Über die Ambivalenz und das Problem, ernst genommen zu werden


„Mondkind, das hätte ich nicht gemacht. Da wird er sich mit Sicherheit nicht beeilen. Wer noch 500 Kilometer durchs Land fahren kann, um sich eine Wohnung anzuschauen, kann auch noch ein paar Wochen auf einen Klinikplatz warten…“, erklärt ein Freund.

„Ich habe auch überlegt, ob ich fragen soll – vielleicht war es wirklich ein bisschen dumm“, entgegne ich. „Eine Antwort habe ich ohnehin nicht bekommen…“

Es geht darum, dass ich den Psychiatrie – Oberarzt in der Mail gestern gefragt habe, ob ich wohl Anfang der Woche noch eine Wohnung im zukünftigen Arbeitsort anschauen kann. Und gleichzeitig erwähnt habe, dass ich dankbar wäre, wenn es schnell ginge mit dem Klinikplatz. Das klingt vielleicht tatsächlich etwas merkwürdig – ich sehe es ein.
Ich weiß eben nicht, was bei denen „schnell“ ist. Ob es eher Tage oder Wochen sind.
Und so generell wäre ich eben wirklich dankbar, wenn man mich jetzt bald einfinge.

Für mich schließt sich das beides übrigens nicht aus – deswegen habe ich auch zu wenig darüber nachgedacht. Aber ich weiß, dass es das für die meisten Psychiater durchaus tut. Was auch der Grund ist, weshalb ich mit den Meisten aneinander rassle.
Nicht selten hört man nämlich: „Naja, wenn Sie dieses oder jenes noch tun können, kann es ja nicht so schlimm sein…“

Ich habe das auch alles ganz lange nicht verstanden. Mich selbst nicht. Bis mir der Neuro – Oberdoc und der Seelsorger da so einige Dinge erklärt haben.
Bei mir war es eben nicht so, dass ich in die Krankheit irgendwann ganz unerwartet und plötzlich rein gerutscht bin und von heute auf morgen nichts mehr auf die Reihe bekommen habe. Natürlich gibt es auch bei mir bessere und schlechtere Zeiten, aber vom Prinzip her bin ich damit aufgewachsen.

Es gab immer zwei Seiten.
Die eine Seite war ich selbst, die sehr früh alles in Frage gestellt hat und die meisten Dinge ziemlich sinnlos fand. Schon mit 12 Jahren habe ich das Leben in Frage gestellt, wenn die Lebensqualität so schlecht bleibt, wie sie das zu dem Zeitpunkt war. Und Besserung war nicht in Sicht. Ich war auch lange der Meinung, dass ich das Ende der Schulzeit nicht überleben werde. Danach konnte einfach nichts mehr kommen. Das „Glück“, dass ich das dennoch überlebt habe, habe ich meinem Philosophielehrer zu verdanken. Er war der erste Mensch, dem ich ständig versprechen musste, mir nichts anzutun.
Und dann war da eben immer noch die andere Seite. Meine Schwester und ich waren noch in der Grundschule, als wir uns ständig anhören mussten: „Wenn Ihr nicht lernt, dann müssen wir Euch auf die Hauptschule stecken. Und wenn Ihr dann nicht lernt, dann habt Ihr keinen Abschluss und landet unter der Brücke…“ Ich muss wohl nicht erwähnen, dass eigentlich von Beginn der Notenvergabe in der zweiten Klasse klar war, dass wir mal auf das Gymnasium gehen werden. Die Debatte um die Hauptschule hat für alle Lehrer zu keinem Zeitpunkt bestanden – nur unsere Eltern hielten diese Mahnungen immer wieder für angebracht. Auch sonst hatte man auf Zack zu sein. Ich habe mich schon früher über Mittag gern mal eine Stunde aufs Bett gelegt. Aber wehe dem, man wurde dort erwischt.
Und ganz ehrlich… - was macht das mit 9 – jährigen Kindern? Seitdem lief bei jeder schlechten Note, bei jeder Aktivität, die man eigentlich hätte tun müssen und nicht getan hat die Angst mit: „Mondkind – Du musst… - weil sonst – sonst landest Du unter der Brücke…“

Dass es zumindest in Deutschland noch ganz viele Chancen gibt, hat meiner Schwester und mir natürlich keiner erzählt. Dass man theoretisch sogar mit einem Hauptschulabschluss Medizin studieren kann. Es ist halt sehr viel aufwändiger, dauert sehr viel länger und irgendwann muss man eben wirklich anfangen, sich dadurch zu beißen – aber eine vier in einer völligen unwichtigen Mathematik – Arbeit ist nicht das Ende der Welt.

Für mich ist daraus die bis heute andauernde Ambivalenz entstanden. Dieses „eigentlich weiß ich nicht mehr, woher ich die Kraft nehmen soll, aber dann macht man es eben trotzdem…“ Und dabei verliert man sich wahrscheinlich völlig. Weil alles was man fühlen würde, Überforderung wäre. Dann eben lieber nichts fühlen. So wie aktuell. Weil alles was emotional ankommen würde, mich vermutlich völlig umschmeißen würde.
Ich glaube, ich werde hier nicht zur Ruhe kommen. Dass Mondkind sich irgendwann überhaupt nicht mehr aufrafft, wird es nicht geben.
Das Unmögliche möglich zu machen, hat eben auch Schattenseiten. Die Stärke, die mir alle Menschen immer bescheinigen, ist keinesfalls immer vernünftig. Auch, wenn es natürlich oft gut war, dass sie da war. 

Auch die Tour in die Ferne, ist zum jetzigen Zeitpunkt keinesfalls vernünftig.
Zum Einen ist das im Moment eigentlich viel zu anstrengend. Mein Körper pfeift auf dem letzten Loch. Das geht beim Schlafen los und endet damit, dass ich immer noch nicht richtig essen kann, weil mein Magen völlig rebelliert bei allem, was man so versucht. Selbst mein Vater hat angemerkt, dass ich wieder mehr essen soll, weil ich wohl doch etwas schmaler geworden bin.
Zum Anderen wird das eine emotionale Achterbahnfahrt, von der ich einfach nicht weiß, ob ich der gewachsen bin. Ich weiß noch nicht, ob ich die Möglichkeit haben werde „meine“ Leute zu sehen. Sie nicht sehen zu können würde – vermutlich völlig unberechtigt – bei mir sicher ein gewisses Gefühl davon auslösen, über die Monate „vergessen“ worden zu sein. Und wir erinnern uns, dass dieser Ort für mich mehr „zu Hause“ geworden ist, als alle anderen Orte das je waren. Die Erkenntnis „zu Hause“ wieder um einen Platz kämpfen zu müssen, wird bitter. 
Ein Treffen würde aber alle Sehnsüchte wieder aufleben lassen, mit denen ich schon damals schwer zurecht kam.
Was auch dort passiert – es wird eine emotionale Herausforderung für einen psychisch ohnehin im Moment extrem angeschlagenen Menschen.
Ich bin ehrlich gesagt richtig froh, dass ich dann Dienstagmorgen erstmal die Therapeutin sehe und man das vielleicht alles etwas sortieren kann.
Studentenwohnheim von außen. Ruhige Ecke am Rand der Großstadt 🌳🌻

Dieses ganze Verhalten führt auf jeden Fall laufend zu Fehleinschätzungen von Seiten der Ärzte. Ich kann es ihnen ja nicht mal verübeln. Ich mit meinen ganzen Plänen sehe nun mal nicht aus wie jemand, der am Abgrund läuft. Und dennoch wäre ich wirklich nicht böse darüber, wenn diese ganzen Pläne nichts mehr werden würden. Pläne mit Lebensmotivation gleich zu setzen, trifft eben nicht für jeden zu.

Und manchmal frage ich mich, wie das eines Tages alles enden wird. Die nächsten zehn Jahre überlebe ich auf die Art auf jeden Fall nicht. Trotz Plänen. Denn eigentlich ist man permanent gefangen zwischen „ich kann nicht“ und „Du musst…“ Da muss man schon mal irgendwann die Kurve kriegen – auch eine Mondkind.
Denn irgendwann wird man diesen Weg durch die Mitte nicht mehr finden. Irgendwann muss dieses Konstrukt einem um die Ohren fliegen. Denn jegliche Form von Ruhe löst den Gedanken aus: „Joa Mondkind, jetzt hast Du es ohnehin verkackt. Dann können wir uns schließlich auch umbringen, bevor wir mit unserer Decke unter die Brücke ziehen…“
Es ist ja sowieso erstaunlich, wie man das mehr als ein Jahrzehnt gemacht hat. Aber es hat mich ja als „plötzliche Ambivalenz“ nie erschlagen. Ich kenne das im Prinzip nur so, seit ich denken kann. Und man lernt, damit umzugehen, einen Weg zu finden, irgendwie sich selbst und seinen Kopf zu überleben.

Und ja… - mir ist die Absurdität dieses Denkens schon durchaus bewusst. Nur kommt man aus einer solchen existentiellen Angst, die einem da eingeimpft wurde, nicht so einfach raus.

Und manchmal denke ich mir: „Ich bin doch kein Alien… Psychiater müssen so etwas doch öfter erleben. In Kliniken findet man doch wohl mehr Facetten von Menschen, als die des klassischen Depressiven…“

Ich hoffe einfach, dass der Psychiatrie – Oberarzt sich beeilt. Trotz dieses einen Satzes, der wohl wirklich nicht so klug war. Aber lange kann ich es echt nicht mehr. Und in meiner Vorstellung war es ja auch immer ein oder zwei Tage nach dem Examen vorbei. Bald sind wir schon zwei Wochen drüber. Ich meine… - ich habe es fast befürchtet, dass es so kommt. Aber das heißt ja nicht, dass man nicht immer noch hoffte, dass es dieses eine Mal anders wird und die einfach ein Mal kurzen Prozess machen. Und selbst, wenn man mich nach außen hin vermutlich nicht besonders dankbar für solche Aktionen erleben würde – im tiefsten Inneren wäre ich das. Weil dann diese Angst sich ein bisschen stützen könnte auf: „Die Ärzte haben beschlossen, dass Du gerade in der Klinik besser dran bist und die wollen, dass Du wieder gesund wirst – also wirst Du nach der Klinik auf keinen Fall arbeitslos unter der Brücke landen.“ Nicht, dass es einfach wäre, Ärzten zu vertrauen. Auch, wenn ich mittlerweile selbst eine bin. Aber es wäre überhaupt ein Ansatz, auf den ich mich vielleicht mit viel Mut stützen könnte.

Naja… - Wunschdenken. Also aktualisiert man alle paar Minuten das Mailpostfach. Trotz Feiertag. An dem hier ohnehin nichts passieren wird.

Mondkind

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