Letzte Therapiestunde vor dem Examen
Hier bin ich,
Fühl mich gefangen in mir selbst
Siehst Du mich?
Lass mich doch mutig sein und stark
Ich weiß genau noch ist es Zeit
Muss an mich glauben, bin bereit
Den Weg zu gehen
Kann ich die Zeit auch nicht mehr zurückdrehen
Der Wahrheit muss ich ins Gesicht sehen
Ich reiß die Mauern ein
Und werd die Angst besiegen
Lebte nur für die Träume
Ich dachte, dass ich was versäume
Wohin der Wind sich auch für mich dreht
Es ist noch nicht zu spät.
(Blindflug - es ist noch nicht zu spät)
Die Therapeutin sagt, man soll schreiben. Sagt sie ja eigentlich nie.
Aber machen wir dann wohl heute mal. Weil wir positive Erkenntnisse der Stunde
festhalten sollen.
Na dann…
Fokus. Fokus auf die Bücher. Und zwar nur noch auf die Bücher.
Links und rechts ausblenden.
Die Familie, die mich nach dem Examen durch halb Deutschland schicken
will. Genauso wie letztes Jahr. Aber diesmal weiß die Ambulanz Bescheid.
Mein Vater der meint, dass ich mir um ein Fortbewegungsmittel in der
Ferne Gedanken machen soll.
Das Badezimmer, das jeden Tag ein größerer Graus wird. Aber man soll
darin ja nicht wohnen. Muss jetzt gehen für zwei Wochen.
Die Angst was passiert, wenn ich es nicht schaffe. Was der Neuro –
Oberdoc dann von mir denkt.
Die Angst vor allem, das dann generell so passiert. Das klang so gut,
da unten in diesem Keller. Ich auf dem grünen Stuhl, er übereck. Jetzt ist es
nur noch Chaos. Weil das einfach etwas anderes ist, es ganz alleine machen zu
müssen.
Es ist noch nicht zu spät. Es sind noch ein paar Tage. Und diese Tage
sollen möglichst mit wenig Panik und viel Lernen gefüllt sein. Nicht mehr so
viele Zusammenbrüche.
Weil man auch Lernen muss, dass das eigene Denken nicht der Realität
entspricht. „Das macht Sie nicht zu einem schlechteren Menschen, wenn Sie durch
diese Prüfung fallen“, erklärt die Therapeutin. „Und ich bin mir sicher, dass
Ihr Oberarzt das auch so sieht.“ „Naja, was soll er sagen?“, entgegne ich. „Er
weiß ja, dass das für mich die Katastrophe war, da muss man ja nicht noch drauf
hauen…“ „Ja, aber er hat sich doch da sehr viel Mühe gegeben“, erklärt die
Therapeutin. „Ja, er kam später dann nochmal zu mir ins Büro und hat nach mir
geschaut…“, gebe ich zu bedenken. „Und das hätte er nicht mehr tun müssen…“,
sagt die Therapeutin.
Und es ist ja auch nicht so, dass es Gesetz ist, dass man hier keinen
Sommer mehr verleben kann und in der Ferne alles besser wird. Vielleicht kann
man hier mit vielen Hilfen sogar einen ganz guten Sommer verleben. Und in der
Ferne wird auch nicht alles bestens laufen, wenn ich dann zwar in einer alten
Umgebung, aber mit neuem Job und ohne Therapeutin stehe.
Die Prüfung hängt eben auch von den Umständen ab. Die ich nicht kenne.
Wie starte ich überhaupt mit der Patientenvorstellung? Mit dem internistischen
Befund, weil ja immerhin ein Internist dabei ist, oder trotzdem erstmal so, als
wäre es ein ganz normaler Neuro – Patient? Wie sehen hier die Briefe auf der
Neuro aus? So wie ich es mache, ist es sicher nicht falsch, entspricht aber
vielleicht nicht den Standards hier. Mit den zwei Punkten kann man schon eine
Menge vergeigen, ohne dass der Prüfer überhaupt etwas über das etwaige Wissen
und Nichtwissen mitbekommen hat.
Ja, die Lernzeit war blöd. Wahrscheinlich waren das einfach die
härtesten vier Monate der vergangenen Jahre. Weil da einfach so viel Angst ist.
Weil das Ende des Studiums eine Chance ist und gleichzeitig ein Ende. Und weil
ich es im Moment eher als Ende sehe. Weil ich einfach nicht mehr kann. Und
nicht mehr will. Zwar gibt es jetzt Menschen in meinem Leben, die es scheinbar
wirklich gut mit mir meinen, aber ich kann und will darauf nicht vertrauen.
Weil da zu viel Angst ist, wieder zu verlieren. Und alleine schaffe ich es auch
nicht mehr.
Aber man kann es noch retten. Man kann noch so viel retten, wenn man
jetzt einfach noch zwei Wochen lernt. Und darauf vertraut, dass ich mir selbst
und andere Leute mir ein Netz gebastelt haben.
Und wenn man in der Prüfung irgendwie die Nerven behält. „Ich habe mir
schon überlegt, dass ich dann vielleicht einfach mal ganz kurz die Augen
zumache, mir vorstelle auf der mittlerweile „alten“ Stroke Unit mit dem
furchtbar hässlichen froschgrünen Fußboden zu sein und so tue, als würde ich
den Patienten meinem Oberarzt vorstellen. Wie ich es unzählige Male gemacht
habe.“
Das findet sie gut.
Ich spreche die Bescheinigung vom Hausarzt an, die ich für die
Beantragung der Approbation noch besorgen muss. Mittlerweile habe ich zwar
einen Termin einige Tage nach dem Examen, aber das muss man schaffen. „Dann
sollten Sie das bis dahin durchhalten…“, merkt die Therapeutin an. „Sollte ich…
- ja. Und ich habe Angst, dass es nicht mehr geht. Und deshalb ist es
wahrscheinlich vorher nicht die beste Idee, hier in der Ambulanz aufzuschlagen,
obwohl ich absolut keinen Plan habe, wie es mir nach dem Examen geht, wenn
alles was ich jetzt schiebe, dann präsent werden muss und darüber hinaus die
Frage besteht, ob ich das überhaupt noch will…“
„Ich habe mit dem Neuro – Oberdoc gesprochen…“, gebe ich kleinlaut zu
bedenken. „Und was hat der gesagt…?“, fragt die Therapeutin. „Naja, es ist mir
richtig unangenehm gewesen, weil der auch mal mitbekommen soll, dass nicht
alles mit mir immer schwierig ist, aber ich habe ihn gefragt, ob ich sonst auch
erstmal mit einem Hospitantenvertrag anfangen kann, wenn ich das nicht mehr
schaffe und die Approbation erst nach der Klinik beantragen kann. Er hat
gesagt, dass es geht. Obwohl es natürlich blöd ist, weil ich nicht so richtig
Geld verdiene, aber in den Katakomben der Reha – Klinik wird man schon ein
Zimmer finden und dann kann ich zumindest planmäßig anfangen… Natürlich sollte
das nicht passieren…“
„Das kann schwierig werden nach dem Examen“, erklärt die Therapeutin.
Und deshalb bastelt sie mir ein Netz. Ich darf sie anrufen. Direkt Freitagfrüh
nach dem Examen. Und dann können wir entscheiden, ob ich vorbei komme oder ob
es besser ist, den organisatorischen Kram zu regeln, wenn ich mich noch im „Funktionier
– Modus“ halten kann. Nur Freitagnachmittag nicht darf ich nicht mehr anrufen,
weil man mich kurz vor dem Feierabend nicht mehr so einfach in die Klinik
verfrachten könne.
In der Woche danach gibt es dann den Termin. Und dann – dann hat das
vielleicht alles ein Ende.
„Ich denke in den beiden Tagen an Sie…“, erklärt die Therapeutin.
„Danke, das ist lieb…“, entgegne ich. Und vielleicht denke ich dann
auch an die Therapeutin zwischendurch, an die Ambulanz und daran, dass es
vorbei ist, wenn ich sie wieder sehe oder höre und dass ich das Ding verdammt
noch mal bestanden haben will.
Ich ziehe die Tür hinter mir zu. Nehme bewusst den Klang der Schuhe
auf dem Boden wahr. Gehe an der Rezeption vorbei. „Das nächste Mal wenn Du hier
bist Mondkind, ist alles anders…“, denke ich mir. „Aber Du bist sicher. Bis zum
Examen gibt es den Deal mit Dir selbst, Dich nicht umzubringen und danach musst
Du, wenn es ganz schlimm wird, 15 Stunden überbrücken. Das ist machbar. Und es
wäre doch schön, wenn Du dann hier auftauchen würdest und zwar nicht weißt, wie
das alles weiter gehen soll, aber zumindest objektiv betrachtet eine riesige
Hürde weniger vor Dir hast. Also gib alles. Und der Moment in der Ambulanz, der
kommt auf jeden Fall – vielleicht hilft das auch in der Prüfung. Auch wenn es
alles blöd läuft und Du Dir vorkommst, wie der letzte Idiot. Es sind die
letzten Stunden. Und so generell - in
knapp zwei Wochen darfst Du loslassen.“
Die Therapeutin hat übrigens erklärt, dass es kein Versagen ist,
wieder in die Klinik zu gehen. Vielleicht war man dann einfach noch nicht so
weit. Vielleicht braucht es dann nochmal einen Schubs. Und vielleicht… -
vielleicht wird es danach ja wirklich mal ein bisschen einfacher.
Und dann… - dann kommt man mit ein bisschen Zuversicht von der
Therapie nach Hause. Schaut in den Briefkasten, weil man eigentlich endlich mal
den Brief vom Landesprüfungsamt erwartet oder zumindest den Hinweis, dass man
ihn doch auf der Post abholen möge.
Stattdessen findet man einen Brief von den Stadtwerken. Nachdem meine
Mitbewohnerin das letztes Jahr nicht als nötig erachtet hat, mir mitzuteilen,
dass sie den Stromvertrag hat und ihn kündigt wenn sie auszieht, hatte ich den
schnell übernommen. Immerhin gab es eine Mahnung und die Ankündigung den Strom
abzudrehen, weil keiner mehr bezahlt hat.
Trotz meiner Nachfrage hat das Studentenwerk den nicht übernommen –
obwohl mir die Hausverwaltung ja im April erklärt hatte, dass ich den wieder
ans Studentenwerk geben kann. Ich war auch ein paar Mal da innerhalb der
letzten Wochen – immer mal wieder, wenn es gerade mit anderen Terminen gepasst
hat. Aber es war krankheitsbedingt ständig keiner da und im Moment habe ich
halt anderes zu tun.
Und jetzt… - jetzt habe ich hier die Rechnung liegen. Über 500 Euro
wollen die nachgezahlt haben. Was haben die hier alle gemacht…? Und das, wo ich
ohnehin keine Ahnung habe, wie ich das bis Oktober alles finanzieren soll. Über
Fianzen solle man sich nach dem Examen Gedanken machen, erklärte die
Therapeutin.
Aber wenn es darum geht, ob man das Dach über dem Kopf bezahlen kann…
- dann auch?
Nach dem Examen bricht dann wohl alles zusammen. Hoffentlich
wenigstens in der Klinik. Wenn ich irgendwann nicht mehr alleine bin mit dieser
ganzen Scheiße. Anders kann man es halt nicht nennen…
Und jetzt… - zurück an die Bücher. Weil Fokus… Fokus auf die Bücher.
Mondkind
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