Familien - notfall
Freitagabend.
Der Tag ist vorbei, der Blogpost geschrieben und hoch geladen.
Handy aus dem Flugmodus holen. Es gibt im Krankenhaus ohnehin keinen
Empfang und bevor sich das Telefon bis zum Abend komplett entladen hat,
handhabe ich das so.
Eine SMS. Meine Schwester hat versucht anzurufen. Seltenheit. Ich
schalte das wlan ein. Eine whatsApp - auch von meiner Schwester (neben unzähligen anderen,
weil ein weiteres Mitglied meiner ehemaligen Studiengruppe die mündliche
Prüfung bestanden hat und jetzt Ärztin ist): „Mondkind, bist Du zu sprechen?“
Irgendetwas stimmt da nicht. Das ist immer so bei solchen Fragen, die
es vermeiden, spezifisch zu werden.
Was kann passiert sein? Meine Mama kann mit dem Auto mal wieder in der
Leitplanke gelandet sein? Meine Schwester kann aufgrund ihrer Anorexie auf der
Arbeit zusammen gebrochen und das Familiengleichgewicht durch einen
stationären Krankenhausaufenthalt von ihr empfindlich gestört worden sein, weil ja niemand
das was sie da treibt, als bedenklich betrachtet.
Ich rufe auf dem Handy meiner Schwester an. Es klingelt ewig. Irgendwann
drückt sie mich weg. Ich rufe sofort nochmal an. Wenn man mir einen solchen
Schrecken einjagt, muss man schon mit der Sprache heraus rücken, was los ist.
Unterdessen hat sie ihr Handy entweder ausgeschalten oder in den Flugmodus
geschickt. Auf jeden Fall ist sie nicht mehr erreichbar.
Ich wähle die Festnetznummer meines Elternhauses. Aber auch hier springt
nur der Anrufbeantworter an. Als letztes suche ich seufzend die Handynummer
meiner Mutter. Ich weiß nicht, wann ich die zum letzten Mal gewählt habe.
Wieder hört man ewig ein Tuten. Dann nimmt jemand ab. Man hört meine
Schwester: „Das ist jetzt bestimmt die Mondkind, weil sie es bei mir nicht mehr
geschafft hat…“
Ja natürlich ist es die Mondkind. Hackt es bei denen eigentlich? „Ja
Mondkind, wir sind im Krankenhaus“, erklärt meine Mutter. „Was ist denn los?“,
frage ich. Es stellt sich heraus, dass der neue Freund meiner Mama zur Stunde
operiert wird. „Wir hatten halt gedacht, weil Du ja Medizin studierst, könntest
Du uns vielleicht etwas zu dem sagen, das die Ärzte vorgeschlagen haben. Aber
das ist ja nun ohnehin zu spät.“ „Naja, meine Schwester studiert aber auch
Medizin. Mit Ferndiagnosen ist es halt ohnehin schwierig. Bei der Diagnose
hätte ich zumindest mal einen Sono – Befund, am Besten einen CT – Befund, wenn
es gelaufen ist, ein Labor und die Entwicklung der Beschwerden gebraucht.“ „Es
ist ja nun nicht mehr wichtig“, merkt meine Mutter ein wenig grantig an. „Könnt
ihr mir denn Bescheid geben, ob er die OP gut überstanden hat?“, frage ich. „Ja,
er ist noch im OP, die Ärzte haben gesagt, es kann noch ein bis zwei Stunden
dauern, aber wir sagen Bescheid.“
Und was weiß ich bis jetzt – trotz höflichem Nachfragen? Nichts.
Manchmal frage ich mich schon, was die sich da eigentlich denken?
Immer solche Panik – mache und dann nicht mal ans Telefon gehen… ? Man hätte ja
auch schreiben können: „Mondkind, hast Du mal kurz Zeit – es geht um eine Frage
zur Notfalloperation von xy aus dem Grund von xy.“ Dann hätte jeder gewusst:
Okay, die Situation ist ziemlich beschissen, aber nicht akut lebensbedrohlich.
Und warum drückt man mich dann weg, wenn ich mich melde? Wenn man mich
einbezieht, dann soll man mir auch sagen, was los ist.
Wenn sie jetzt so genervt sind, weil sie mich nicht erreicht haben –
das verstehe ich auch nicht. Meine Schwester hat meine Durchwahl im
Krankenhaus. Sie hat sich sogar schon mal einen Scherz daraus gemacht,
anzurufen. Da kann man das doch in einem solchen Fall definitiv machen. Jeder
weiß, dass ich da oben auf dem Berg keinen Handyempfang habe.
Ich weiß nicht, für wen die mich halten? Für ein egoistisches,
gefühlskaltes Wesen?
Ich muss zugeben, dass ich mit Mamas neuem Freund (noch) nicht so gut
zurecht komme. Er erschien mir ganz in Ordnung, bis er erklärt hat, wie er
seine Untermieter aus dem Haus vertrieben hat, als er sie loswerden wollte. Das
fanden alle Zuhörer sehr amüsant – wahrscheinlich, weil sie nie in ihrem Leben
Untermieter waren. Als Student in der Klausurenphase kein Internet zu haben,
ist jedenfalls ziemlich ungünstig, weil eben sehr viel Material zur
Vorbereitung online zur Verfügung ist. Im Winter die Heizung abzudrehen, ist
auch nicht nett. An meinem alten Wohnort hat die Heizung öfter mal nicht
richtig funktioniert. Und während man das Wohnzimmer noch mit dem Kamin heizen
konnte, sah es bei mir im Zimmer ziemlich schlecht aus. Die Tür musste den Tag
über geschlossen sein, weil sonst abends der Hund im Bett lag und wenn ich nach Hause
kam, brauchte ich Ruhe zum Lernen und konnte die Tür auch nicht offen stehen lassen,
um die warme Luft von unteren herein zu lassen. Das hatte zur Folge, dass ich
teilweise nur 14 Grad in diesem Zimmer hatte, was überhaupt nicht
lustig war – zumal ich in meinem ersten Winter dort noch massiv untergewichtig war
und ohnehin immer gefroren habe. Das haben auch Wärmflasche und Heizkissen
nicht verändert.
Und dennoch kann ich für jeden meiner Patienten und generell für alle Menschen in Notlagen Empathie und
Fürsorglichkeit aufbringen. Ich sorge mich um jeden meiner Patienten und
natürlich frage ich mich auch, wie es Mamas Freund wohl gehen mag? Dass ich ihn
nicht so sehr mag und noch nicht so gut kenne heißt nicht, dass ich mir keine
Sorgen machen kann. Und ich hoffe, dass es gut gelaufen ist. Und dass dahinter
nicht irgendeine bösartige Erkrankung steckt. In meinem Elternhaus ist gerade
wieder über dem Deckmäntelchen eines jeden das Familienleben eingekehrt. Das
macht meine Mutter nicht weniger unmöglich und meine Schwester nicht gesünder –
für alle Beteiligten dort ist es eher ein Throw back in längst vergangene
Zeiten. Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, aber wenn sie alle
glücklich damit sind, dann ist es doch okay. Und es wäre bitter, wenn das durch
eine schwere Erkrankung so schnell wieder auf der Kippe stünde.
Ich scheine keinen Platz dort zu haben. Zu weit habe ich mich in den
letzten Jahren von allen entfernt, zu viele Wege bin ich gegangen, mit denen
sie nicht einverstanden waren. Und dennoch fällt jedem im letzten Moment immer
ein: „Da gibt es doch noch eine Mondkind.“ Und diese Mondkind kann jetzt eben
nichts machen. Wenn sie nicht mit Informationen gefüttert wird, kann sie ihren
Kopf rauchen lassen und sich alle möglichen Szenarien ausdenken.
Ich weiß nicht, warum ich immer gerade dann wichtig werde, wenn es
wirklich brennt. Aber nicht mehr wichtig bin, sobald man aus der akuten
Situation raus ist. Und dann auch keiner einen Gedanken daran verschwendet, wie
es mir wohl geht. Ein Satz würde reichen. Ist das wirklich zu viel verlangt von
mir?
Wenn man mich miteinbezieht, dann muss man das schon bis zum Ende tun.
Fast verfluche ich mich, dass ich mir jetzt wieder Gedanken und Sorgen
mache. Am Montag habe ich Prüfung. Bis heute Abend muss der Haushalt fertig und
die Lernzettel müssen geschrieben sein. Und was mache ich? Blog schreiben. Um
das zu kanalisieren. Die Sorge. Die Traurigkeit. Vielleicht auch die vom
Seelsorger angesprochene Wut. Weil es einfach nicht okay ist, so mit mir
umzugehen. Und man sich aber durch die modernen Kommunikationsmittel schwer
dagegen wehren kann.
Und dennoch habe ich nicht das Gefühl, dass das Knäul in meinem Kopf in
Worte verwandelt wurde. Es ist Stau in meinem Kopf. Den ich dieses Wochenende
nicht beachten kann.
Und natürlich passiert so etwas immer Freitagabend – vor den beiden
schwierigsten Tagen der Woche.
Ich versuche anzufangen. Putzen, Einkaufen, Lernzettel schreiben.
Mondkind
Bildquelle: Pixabay
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