Ein paar Schmankerl und ein Kapellen - Gespräch


Irgendwie ist es doch immer so. Kaum bin ich auf einer Station so richtig angekommen, muss ich auch schon wieder weiter. Mittlerweile fühle ich mich einigermaßen wohl und akzeptiert. Mit den Patienten habe ich auch noch das ein oder andere Erlebnis gehabt diese Woche.

Zuerst hatte ich einen Alkoholiker bei mir liegen. Bei der Chefarztvisite kommen wir natürlich auch darauf zu sprechen. „Wie viel trinken Sie denn pro Tag?“, fragt der Chef. „Naja, so 1,5 Liter Schnaps bestimmt.“ Ehrlich gesagt wusste ich gar nicht, dass man so viel trinken kann, ohne komatös zu werden. „Was Sie zuerst mal machen müssen, ist ein Entzug“, redet sich der Chef in Fahrt. „Einen Entzug müssen Sie machen in einer dafür geeigneten Klinik. Haben Sie das schon mal gemacht? Einen Entzug?“ „Schon oft…“, gibt der Patient zurück. „So zum Spaß…“ Ich dachte, mir fallen die Ohren ab.
Auf der einen Seite tut mir der Patient unglaublich leid. Er hat schon so viele Folgeschäden in seinem jungen Alter – aber was will man bei so einer Einstellung erreichen? Und dass wir seine Polyneuropathie mit teuren Immunglobulinen behandeln, ist eigentlich überhaupt nicht gerechtfertigt, weil der Alkohol die Nerven schneller schädigt, als die Immunglobuline das aufhalten können. Wir können da so viel von dem innovativen Zeug rein schmeißen, wie wir haben – es wird nichts nützen.

Ich bin mittlerweile bei meiner dritten Lumbalpunktion angekommen. Ein Mann, Mitte 30, den ich irgendwie schwer einschätzen kann. Er gibt sich sehr selbstbewusst und ziemlich distanzgemindert und gerade die jungen Mädels – ob nun Studenten oder Schwesternschüler – meint er herum kommandieren zu können. Oder er steht einfach so im Arztzimmer – auch schon vorgekommen.
Ich soll alles vorbereiten und meinen Kollegen anrufen, wenn ich bereit zum Stechen bin. Während ich mich abmühe, das Bett im Raum so zu platzieren wie ich es brauche, bleibt er mit überschlagenen Beinen darauf liegen und kommentiert: „Na dann lasse ich mich mal von Ihnen durch die Gegend schieben.“ „Wie lange muss ich denn nach der Punktion im Bett liegen?“, fragt er. „Zwei Stunden“, gebe ich zurück. (Eigentlich ist in keiner einzigen Studie bewiesen, dass das postpunktionelle Syndrom dadurch verhindert werden kann, aber ich habe keine Lust mit ihm zu diskutieren). „Aber zum Rauchen darf ich doch aufstehen?“, fragt er. „Nein eigentlich nicht. Zur Toilette gehen dürfen Sie, aber sonst nichts.“ „Jetzt sei nicht so streng – ich frage gleich nochmal den Arzt“, sagt er. Ich nehme das gar nicht so ernst – vielleicht weil ich persönlich mich nie trauen würde, so etwas zu fordern.
Nach zahlreichen Minuten weiterer Diskussion kommt schließlich der Assistenzarzt, ohne dass ich bis dahin geschafft hätte, ihn anzurufen. Auch der erklärt ihm, dass er zwei Stunden liegen muss. „Okay, dann gehe ich aber vorher rauchen“, sagt er, „das dauert sieben Minuten, solange können Sie doch wohl warten.“ Mein Kollege lässt ihn gehen. Wenn es damit nur schon getan wäre.
Wieder zurück, darf ich mit der Punktion beginnen. Schon bevor ich ihn mit der Nadel berührt habe, hüpft er halb vom Bett. Während ich die Quincke – Nadel vorsichtig weiter vorschiebe, bekommt der Patient Atemnot. Mein Kollege versucht ihn zu beruhigen, aber es ist zum Verzweifeln. Und ich – als Anfängerin – frage mich, weil ich es noch nicht ganz einordnen kann, was da gerade los ist - ob ich irgendwo rein gestochen habe, er jetzt einen massiven Unterdruck im Kopf hat und es zu einer Einklemmung der zentralen Atemregulation kommt. Im Nachhinein ist der Gedanke auch abenteuerlich, aber in dem Moment wusste ich nicht, wer von uns beiden mehr zittert – der Patient oder ich. Wir schaffen es nur vier Röhrchen, statt der üblichen fünf abzunehmen – danach haben wir beide Angst, dass der Patient von der Liege hüpft. Der Kollege bedeutet mir mit einer Handbewegung die Nadel raus zu ziehen.
Während der Arzt den kaltschweißigen und blassen Patienten beruhigt, der jetzt auch noch über Herzschmerzen klagt, rase ich los und hole Blutdruckmanschette, Stethoskop und das EKG - Gerät.
Und als der Patient ruhiger wird und alle Vitalparameter sich normal darstellen, fällt auch von mir sichtlich die Spannung ab. „Jetzt hattest Du aber ganz schön Angst“, kommentiert der Patient zu mir gewandt. In dem Moment könnte ich ihn echt an die Wand klatschen. Aber es scheint ihm wohl wieder gut zu gehen, schließe ich aus dem Kommentar. Wenigstens etwas…

Mein Blick über den Campus, wenn ich abends nach Hause laufe...

Für die dritte erfolgreiche (!) Lumbalpunktion wurde jetzt doch mal ein Kuchen fällig...

Letztes Schmankerl war heute am späten Nachmittag. Wir haben eine Patientin bei uns, die zwar mittlerweile alkoholabstinent ist, aber eine Reihe von Folgeschäden hat – unter anderen eine Enzephalopathie. Vor ein paar Tagen hat die Entzugsklinik sie in einem geschickten Schachzug zu uns verlegt – zurück nehmen wollten die sie aber nicht. Bei uns zeigte sie sich eigentlich sehr friedlich. Bis heute Nachmittag, als sie mit ihrem Rollator um 15 Uhr im Arztzimmer steht – völlig psychotisch. Sie erzählt, dass wir auf irgendeinem Schiff seien, wir durch die Finger pfeifen müssten, sonst würde etwas Schlimmes passieren. Wir seien irgendwo in den 1920ern und jemand wolle das Schiff kapern. Es ist erschreckend. Ich kenne die Frau völlig klar. Wir versuchen sie mit Medikamenten zurück ins Jetzt zu holen, aber sie hat Angst vergiftet zu werden und spuckt die Medikamente wieder aus.
Was machen wir jetzt, ist die Frage. „Wenn sie denkt, dass sie auf einem Schiff ist – nicht, dass sie auf die Idee kommt ins Wasser zu springen und aus dem Fenster hüpft“, sagt eine Kollegin. „Eigentlich können wir eine Eigengefährdung nicht ausschließen und wir können die hier nicht überwachen. Und das können wir jetzt auch nicht dem Dienstarzt andrehen – der ist die ganze Nacht nur mit ihr beschäftigt und morgen ist Wochenende, da ist auch nur der Dienstarzt da.“
Da hat man zum Freitag nicht viele Möglichkeiten. Polizei anrufen und Verlegung in die Psychiatrie ist der Tenor. „Mondkind, ich habe zugegebenermaßen eine echt blöde Aufgabe für Dich“, sagt eine Assistenzärztin. „Gehst Du bitte zu der Patientin und passt auf, dass sie nicht wegläuft?“ Sitzwache also… Zwischendurch ist die Patientin hin und wieder auch mal etwas klarer und schlägt selbst vor, zu packen.
Währenddessen ruft mich mein Neuro – Oberarzt an. „Du Mondkind, mich hat da gerade so… - also so ein Mensch angerufen, mit dem Du Dich gleich noch treffen möchtest. Er hat mir gesagt, es wird eine viertel Stunde später.“ Das kann nur der Seelsorger gewesen sein. Langsam kriege ich die Krise mit dem.

Nachdem die Patientin abgeholt worden ist und bis dahin zwar zwischenzeitlich in ihrem Film war, den ich mitspielen musste, um sie führbar zu halten, aber es sonst erstaunlich unkompliziert war, laufe ich nochmal runter zum Büro meines Oberarztes. „Es tut mir leid, dass der Seelsorger Sie ständig anruft. Ich muss das mal besprechen…“, sage ich. Der Oberarzt lächelt. „Ach Mondkind…“, sagt er. „Ich weiß nicht, ich finde das ehrlich gesagt ein bisschen indiskret…“, erkläre ich. „Ich meine bei Ihnen ist das gerade noch so okay, Sie wissen es ja sowieso, aber er kann doch nicht ständig bei allen möglichen Leuten wegen mir anrufen.“ „Eigentlich kann er sich ja auch über die Rezeption verbinden lassen“, sagt der Oberarzt.
„Ich hoffe, es bringt zumindest ein bisschen was. Das wäre jetzt vor dem Wochenende ganz nützlich“, erkläre ich. Irgendwie ist da so unfassbar viel Druck in mir. Ich ahne, dass der Seelsorger das nicht versteht, weil wir an dem Thema schon mal gescheitert sind. „Ist alles okay Mondkind?“, fragt er. „Naja…- nein“, sage ich. Er möchte wissen, was los ist. „Ich weiß es ja selbst nicht genau ehrlich gesagt. Manchmal glaube ich, dass es immer kurz nachdem es auf Arbeit gut läuft und ich mich da ziemlich selbstsicher fühle, knallt. Das merke ich halt kurz vorher und ich hoffe, ich kann es noch abwenden. Das ist halt jedes Mal dieser „Gap“, der dann zu groß wird. Ich kann das ja nachvollziehen, dass mich die Leute teilweise für eine Simulantin halten und ich deshalb schon mit vielen Psychiatern aneinander gerasselt bin. Weil es eben diese zwei Welten gibt. Die Berufswelt, in der ich das alles sehr gut hinbekomme und mein eigenes Privatleben, das ich gar nicht auf die Kette bekomme. Und der „Gap“ wird ja immer größer. Ich bekomme hier viel positive Rückmeldung, vielleicht bin ich in zehn Jahren mal Oberärztin und dann – sobald ich alleine mit mir bin, erschlägt mich diese Negativität immer so.“ „Und was passiert dann?“, will er wissen. „Naja“, sage ich und lasse eine lange Pause, „dann kommen halt jedes Mal die Suizidgedanken. Also bis zu einem gewissen Grad habe ich es ja immer, wobei es streckenweise wirklich nur ein „Warum mache ich das alles?“ ist. Aber in solchen Zeiten laufe ich wirklich nachts mein Zimmer auf und ab, ich bin einfach nur total unruhig und vielleicht ist das auch nur die Angst, weil ich mich selbst für nicht mehr zurechnungsfähig halte...“
Er möchte wissen, wie oft das passiert, ob ich einen Plan habe, ob ich schon Versuche hinter mir habe. Ich beantworte es ihm alles ehrlich. „Redest Du mit wem darüber?“, fragt er. „Eigentlich nicht“, erkläre ich, „meine Therapeutin würde mich sofort einkassieren und was wollen Sie denn Freunden erzählen? Die machen sich doch auch nur Sorgen. Und ehrlich gesagt kann ich es Ihnen eigentlich auch nicht erzählen, aber es macht mich so fertig, weil das jedes Mal so anstrengend ist…“
„Mondkind… - ich glaube darüber zu reden kann ein bisschen Licht in diese dunklen Ecken in Dir bringen, in denen ich Dich da manchmal verliere. Und dafür bin ich auch da.“ „Ja, darüber zu reden hilft wirklich. Wie Sie schon mal gesagt haben… - es nimmt etwas von dem Schrecken.“ „Kannst Du mit dem Seelsorger darüber reden?“, fragt er. „Naja, so lange kenne ich den jetzt noch nicht…“, erkläre ich. „Dann kommst Du damit zu mir“, sagt er. Und ich bin ihm dafür einfach nur unendlich dankbar.
Plötzlich klingelt das Telefon. Der Neuro – Oberdoc schaut drauf und hält es in meine Richtung. Schon wieder der Seelsorger. Wir schmunzeln nur beide, bevor er dran geht. „Ja, die sitzt hier gerade neben mir, ich reiche Sie mal weiter.“

Wenige Minuten später stehe ich dann beim Seelsorger vor der Tür. Seine Verteidigung der Telefonaktion ist übrigens: „Ich habe Ihre Nummer schon, aber ich hatte sie gerade nicht griffbereit…“ Ich glaube, es hackt…
Auch ihm erzähle ich, dass es seit der Reise in die Studienstadt ziemlich kippelt. Weil ich es doch irgendwie geschafft habe aus dieser Familie. Aber noch nicht in ein Leben. Weil da so viel Einsamkeit bleibt. Und so viele Fragen ohne Antworten.
Wir bleiben schon recht früh dabei hängen, dass mich die Situation dort häufig aggressiv macht und ich aufgrund dessen ein schlechtes Gewissen habe. Denn die brauchen doch alle auch Hilfe. Keiner macht es mit Absicht. Und Aggression führt nur wieder zu Aggression – das bringt gar nichts.
Ich erzähle viele Dinge, die ich ihm noch gar nicht erzählt habe. „Sie sehen aber schon, dass das System ziemlich krank ist“, sagt er irgendwann und ist ein bisschen erschrocken über die Zustände. „Ja und wenn krank sein eigentlich verboten ist, ist das ein unfassbares Problem“, sage ich. Das glaube er.
Wir reden heute viel darüber, dass ich die Aggression zwar in mir habe und er meinte auch, er hat sie gespürt, während ich geredet habe, aber ich sie nicht so ganz fühle. Ich soll einen Weg finden, Sie auszudrücken. Nicht nur durch Schreiben, sondern auch durch Musik zum Beispiel oder Bewegung.
Auch um die Anorexie ging es eine Weile. Dass meine Schwester mittlerweile sehr tief drin hängt und das für mich immer schwer ist. Einerseits kann ich nicht verstehen, wie man keine Hilfe annehmen kann, andererseits kenne ich die Gedanken, weil ich selbst betroffen war. Und so langsam wird meine Theorie dahinter, dass ich, als die Anorexie besser wurde, tiefer in die Depression gerutscht bin. Und statt mal wütend auf das zu sein, das hier in den letzten Jahren passiert ist, beziehe ich das auf mich selbst, frage mich, warum ich die anderen nicht retten konnte, bekomme ein schlechtes Gewissen und dann geht es mir noch schlechter, obwohl ich diejenige bin, die es am weitesten dort raus geschafft hat. Und dann wird der „Gap“ wieder zu groß und dann kommt die Suizidalität wieder ins Spiel. Die Theorie versteht er nicht ganz; er lässt sie mich auch nicht zu Ende erklären. Auch nicht, dass ich mit diesem „Gap“ nicht zurecht komme. Den habe jeder. Und ich solle doch einfach den Arztkittel mit nach Hause nehmen und dann zu Hause auch ein wenig dieser fürsorgliche Teil sein, der ich für meine Patienten bin. Irgendwo kann ich den Gedanken nachvollziehen. Nur manchmal brauche ich halt wirklich jemanden, der mich in den Arm nimmt. Der das einfach mal mit mir zusammen aushält. Der vielleicht gar nicht mal unbedingt etwas sagt. Der einfach nur neben mir sitzt. „And when it all gets to much – put your head down on my shoulder“ – so hat Westlife das schon vor mehr als zehn Jahren gesungen. Und schon damals hatten diese Zeilen eine besondere Bedeutung für mich.

Ich sehe zu, wie es ich durchs Wochenende schaffe. Da ich letztes Wochenende nicht da war, ist einiges liegen geblieben und ich wollte mich auf die Epilepsie – Station vorbereiten. Wobei der Neuro – Oberdoc mir heute gesagt hat, dass die nächste Woche auf der Stroke so viel Personalknappheit haben, dass sie überlegen mich einzuspannen. Aber dann habe ich wahrscheinlich ziemlich viel Verantwortung. Und ich muss zeigen, dass ich etwas gelernt habe – das stresst mich…

Allen Lesern einen guten Start ins Wochenende!
Mondkind

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