das ja mit der Studienstadt auch immer so eine ambivalente und emotional belastende Sache für Dich. Das beschäftigt Dich immer sehr.“
„Eben – da bin ich mit den Gedanken hinterher auch woanders.“

„Es ist halt für Dich wirklich blöd, dass das so schlecht gelaufen ist. Du hast Dich hier echt gut gemacht.“
„Naja, ich bin die erste PJlerin, die es zwei Mal machen muss. Ich traue mich schon gar nicht mehr, das Thema Stelle anzusprechen, bis die Prüfung vom Tisch ist. Aber danach wird es zeitlich langsam ein bisschen knapp, wenn ich das in trockene Tücher packen will, solange ich hier bin.“


Bildlich gesprochen ist das aktuell mein Kopf... 


„Wo verbringst Du jetzt eigentlich Deine letzten Wochen? Welche Rotationen sind noch geplant?“
„Ganz ehrlich – ich weiß es langsam nicht mehr, was die sich hier vorstellen. Bis heute morgen war mir ja noch gar nicht so richtig klar, ob ich jetzt wirklich auf der Epilepsie – Station bin.“

„Wir reden dann mal darüber, ob Sie jetzt vielleicht ein bisschen wütend auf Ihren Oberarzt sind und wie sich das anfühlt.“
„Nein, ich bin ja gar nicht wütend. Oder eher, ich will nicht wütend sein. Er hat es sicher in dem Moment einfach verpennt und das hat jetzt eben leider Konsequenzen. Man kann halt nur nicht fünf Mal beim ärztlichen Direktor anrufen und diesen Termin verschieben – in der Position sind wir einfach nach meiner Aktion nicht – aber da kann er ja auch nichts dafür, dass ich es versiebt habe. Also klar finde ich das irgendwie blöd, aber es ist eben auch meine Schuld. Er hat sich in der Vergangenheit so unfassbar viel für mich eingesetzt, dass diese eine Sache den Wert jetzt nicht unbedingt schmälert. Ich will das überhaupt nicht negativ sehen.“
„Mondkind…“ Ein langes Seufzen.

„Sag mal Mondkind – hast Du jetzt mal langsam die Stelle…?“
„Nein, es gibt da noch ein paar Dinge zu regeln.“ Das ist nicht gelogen, aber eine Umschreibung der Tatsache, dass ich die Prüfung versiebt habe und immer noch nichts vom Psychiatrie – Oberarzt gehört habe und somit immer noch nicht weiß, ob es sinnvoll ist, eine Lücke einzubauen…
„Mondkind, wenn Du jetzt noch lange wartest, könnte der Zug tatsächlich abgefahren sein…“

Es ist ein seltsames Dazwischen. Der Termin bei der Therapeutin ist abgesagt, dem ehemaligen Kollegen habe ich aber noch nicht geschrieben. Die Busfahrkarten habe ich auch noch und die nicht zu stornieren, lässt mein Konto ehrlich gesagt weinen. Mit jedem Tag wird das ja jetzt massiv teurer.

Ist es irgendein Wunder, dass ich nur noch Chaos im Kopf habe? Dass ich irgendwie hin und her gerissen bin und gleichzeitig das Gefühl habe, dass mir die Kontrolle gerade vollkommen entgleitet?
Ist es ein Wunder, dass ich langsam einfach nicht mehr lernen kann? Zum Einen, weil ich gedanklich nicht mehr hinterher komme, zu Anderen steht das dritte Wochenende in Folge bevor, an dem ich versuche in Windeseile Lernzettel zusammen zu schreiben und sie zu lernen. Und es ist die vierte Woche, in der ich auf Patientensuche bin. Die Themen haben so oft gewechselt in den letzten Tagen und jedes Mal waren sie aus einer ganz anderen Ecke der Neurologie. Entzündlich, Autoimmun, mal war Elektrophysiologie gefragt, ein anderes Mal Muskelerkrankungen oder Tumore.
Ich frage mich, ob ich das alles nur ein bisschen schwer nehme, oder ob es gerade eben einfach chaotisch ist. Da sind nur noch Schnipsel in meinem Kopf, die jeden Tag ein paar Mal in die Luft geworfen werden und langsam wieder zu Boden sinken.

„In so mancher Nacht frage ich mich in den letzten Tagen, wie ich die ganze Sache sehen würde, wenn ich hier nicht schon zwei Mal Famulatur gemacht hätte und wüsste, dass der Plan eigentlich war hier zu arbeiten, wenn das PJ keine Katastrophe wird“, erkläre ich ganz leise. „Alle Kommilitonen denen ich das erzähle befinden, dass das einfach vollkommen überzogen ist. Prüfungssimulation ist sicher sinnvoll, aber doch nicht so…“
„Vielleicht ist es ja ganz gut, dass Sie jetzt auch die Gelegenheit haben, solche Ereignisse mit in Ihre Überlegungen miteinfließen zu lassen“, antwortet sie.
„Wir hören uns dann“, ergänzt sie. In fast drei Wochen. Und wir sehen uns drei Tage, bevor wir wieder ein Kapitel schließen und das neue Jahr uns die Gelegenheit gibt, das nächste Kapitel zu beginnen. Kurz bevor ich einen der alten Blogeinträge heraus kramen und reflektieren kann, was die letzten acht Monate für mich persönlich verändert und bedeutet haben.

Mondkind

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