Verrutschen der Maske


13 Uhr.
Leere im Büro auf der Epilepsie – Station. Sowohl Stationsarzt, als auch Oberarzt sind nicht da.
Was wäre jetzt eigentlich dran gewesen? Den schmalen Weg durch die Grünfläche hinter der Chirurgie entlang laufen. Den Geruch der Räumlichkeiten der Ambulanz wahrnehmen, die immer noch nach Neubau riecht, obwohl das rote Gebäude mittlerweile schon einige Jahre alt ist.
Im Wartebereich die Beine übereinander schlagen, die Jacke und den Schal ausziehen. Es ist generell überheizt dort. Irgendwann das rasch aufeinander folgende Klackern von Schuhen und kurz darauf ein vertrautes „Frau Mondkind…?“
Fühlen, wie sie langsam von meinen Schultern rutscht – die Schwere. Und einem Gefühl von Sicherheit Platz macht. Es kann nichts passieren für die nächste Stunde. Ich muss keine Wände in mir aufstellen. Ich muss nicht um gutes und sicheres Auftreten bemüht sein, ich muss nicht so tun, als hätte ich es alles schon hundert Mal gemacht – bei völliger Ahnungslosigkeit. Es gibt niemanden, der das Außen bewertet. Zusammenfallen ist für diese kurze Zeitspanne okay.
„Sie dürfen mal für eine Stunde Sie selbst sein. Und auch die weniger guten Seiten dürfen ans Licht und zu Ihnen gehören. Für Sie ist das so eine kleine Oase“, fasste der Seelsorger kürzlich zusammen. „Vielleicht…“, entgegnete ich, „Das gibt es jedenfalls nur sehr selten – diesen Zustand in dem ich da bin. Und bald vielleicht gar nicht mehr.“ „Jetzt verstehe ich Ihr Problem im neuen Jahr“, sagte er, „Sie wissen nicht, ob selbst diese kleinen Oasen auch noch wegfallen werden.“ Er verstehe, wie wichtig diese Termine für mich sind – beinahe essentiell. Und dass ein Ausfallen – von wessen Seite auch immer – eine Katastrophe ist. Es darf jetzt einfach mal so sein, sagt er.

Heute gibt es das nicht. Diesen Streckenposten, der so lange sichtbar dort stand – aber dann gab es doch noch einen seitlichen Pfad durchs Unterholz, der gegangen werden musste. Stattdessen warten noch zwei LPs auf mich und ein Wochenende, das mit Lernen gefüllt sein wird. Und am Montag eine Prüfung.



16:30 Uhr.
Mit dem Chef war ich am Nachmittag noch eine Stunde bei der Myasthenie – Patientin gewesen. Zwar haben wir immer noch keine Beweise, dass sie die Krankheit hat, aber es ist nach der Anamnese und der klinischen Untersuchung, die der Chef nochmal in aller Ausführlichkeit gemacht hat, sehr wahrscheinlich.
Nur der Oberarzt ist nicht so begeistert davon. Wenn wir keinen EMG – Befund und keine Antikörper haben, ist das zu heiß, sagt er. Eigentlich würde ich es trotzdem gern machen – einfach, weil mich das jetzt selbst so interessiert. Aber ich weiß nicht, wie der ärztliche Direktor am Montag so gestimmt ist und ich scheue mich, dass es dann wieder Vorwürfe gibt. „Das Desaster hätten wir ja jetzt nicht, wenn Du Dir eine vernünftige Patientin ausgesucht hättest“, sagt er dazu nur.

Ich weiß nicht, was während des kurzen Gesprächs dort unten mit mir passiert. Vielleicht ist es einfach, dass ich so eine Strenge von ihm nicht gewohnt bin. Bisher hat es ihn immer interessiert, wie es mir mit dem was im PJ passiert, geht. Vielleicht hat der Seelsorger Recht und die Schwere ist eigentlich ein ganzes Konglomerat von Gefühlen. Und gerade merke ich, wie mich das überschwemmt und mir die Tränen schon wieder in den Augenwinkeln stehen. „Ich gehe dann mal wieder hoch“, erkläre ich.
Irgendwie verändert sich unsere Beziehung langsam glaube ich. Durchfallen war dafür einfach wenig förderlich. Vielleicht hat er mich ja tatsächlich für so kompetent gehalten, wie er das überall erzählt hat. Und musste jetzt selbst feststellen, dass es einfach nicht stimmt. Und dass es der Klinik vielleicht nicht unbedingt einen Gewinn bringen würde, wenn ich dort anfangen würde zu arbeiten.

Auf dem Weg läuft mir noch der Oberarzt der Stroke Unit über den Weg. „Warum bist Du deprimiert Mondkind?“, fragt er. „Es ist alles okay“, bemühe ich mich schnell zu sagen. Aber weiter als bis ins Arztzimmer schaffe ich es wirklich nicht mehr. Ich glaube, ich habe tatsächlich noch nie geweint auf der Neuro. Es war draußen auf der Station noch nie so schlimm, dass die Wände eingefallen sind. Aber in Kombination mit der fehlenden Therapiestunde, bin ich wahrscheinlich komplett überreizt. Der Stationsoberarzt sitzt im Raum. Ein bisschen baut er mich auf. Erzählt nochmal alles Wichtige über Parkinson, was ich kaum mitbekomme, weil ich damit beschäftigt bin, die Fassade wieder aufzustellen. Montag hat er Urlaub – also kann er mich in der Prüfung schonmal nicht unterstützen, wenn ich hänge.

Vor mir das nächste Wochenende. Ich habe von diesem Parkinson – Patienten, den ich da nehmen soll, keine Ahnung. Und Vorbriefe gibt es auch nicht. Das wird eine Katastrophe –die ganze Krankheitsgeschichte ist mir vollkommen unbekannt. Es hieß immer nur: "Wenn es am Ende als Notlösung doch Parkinson werden soll, kann man den nehmen."
Ich werde wohl morgen im Krankenhaus sein, mir die weißen Klamotten über werfen und mit ihm reden.

Ansonsten… - erster Advent. Das komplette Krankenhaus ist schon weihnachtlich. Und ich kann das einfach nicht. Ganz am Ende steht man eben doch alleine da. Es gibt keinen, der die langen Wochenenden mitaushält. Der die Schwere ein bisschen von meinen Schultern nehmen kann. Der einfach mal bleibt. Gehen muss ich den Weg allein. Andere können nur hin und wieder ein Stück mitgehen. Und weil das wahrscheinlich ziemlich anstrengend mit mir ist, können die meisten das nur für eine begrenzte Zeit.

Kurz bevor ich gehen will, flattert noch eine Mail der Therapeutin in den Briefkasten. Ich hatte sie gefragt, ob sie etwas vom Psychiatrie – Oberarzt gehört hat und ob sie gegebenenfalls nochmal nachfragen könnte. Das hat sie wohl schon Montag getan und immer noch nichts gehört. Die Erfahrung ist: Wenn Mails eine Woche unbeantwortet geblieben sind, wird das meist auch nichts mehr. Ich soll ihm selbst nochmal schreiben. Aber was soll das bringen? Irgendeinen Grund wird er haben.
Vermutlich wird das also nichts, nach dem Examen nochmal in die Klinik zu gehen. Ich habe einfach keine Lust, mit einem neuen Team nochmal komplett von  vorn anzufangen und mich wieder ewig lange rechtfertigen zu müssen. Ich glaube, man muss mich halt eine Weile kennen, um da ein bisschen durchzusteigen. Es macht eben einen gewaltigen Unterschied ob einen die psychische Krankheit irgendwann aus dem Leben gerissen hat und man da ziemlich orientierungslos in der Klinik ankommt. Oder, ob das schon so lange da ist, dass ich vorerst irgendwie gelernt habe, damit zu leben, weil ich sonst einfach gescheitert wäre, was absolut nicht erlaubt und damit unter allen Umständen zu verhindern war. Er hat es dem Team immer wieder erklärt und dennoch hat es mich nicht vor unfassbar langen und sinnlosen Gesprächen geschützt, was denn eine Medizinstudentin, die bis dahin in Regelstudienzeit war, in der Psychiatrie sucht.

Und am Ende des Tages steht sie wieder. Die Frage, wie es weiter gehen soll. Ob das wirklich Jahre so weiter gehen kann, wenn es alle paar Wochen das gleiche Spiel ist. Und wie lange ich das noch aushalten werde. Ich weiß es selbst nicht. Und ich hoffe, dass ich einen Weg finde, bevor es zu viel wird.

Mondkind

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